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Kapitel 1
November 1897
Manchmal reichen zehn Sekunden, um den Lauf eines Lebens zu verändern.
Diese Lektion hatte Julia Broeder letzte Woche auf schmerzhafte Art lernen müssen, als eine impulsive Entscheidung eine Kette von Ereignissen losgetreten hatte. Dass sie jetzt auf dieser harten Bank vor dem Konferenzraum der medizinischen Fakultät für Frauen am College von Pennsylvania wartete, war das Resultat davon. Hinter der geschlossenen Tür des Konferenzzimmers saßen zwölf Personen, die in diesem Moment über Julias Schicksal entschieden. Entweder bekäme sie die Erlaubnis, ihr Studium fortzusetzen und es im Frühling als Ärztin abzuschließen, oder sie würde von der Fakultät verwiesen und in Schande nach Hause geschickt werden.
Dekanin Edith Kreutzer war eine bekannte Wegbereiterin in dem Kampf, dass Frauen für den Arztberuf zugelassen wurden. Heute Morgen hatte sie allerdings so kalt wie eine Eiskönigin ausgesehen, als sie das Kuratorium des Colleges einberief, um über Julias Zukunft zu entscheiden.
Julia verkrampfte die Finger um die Kante der harten Bank, dem einzigen Möbelstück in dem kleinen Vorraum vor dem Konferenzzimmer. Alles in ihr drängte danach, aufzustehen und ihr Ohr an die vertäfelte Tür zu drücken, um die Diskussion des Kuratoriums zu belauschen. Doch sie zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben. Sie konnte nichts tun, um die Entscheidung zu beeinflussen.
Es spielte keine Rolle, dass sie unbedingt Ärztin werden wollte. Oder dass sie zu den Besten ihres Jahrgangs gehörte und dass ihr Herz dafür schlug, in die weite Welt hinauszuziehen und in armen Gegenden als Ärztin zu arbeiten. Das Einzige, was zählte, war das, was sie letztes Wochenende getan hatte.
Am Samstagmorgen hatten die ganzen Schwierigkeiten begonnen: Wie an jedem Samstag arbeitete sie zusammen mit sechs anderen Medizinstudentinnen im Pharmazielabor der Fakultät. Als Teil ihrer Seminararbeit in Pharmakologie stellte sie Cinchonintabletten gegen Malaria her. Sie mahlte das Pulver, bis es die richtige Konsistenz besaß, und füllte das Medikament in winzige Aluminiumförmchen. Vor dem Fenster ertönten dumpfe Geräusche, denen sie zunächst keine Beachtung schenkte. Dann jedoch trafen mehrere Kieselsteine die Glasscheibe und erregten ihre Aufmerksamkeit.
Als sie hinausblickte, entdeckte sie zwei junge Männer, die unter ihr in dem matschigen Hof standen. Julia kannte sie aus dem Fairmount Park, wo sie und einige andere Studentinnen bei gutem Wetter manchmal Tennis spielten und im Winter eisliefen. Die beiden arbeiteten bei der Feuerwehr von Philadelphia und schienen anständige junge Männer zu sein. Ross McKinney hatte einen schönen Schlitten, den er ihr oft auslieh, damit sie damit den Hang hinabsausen konnte, wenn genug Schnee lag.
Sie schob das Fenster hoch. Eiskalte Luft strömte ins Zimmer, als sie sich hinausbeugte. »Wenn ihr noch mehr Steine an diese Fensterscheibe werft, entwickle ich den Verdacht, dass ihr zu diesen ermüdenden Revolutionären gehört, die mit dem Säbel rasseln und drohen, die Mauern zu stürmen.«
Keiner der Männer lachte. Einer von ihnen hielt einen Hund auf den Armen. Selbst von ihrem Platz im ersten Stockwerk aus konnte sie sehen, dass das Tier übel zugerichtet war.
»Ich bin gleich unten«, sagte sie und knallte das Fenster so schwungvoll zu, dass das Glas klirrte.
Die Hündin, die die jungen Männer bei sich hatten, war ein Boston-Terrier. Eines ihrer Ohren war teilweise abgerissen und ihr ganzer Kopf war voller Bisswunden. Julia hätte am liebsten das Gesicht verzogen und weggeblickt, aber diesen Luxus konnte sie sich als angehende Ärztin nicht erlauben.
»Haben Sie irgendwelche Tabletten, die das wieder in Ordnung bringen, Miss Broeder?«, fragte Ross.
Um dieser Hündin zu helfen, würde mehr nötig sein als ein paar Tabletten. Das Ohr musste mit mehreren Stichen wieder angenäht werden und selbst dann war Julia sich nicht sicher, ob sie es retten konnte. Es war Samstag, der Operationssaal in der Olsen Hall müsste also frei sein. Der Raum war abgesperrt, aber verschlossene Türen hatten Julia noch nie von etwas abhalten können. Wenn ihr ein Weg versperrt war, suchte sie sich einfach einen anderen über das Hindernis hinweg, darunter hindurch oder darum herum. In diesem Fall stellte sie sich auf die Schultern von einem der Feuerwehrmänner, um durch das nicht verriegelte Fenster in den Operationssaal zu gelangen. Dann eilte sie durch die dunklen Flure, um kurze Zeit später die Männer mit der Hündin und zwei ihrer Kommilitoninnen durch die Eingangstür ins Gebäude zu lassen.
