Schweitzer Fachinformationen
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Heimat also. Ich sitze auf einem Felsvorsprung. 3 500 Meter über dem Meeresspiegel. Der Wind weht. Die Sonne senkt sich langsam. Der Himmel färbt sich blau, violett, gelb, orange. »Siehst du es, das sind die Farben unserer Flagge«, sagt mein Onkel. Vor mir erhebt sich ein Berg. Neben ihm ein zweiter, kleiner. Der große Gipfel ist von Schnee bedeckt, der kleine nicht. »Der Große, der Weiße, das ist der Ararat. Das ist der Berg unseres Volkes. Hier ist die Arche Noah nach der großen Flut gestrandet. Auf den Gipfeln des Araratgebirges. Aber heute liegen diese Berge nicht mehr in unserem Land.«
Berge gehören niemandem, egal welche Grenze man um sie zieht, denke ich.
»Schau, ganz langsam erhebt sich der Berg aus der flachen Ebene. Mit welcher Ruhe, mit welcher Kraft er in die Höhe steigt. Der Berg hat sich in den Kopf gesetzt, den Himmel zu berühren.«
Ich schaue in die Ferne und sehe diesen Berg. Mein Onkel hat mir davon erzählt. Und von unserem Volk. Von unserer Heimat. Unserer Familie. Seit Tagen sind wir unterwegs, und jetzt sitzen wir hier. Knapp 5 000 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem ich geboren wurde.
Den Himmel berühren, denke ich, will das nicht jeder, egal, wer man ist, woher man kommt?
Und nun bin ich hier, in den Halbhöhen des südlichen Kaukasus. Wenn ich meinen Kopf nach rechts drehe, kann ich von hier aus die Grenzsoldaten des Iran sehen, und wenn ich nach links rüberschaue, sehe ich die Grenze von Aserbaidschan. Mit »Welcome home, Sir« begrüßte man mich am Flughafen von Eriwan auf Englisch, nicht auf Armenisch, und mit einem Lächeln. Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte, vor allem nicht, in welcher Sprache. Ich schaute höflich und nickte. Das Flughafengebäude ist ein achteckiger Betonklotz. Als ich in der Mitte der Halle stand, konnte ich den gesamten Innenraum überblicken. Fenster habe ich keine gesehen. Es gab nur eine Handvoll Läden um mich herum. Nur ein kleiner Laden hatte geöffnet. »24 H OPEN« stand auf einem Schild vor diesem Laden. Handgeschrieben. Auch auf Englisch. Es war ein Sandwich-Laden. In dem Sandwich-Laden gab es Kaffee und ein paar internationale Süßigkeiten. Eine junge, dunkelhaarige Frau arbeitete dort, sie schien müde und verlagerte ihr Gewicht mal auf das eine Bein und mal auf das andere. Das kannte ich von mir, auch ich tat das oft, wenn ich nachts an der Tür im »Glashaus« schläfrig wurde. Sie streifte sich mit der Hand über den Nacken. Wach wollte sie bleiben, um jeden Preis. Sie hatte nichts zu tun, niemand kaufte bei ihr ein. Das hätte sie wenigstens wach gehalten, dachte ich. Aber so wird jede Sekunde zur Stunde. Die Theke quoll über, Fliegen umkreisten die frischen Waren. Sie gab sich keine Mühe, sie zu verscheuchen. Das hätte sie auch wach gehalten, dachte ich. Ich begann immer, den Eingangsbereich zu säubern. Zigarettenstummel, gebrauchte Taschentücher landeten im Müll. Rechts von ihrer Theke standen drei Männer, die ihre belegten Brote auspackten. Die Kaffeemaschine blinkte. Ich wäre gerne rübergegangen und hätte mir einen Kaffee geholt, das hätte sie und mich wach gehalten, dachte ich und musste schmunzeln. Fast