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Eigentlich hatte er nur nach einer Zerstreuung gesucht, weil ihn in seiner alexandrinischen Gefängniszelle schreckliche Langeweile überkam.
Beim Erwachen war Jess Brightwell aufgefallen, dass er nicht mehr wusste, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war. Hier glich ein Tag so sehr dem anderen, dass sie miteinander zu verschwimmen schienen. Doch er musste unbedingt wissen, wie lange er schon hier festsaß und auf seine Hinrichtung wartete, die vielleicht stattfinden würde - oder auch nicht. Und so rief er sich jeden bereits vergangenen Tag in Erinnerung und markierte ihn mithilfe eines Hemdknopfs sorgsam an der Zellenwand.
Fünf Tage. So lange war es mittlerweile her, dass er zusammen mit dem Gelehrten Wolfe und Morgan Hault als seine Gefangenen nach Alexandria zurückgekehrt war. Die beiden waren an verschiedene Orte gebracht worden, er dagegen musste hier darauf warten, dass der Archivar Zeit und Muße für ihn fand, wie man es formuliert hatte.
Allerdings war der Archivar anscheinend äußerst beschäftigt.
Nachdem Jess die Anzahl der Tage notiert hatte, rechnete er aus purer Langeweile auch noch das aktuelle Datum aus. Der heutige Tag schien für ihn irgendwie von Bedeutung - allerdings hatte er ein ungutes Vorgefühl, bis er endlich darauf kam, warum.
Als es ihm schließlich einfiel, schämte er sich, nicht früher daran gedacht zu haben.
Heute jährte sich der Todestag seines älteren Bruders Liam.
Das bedeutete, dass Jess mittlerweile älter war, als sein Bruder je geworden war.
Jess konnte sich nicht genau erinnern, wie sein Bruder gestorben war. Es fiel ihm auch immer schwerer, sich ihn überhaupt ins Gedächtnis zu rufen - geblieben war ein vages Bild eines Jungen mit scharf geschnittener Nase und struppigem blondem Haar. Dabei musste er doch zugesehen haben, wie Liam auf das Podest gestiegen war und man ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatte.
Aber er wusste es nicht mehr. Ebenso fehlte Jess die Erinnerung an die eigentliche Hinrichtung. Stattdessen erschien sein bereits gehängter Bruder vor seinem geistigen Auge, doch das wirkte wie ein aus einiger Entfernung betrachtetes Gemälde und weniger wie eine Erinnerung.
Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, dachte Jess. Wenn Liam dem Tod ohne Angst, mit hocherhobenem Haupt und festem Schritt begegnet war, dann wäre er vielleicht in der Lage, es ihm gleichzutun, sollte es so weit kommen - denn danach sah es aus.
Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sich die Zellentür öffnete und Soldaten in der Uniform der Hohen Garda - der Armee der Großen Bibliothek - mit versteinertem Gesichtsausdruck im Gang auf ihn warteten. Wie ein Gelehrter ihm auf dem Weg in den Tod noch einen Text vorlas, den er sich ausgesucht hatte. Wie vielleicht ein Priester kam, wenn er darum bat.
Doch dann versagte seine Vorstellungskraft. Er wusste nicht, wie der Archivar ihn hinrichten lassen würde. Würde es vielleicht in aller Stille passieren? Im Geheimen? Ein Schuss in den Rücken und ein unmarkiertes Grab? Vielleicht würde nie jemand erfahren, was aus ihm geworden war.
Oder wartete doch der Strick auf ihn? Wenn er es in Gedanken schaffte, ungerührt zu seiner Hinrichtung zu gehen, dann konnte er das vielleicht auch in der Realität.
Eigentlich sollte er sich eher Gedanken darüber machen, was er dem Archivar sagen würde, falls er die Chance bekam, mit ihm zu sprechen. Aber in diesem Moment fühlte er sich dem Tod wesentlich näher, und es war einfacher, sich mit seinem Versagen abzufinden, als auf irgendeinen Erfolg zu hoffen. Er war nie besonders abergläubisch gewesen, hatte jedoch trotzdem das Gefühl, sich mit nur einem siegessicheren Gedanken alles verderben zu können. Er wollte sich nicht jetzt schon bei den ägyptischen Göttern unbeliebt machen.
