Schweitzer Fachinformationen
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Die Fünftklässlerin sitzt auf einem grossen Stein vor einem Maiensäss mitten in den Bündner Bergen. Vor ihr steht ein älterer Herr. Schaut auf sie herunter und fragt: «Weisst du schon, was du einmal werden willst?» Die Elfjährige: Das war ich. Der ältere Herr war der Hausarzt meiner Eltern. Lange überlegen musste ich nicht: «Ich will Ärztin werden», sagte ich. «Aha», meinte er daraufhin. «Dann musst du dich beim Lehrer für die Prüfungsvorbereitungen in der Kantonsschule anmelden.» Was ich dann auch tat. Wer mit elf Jahren beschliesst, Ärztin werden zu wollen, hat einen unendlich langen Weg vor sich. Aber dieses Ziel hat mich in den folgenden Jahren immer beflügelt.
Ich war in der Schule keine Überfliegerin. Wenn ich in Chur zu der auf einer Anhöhe gelegenen Kantonsschule hinaufschaute, erfüllte mich das mit Ehrfurcht. Tausend Schülerinnen und Schüler wurden dort unterrichtet. Das ganze Oberland kam, um an dieser Schule die Matur zu machen. Für mich bedeutete es von Beginn an, viel Einsatz zu bringen. Ich kämpfte zunächst ordentlich mit den Tücken der Mathematik und Physik. Im zweiten Jahr empfahl der Lehrer eine Zurückstufung in die Sekundarschule. Was für mich absolut nicht infrage kam. Ich hatte ja ein Ziel: das Medizinstudium. Das geht nicht ohne Matura. Unterstützt von meinen Eltern blieb ich also auf der Kanti und biss mich durch.
Als Voraussetzung für das Medizinstudium braucht es Latein, was mir als einziges Fach neben Biologie wirklich Freude machte. Immer wieder träumte ich mich während den Gymi-Jahren in meinen Traumberuf hinein. Mit 17, zwei Jahre vor meinem Abschluss, war mir klar: Ich wollte nicht nur Ärztin, sondern Chirurgin werden. Und dann, mit 19, hatte ich die Matura in der Tasche.
Ich fieberte der ersten Chance entgegen, endlich in die Welt der Medizin einzutreten. Ich wollte Krankenhausluft schnuppern. Den Ärzten auf die Finger schauen. In Chur bot sich für junge Menschen die Gelegenheit, bei einem «Häfeli-Praktikum» erste Einblicke zu bekommen. Ja wirklich! Es heisst so, weil die Praktikanten die «Hafen», die Bettpfannen der Patienten, leeren müssen. Ich kam auf eine medizinisch-chirurgische Abteilung. Es war einfach grossartig. Ich war so lernbegierig, dass ich bei jedem Verbandswechsel dabeisein wollte. Und ich liess keine Gelegenheit für einen Besuch im Operationssaal aus. Da stand ich dann im Hintergrund und sog alles in mich auf. Ich liebte die Energie im OP. Alles in mir leuchtete. Ich durfte bei einer Operation am Hirn und bei einer Knie-Totalprothese zuschauen. Was mich faszinierte, aber in beiden Fällen damit endete, dass ich umkippte. Ein vom Bein abgetrenntes Wadenbein anzuschauen, ist natürlich schon gewöhnungsbedürftig. Egal, ich war total euphorisiert und so begeistert von der Arbeit, dass ich statt eines Monats deren sechs dort blieb.
Schliesslich machte ich mich nach Zürich auf, um mich für ein Medizinstudium an der Universität einzuschreiben. Rückblickend denke ich, dass wir es zu Beginn der 1990er-Jahre sehr viel besser hatten als spätere Anwärterinnen und Anwärter für diesen Studiengang. Bei uns gab es noch keinen Numerus Clausus. Wer die Energie und das Interesse mitbrachte, konnte mit dem Studium beginnen. Wegen des Numerus Clausus geht es seit einigen Jahren bei der Auswahl der Studierenden nur noch um Noten. Mit dem Studium kann beginnen, wer einen Test besteht, bei dem die erforderlichen Qualitäten eines guten Arztes nicht wirklich geprüft werden. Das hat Folgen: Zum Studium zugelassen werden nicht diejenigen, die sich für diese Arbeit berufen fühlen oder die grösste Empathie mitbringen, sondern diejenigen, die den Eintrittstest bestanden haben.
Wir brauchen aber auch heute dringend junge, innovative Ärztinnen und Ärzte, die nicht nur medizinisches Wissen mitbringen, sondern die auch die jeweilige Landessprache und die Kultur der ansässigen Menschen verstehen. Es braucht Menschen, die motiviert sind, die lernen wollen und bereit sind, regelmässig einen überdurchschnittlichen Einsatz zu leisten.
Insofern finde ich die Entscheidung richtig, dass das Parlament 2024 beschlossen hat, den Numerus Clausus für Medizin zukünftig abzuschaffen. Empathie und Leidenschaft sowie Sozialkompetenzen sind mindestens so wichtige Voraussetzungen für das erfolgreiche Ausüben dieses Berufes wie die nackten Ziffern einer Note.
Als ich mich in Zürich immatrikulieren wollte, hiess es, der Kanton Graubünden zahle für seine Studenten zu wenig Subventionen, daher müsse ich für das Medizinstudium nach Bern gehen. Nach Bern! Was sollte ich dort? Für mich kam nichts anderes infrage als die Universität Zürich. Mein Sozialleben fand hier statt. Erneut stieg ich in den Ring, um für einen Ausbildungsplatz in Zürich zu kämpfen. Und es gelang! Schliesslich konnte ich in Zürich studieren.