musste ich lachen. Wie lange war das her, dass ich plötzlich lachen musste, dachte ich in diesem Moment. Es fiel mir nicht ein. Aber ich tat es nicht. Ich ging nicht rüber zu ihr. In welcher Sprache hätte ich mich mit ihr unterhalten sollen? Armenisch konnte ich nicht, nur Deutsch, etwas Englisch und Türkisch. Türkisch mit ihr zu sprechen, erschien mir unpassend, und ich wusste nicht, ob sie Englisch sprach. Um dies rauszubekommen, hätte ich einen klareren Kopf gebraucht, aber den hatte ich nicht nach dem langen Flug. Also blickte ich mich weiter um und sah einen Duty-free-Shop, den ich zunächst nicht bemerkt hatte, weil er so klein war. So ein Laden würde bei uns noch nicht mal als kleiner Kiosk durchgehen, so klein war er. Der Eingang war fast versperrt durch ein Gestell mit Ray-Ban-Brillen, Hunderte von Ray-Ban-Brillen. Ob sie echt waren oder gefälscht, konnte ich nicht erkennen. Über den Brillen war ein großes Preisschild angebracht, sie kosteten ein Drittel weniger als bei uns. Bestimmt Fälschungen, dachte ich. Aber auch in dem Shop waren keine Kunden. Ich dachte daran, einige Sonnenbrillen mitzunehmen für meine Freunde, die hätten Original und Fälschung nicht auseinanderhalten können. Ich würde ihr Held sein. Aber mein Onkel gab mir einen kleinen Stoß, ich solle weitergehen, wir seien nicht hier um einzukaufen. Der Flughafen wirkte wie die Sporthalle einer ganz kleinen Kreisstadt. Die Grenzpolizisten hatten viel zu große Uniformmützen auf. Erschöpft sahen sie aus. Es war vier Uhr morgens, als wir landeten. Überall dieses grelle, bläuliche Neonlicht, wie in einem Hallenbad. Kacheln und PVC. Das ganze Ambiente glich mehr einer Leichenhalle als einem Flughafen. Als wir rauskamen, haute mich die Hitze um. Wie ein Faustschlag. Um vier Uhr morgens betrug die Außentemperatur immer noch über dreißig Grad. Am liebsten wäre ich in die nächste Maschine eingestiegen und zurückgeflogen. Aber das ging nicht.
Und jetzt sitze ich hier und schaue mir den Sonnenuntergang an, den ich nicht sehen will. In der Färbung des Himmels will ich die Farben der Flagge nicht erkennen. Ich spüre nichts. Keine Heimatgefühle. Keine Wärme. Kein Kribbeln im Bauch.
Wenn ich auf dem Johannisberg in Bielefeld sitze und hinunterschaue, färbt sich der Himmel auch blau, violett, orange, gelb. Hier wie da, es ist überall dasselbe, nichts ist anders. Seit Tagen bekomme ich das Essen nicht mehr runter. Ich will nichts trinken. Ich will nichts mehr essen. Erst sind wir Taxi gefahren, dann haben wir den Bus genommen, dann sind wir zu Fuß weiter und per Anhalter. Die letzte Stadt ist Kilometer weit entfernt. Seit die Hauptstadt hinter uns liegt, habe ich Durchfall. Mein Onkel ignoriert das. Er sagt, das sei ein Prozess der Selbstreinigung, den ich durchmachen müsse. Es sei so eine Art psychische und physische Katharsis. Es gehe kein Weg daran vorbei. Dann erst würde mein Körper diese Umgebung annehmen und ich könnte ein Teil dieses Landes werden. Alles, was ich in diesem Moment will, ist ein Hamburger. Aber das sage ich meinem Onkel nicht. Ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen mit meinen Bedürfnissen. Es gibt einen Grund dafür, warum ich hier bin, mit ihm. Ich wollte es so. Ich habe ihn angerufen.