Keine der Studentinnen hatte je zuvor einen Hund behandelt, aber die Prinzipien, wie man eine Wunde reinigt, um eine Infektion zu verhindern, und verletztes Fleisch wieder zusammennäht, waren schließlich die gleichen wie bei einem Menschen. Ross' Freund musste gehen, um pünktlich seine Schicht auf der Feuerwache antreten zu können, aber Ross blieb im Operationssaal. Er streichelte der Hündin die Seite und murmelte ihr beruhigende Worte zu, während Julia eine Maske über ihre Schnauze hielt und vorsichtig den Ballon drückte, der die anästhetischen Gase in die Maske leitete.
Nach fast einer Stunde hatte Julia die Wunden schließlich versorgt und war mit ihrer Arbeit zufrieden. Die Hündin würde wieder ganz gesund werden.
Nachdem sie die Flaschen mit den Anästhetika, Antiseptika und das Material, das sie zum Nähen verwendet hatte, wieder ordentlich aufgeräumt hatte, bat sie ihre Kommilitoninnen, sie für diesen Tag im Pharmazielabor abzumelden, und begleitete Ross zur Straßenbahnhaltestelle. Die in ihren Armen schlummernde Hündin wurde immer schwerer. Sie wog mindestens zwanzig Pfund, das meiste davon reine Muskelmasse, aber Julia weigerte sich, Ross das Tier zu übergeben.
Bei der Straßenbahnhaltestelle stand eine Bank, doch sie war zu nervös, um sich zu setzen. Die Uhr an dem hohen Bankgebäude auf der anderen Straßenseite verriet, dass sie neun Minuten Zeit hatte, bis die nächste Bahn in Richtung Feuerwache einlief. Sie war froh, dass ihre Kommilitoninnen sie nicht zur Haltestelle begleitet hatten. Ross würde wahrscheinlich eher mit der Wahrheit herausrücken, wenn er sie nicht vor einem größeren Publikum gestehen musste.
»Woher haben Sie diese Hündin?«, fragte sie. Ihrer Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass - abgesehen von den Wunden, die sie heute behandelt hatte - der Brustkorb, die Beine und die Schnauze des Tieres von vielen älteren, verheilten Narben übersät waren.
»Sie gehört meinem Mitbewohner«, antwortete Ross. »Sie kennen Derrick nicht. Er arbeitet auch bei der Feuerwehr.«
»Schickt er diese Hündin regelmäßig zu Hundekämpfen?«
Ross' Gesichtszüge verhärteten sich. »Sie ist eine gute Hündin. Das Kämpfen liegt ihr im Blut. Normalerweise wird sie nicht so übel zugerichtet.«
Julia wiegte die schlafende Hündin in ihren Armen und drückte sie fast wie ein Baby an sich. Was wusste sie schon über Ross McKinney, außer dass man im Park mit ihm lachen konnte und er seinen Schlitten großzügig verlieh? Im Grunde kannte sie diesen Mann nicht.
Die Wahrscheinlichkeit war sehr groß, dass diese gequälte, geschundene Hündin wieder zum Hundekampf gezwungen werden würde. Ross' Straßenbahn würde erst in acht Minuten kommen, aber die der roten Linie war gerade auf den Schienen um die Ecke gebogen.
Wenn sie schnell dort einstieg, könnte sie die Hündin in Sicherheit bringen. Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie in den Operationssaal eingebrochen war, aber das konnte sie jetzt nicht mehr ungeschehen machen. Es erschien ihr grausam, ihren Schützling wieder diesen brutalen Männern auszuliefern, die ihr das angetan hatten. Julia biss sich auf die Lippe. Die Unentschlossenheit löste hämmernde Schmerzen in ihrem Kopf aus.
Zehn Sekunden. Mehr Zeit hatte sie nicht mehr für ihre Entscheidung.
Sie hatte ihre Pflicht erfüllt und ein verletztes Tier behandelt. Ross war kein schlechter Mensch. Ihm lag diese Hündin sichtlich am Herzen. Sonst hätte er vorhin im Hof nicht so gequält ausgesehen.
Noch sechs Sekunden.
Ross war offenbar aufgefallen, dass sie die einfahrende Straßenbahn beobachtete. »Ich kann sie jetzt nehmen, wenn Sie zum College zurückmüssen.«
Drei Sekunden, zwei Sekunden .
Die Straßenbahn wurde langsamer und der Fahrer betätigte einen Hebel, um die Türen zu öffnen. Jetzt oder nie!
Ohne den Fahrer aus den Augen zu lassen, stieg sie hastig ein.
»Hey!«, rief Ross. »Das ist meine Hündin!«
Mit dem schlafenden Tier auf den Armen war es schwer, den Hebel für die Tür zu betätigen. Doch es gelang Julia sie zu schließen, bevor Ross einsteigen konnte.
»Diese Hündin wurde schwer misshandelt«, erklärte sie dem Fahrer. »Bitte fahren Sie schnell weiter. Dieser Mann hat kein Recht, einen Hund zu besitzen.«
Der Fahrer zögerte nur einen kurzen Moment, dann nickte er und fuhr los.
Am nächsten Tag erfuhr Dekanin Kreutzer, was Julia getan hatte. Ross und drei seiner Freunde von der Feuerwache tauchten im College auf und verlangten ihre Hündin zurück. Sie stritten ab, dass sie bei Hundekämpfen eingesetzt wurde. Als Julia sich weigerte, das verwundete Tier herauszurücken, drohte Ross, seine Freunde von der Polizei einzuschalten.
Dekanin Kreutzer bestand darauf, dass Julia die Hündin ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgab. »Sie haben bereits gegen die Regeln verstoßen und ohne Aufsicht eine Operation durchgeführt«, erklärte die Dekanin streng und wurde um die Lippen herum ganz weiß. Sie...
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