Dann kamen die ersten Vorlesungen. Da sassen 685 Studentinnen und Studenten im grossen Hörsaal der Universität Irchel. Wie provinziell kam ich mir vor, wenn ich in der ersten Reihe diese blonden, grossen, schlanken Zürcherinnen sah. Allesamt ausgestattet mit schicken Handtaschen und den edlen Seidenfoulards von Fabric Frontline, die in Zürich gerade «en vogue» waren. Wir aus Graubünden sahen deutlich anders aus, was mich etwas frustrierte. Mein Bündner Kollege, typisch Mann, sah das gelassen. Er tröstete mich, indem er mir eine Tüte M&M-Schokoladekugeln hinhielt. «Daraufhin gönnen wir uns etwas Zucker», sagte er lapidar. Die Frustration hat sich relativ schnell gelegt. Geblieben ist aber eine schlechte Ernährungsgewohnheit: Gefühlt habe ich mich mein ganzes Vorklinikum hindurch von M&Ms und Eistee ernährt.
Als didaktisches «Genie» entpuppte sich der Professor, der vorne am Rednerpult stand. «Schauen Sie sich Ihren Nachbarn gut an», sagte er ins Mikrofon, «in einem Jahr wird er nicht mehr hier sein.» «Okay, super», dachte ich, «das ist eine echt aufmunternde Ansage.» Das Studium war wirklich etwas für Hartgesottene. Für alle Studierenden stand beispielsweise nur ein einziger Drucker zur Verfügung. Das hiess: Entweder im Morgengrauen aufstehen, um sich genügend Zeit fürs Ausdrucken zu sichern, oder einen anderen Studenten bestechen, der bereits am Drucken war. Ich tat beides. Ich lernte, was es bedeutet, die Ellenbogen auszufahren.
Ganz ehrlich: Die ersten vier Semester, die vorklinische Phase des Studiums, waren für mich eine Plackerei. In diesem Ausbildungsabschnitt werden die grundlegenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer vermittelt. Blanke Theorie! Vorklinische Phase: Das bedeutet neben Physik und Chemie pauken auch Anatomie, Biologie und Histologie sowie Embryologie in den Kopf bekommen. Alles Fächer, die nicht wirklich auf meiner Wunschliste standen. Dennoch schaffte ich die ersten zwei Semester erfolgreich.
Im zweiten vorklinischen Jahr stellte sich heraus, dass mein Talent für Biochemie an einem kleinen Ort war. Hin und wieder explodierte es bei meinen chemischen Experimenten. Als Pharmazeutin hätte ich definitiv nicht getaugt. Ich habe mich im Fach Chemie gerade so durchgeschlängelt. Einer scheint mich durchschaut zu haben: Mein Professor für Biochemie sagte mir ganz uncharmant ins Gesicht, dass ich für ein Chemiestudium definitiv nicht tauge. Nach den ersten vier Semestern kam die zweite vorklinische Prüfung, im Fachjargon zweites Propädeutikum. Hier fiel ich insbesondere wegen der Biochemie durch. Ich hatte völlig falsch gelernt. Ich dachte, meine Welt stürze ein. Und machte erst mal ein Jahr Zwangspause. Es gab ja die Möglichkeit, ein zweites Mal anzutreten. Ich lüftete meinen Kopf und arbeitete als Hufschmied-Assistentin in der Region Zürich. Mein Leben lang war ich geritten, war mit Pferden grossgeworden. Die Arbeit mit den Händen und den Tieren tat mir gut. Nebenbei lernte ich erneut für die Prüfung. Und beim zweiten Anlauf klappte es dann auch. Ich bestand. Endlich konnte die Ausbildung in den klinischen Fächern beginnen.
In der klinischen Phase, die acht Semester dauert, lernen die Studierenden alles über die einzelnen medizinischen Bereiche, unter anderem Allgemeine Medizin, Augenheilkunde, Gynäkologie, Psychiatrie, Radiologie, Pathologie und zum Glück auch Chirurgie. Durch Praktika erhalten sie zusätzliche Einblicke in den medizinischen Alltag, etwa bei niedergelassenen Ärzten oder Fachkursen in verschiedenen Kliniken der Ostschweiz.
Nun begannen meine tollsten Studentinnenjahre. Eine grossartige Zeit. Tagsüber besuchten wir spannende klinische Vorlesungen, am Abend studierten wir dann intensiv das Zürcher Nachtleben. Trafen uns etwa im Zürcher Kaufleuten. Natürlich hatten wir kein Geld für den Ausgang, aber wir konnten uns reinschmuggeln, einer unserer Studienkollegen war Türsteher. Und unseren Campari-Orange hatten wir zu Hause in kleine Fläschchen abgefüllt und trugen sie in den Handtaschen mit uns. An diese Zeit denke ich mit einem Schmunzeln zurück. Ich hatte wirklich ein sehr intensives Sozialleben.
Es gehört zur medizinischen Ausbildung, einzelne praktische Kurse am Universitätsspital zu durchlaufen. Für Studierende ist das oft auch der Moment, in dem sie schwer kranke Menschen zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Ich war auch auf der Intensivstation. Damals lagen dort die ersten Ecstasy-Fälle. Mir wurde bewusst, was Drogen anrichten können. Fasziniert war ich von der Notfallstation. Ich liebte von Anfang an die Atmosphäre dort, habe diese richtig aufgesogen. Mein Wunsch, Chirurgin zu werden, verstärkte sich noch mehr durch all diese Einblicke.
Während der sieben Jahre an der Uni hatte ich extrem wenig Geld. Als mein Grossvater starb, erbte ich aber einen Batzen und konnte auf bescheidenem Niveau mein Studium fünf Jahre finanzieren. In den letzten beiden...
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