Hier am Länderdreieck bin ich jetzt. Ich stehe auf und nehme den Deckel der Urne ab. Ich schütte die Asche meines Vaters den Abhang hinunter. Der Wind verstreut die Rußteilchen auf die Sträucher und Büsche. Als die Asche auf die Erde fällt, unterscheidet sie sich nicht mehr von dem Gestein, das mich umgibt.
Mein Vater ist zu Hause angekommen. Aber ich gehöre nicht hierher. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Ich stehe ja hier. Zusammen mit meinem Onkel habe ich mich auf den Weg gemacht. Jetzt bin ich in der »Heimat«, doch ich denke die ganze Zeit zurück. An einen Ort, der 5 000 Kilometer entfernt ist. In westlicher Richtung. Der Ort, an dem für mich alles anfing. Für mich, nicht für meine Familie. Aber wie erzähle ich das jetzt meinem Onkel? Meinem Onkel, dem ich gefolgt bin. In jener Nacht noch, bei Sonnenaufgang, habe ich ihn angerufen. Er war sofort am Telefon. Als hätte er nicht geschlafen, sondern auf meinen Anruf gewartet. Er klang hellwach. Ich nicht. Er wusste, dass ich anrufen würde. Ich wusste es bis zu dem Zeitpunkt nicht, bis zu dem Moment, als ich nach dem Handy griff und seine Nummer tippte. Ich kann mich kaum an das Gespräch erinnern. Ich habe nicht einmal das Licht eingeschaltet. Es dämmerte schon. Das weiß ich noch. Es war Sommer. Ich schnappte mir ein paar Klamotten, stopfte sie in eine Sporttasche und ging.
In jener Nacht meiner Abfahrt konnte ich mich von meiner Mutter nicht verabschieden. Sie wusste von gar nichts. Sie wusste nicht, dass ich meinen Onkel, ihren jüngeren Bruder, traf. Niemand in der Familie wusste es. In dieser Nacht schlief sie tief und fest. Ich ließ sie schlafen, sie hätte mich nicht verstanden. Sie hätte sich Sorgen gemacht, wie immer, nur Sorgen. Keine Fragen, nur Sorgen, wie immer, wenn sie nicht verstand, warum ich dieses oder jenes tat.
Und jetzt bin ich hier am Fuße des Kaukasus. Um die Urne meines Vater auszuschütten. Das Grab meines Vaters habe ich geplündert, während mein Onkel Schmiere stand. Wir sind niemandem aufgefallen, und niemand ist uns aufgefallen. Der Friedhof in Senne ist groß und weitläufig. Viele Tannen, Pinien, und der Boden besteht aus Sand. Man kann sich dort sehr leise bewegen. Mein Vater wollte immer verbrannt werden. Obwohl er orthodoxer Christ war. Er wollte nur vorübergehend dort in der Erde liegen, sein eigentlicher Wunsch war, dass man ihn im Kaukasus verstreut. Keinem auf dem Friedhof wird auffallen, dass er weg ist. Das Grab wurde kaum gepflegt, weil wir kein Geld hatten, um es richtig pflegen zu lassen. Das Grab lag in einem sehr verwinkelten Eck, irgendwo am Rand des Friedhofs. Ein schwer zugänglicher Bereich. Ich hatte mir eine Karte gezeichnet, um sein Grab wiederzufinden. Zum Haupteingang rein, 400 Meter geradeaus, dann am Rosenstrauch rechts rein, 200 Meter geradeaus, vorbei am Wasserhahn. Dann scharf links, das achte Grab, Nummer 1138. Ein Stück Holz, darauf diese Nummer mit wasserfestem Edding geschrieben. Das war sein Grab. Noch nicht mal einen Grabstein hatte er, zunächst hatten wir auch dafür kein Geld. Als ich nach einiger Zeit Geld zusammengespart hatte, durch meine Arbeit in den Nächten, hatte ich keine Lust mehr,...
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