Er stand auf und ging in seiner kahlen, kalten Zelle mit den Gitterstäben und dem schmalen steinernen Bett an der Wand auf und ab. Der bestialische Gestank der einfachen Toilette, die dringend einmal gereinigt werden musste, verursachte ihm geradezu körperliche Qualen.
Wenn ich nur etwas zu lesen hätte . Der Gedanke kam ihm ohne Vorwarnung. Er vermisste seine Bücher ebenso sehr, wie er die Menschen um sich herum vermisste, man hätte ihn kaum schlimmer bestrafen können. Er bemühte sich, nicht über den Tod oder das Schicksal von Morgan oder Wolfe oder überhaupt über irgendetwas nachzudenken . Dabei konnte er Wolfes nüchterne, strenge Stimme beinahe hören: Wenn du nur ein brauchbares Gehirn hättest, Brightwell, dann könnte es dir egal sein, ob du etwas zu lesen bei dir hast.
Jess setzte sich auf das steinerne Bett, schloss die Augen und bemühte sich, die erste Seite seines Lieblingsbuchs im Geiste erscheinen zu lassen. Doch er sah nur wild durcheinandergewürfelte Wörter, die sich nicht ordnen ließen. Vielleicht war es besser, sich vorzustellen, wie er einen Brief schrieb.
Liebe Morgan, dachte er. Man hat mich in eine Zelle im Innern des Serapeums eingesperrt, und ich kann an nichts anderes denken, als dass ich dich im Stich gelassen habe. Uns alle. Ich fürchte, dass alles umsonst war. Es tut mir so leid. Es tut mir auch leid, dass ich so dumm war zu glauben, ich könnte den Archivar hinters Licht führen. Ich liebe dich. Bitte hass mich nicht.
Das war egoistisch. Sie hatte alles Recht der Welt, ihn zu hassen. Schließlich hatte er sie zurück in die Sklaverei im Eisenturm geschickt, wo sie nun für den Rest ihres Lebens das Halsband der Obskuristen tragen musste. Wolfe hatte er ebenfalls hintergangen. Dank ihm wartete der Gelehrte nun in einem Gefängnis, das wesentlich schlimmer war als dieses hier, auf den sicheren Tod. Damit hatte Jess jeden verraten, der ihm jemals vertraut hatte - und wofür?
Weil er dummdreist geglaubt hatte, irgendwie ein Wunder bewirken zu können. Aber was hatte ihm das Recht gegeben, so etwas überhaupt nur zu denken?
Mit schepperndem Geräusch drehte sich ein Schlüssel in einem schweren Schloss.
Als sich die Tür am Ende des Gangs zwischen den Zellen öffnete, stand Jess auf und ging zu den Gitterstäben, wobei die Kälte des Steins, auf dem er gesessen hatte, nur langsam verflog. Die Tür schwang auf und wurde dann nicht wieder richtig geschlossen. Wie unvorsichtig.
Er hörte lauter werdende Schritte, dann erschienen drei Soldaten der Hohen Garda in schwarzer Uniform mit goldenen Abzeichen vor seiner Zelle und sahen ihn an. Der älteste - sein kurzes silbergraues Haar stand ihm buschig vom Kopf ab - bellte einen Befehl auf Griechisch: »Weg von den Gitterstäben und umdrehen.«
Jess wurde heiß und kalt. Er schluckte seine Angst hinunter, aber sein Puls raste, als könnte er so dem Unvermeidlichen entkommen. Sie haben die Tür nicht richtig geschlossen. Wenn ich es an ihnen vorbeischaffe, habe ich eine Chance. Es war nicht völlig unmöglich. Er konnte dem ersten Soldaten die Beine wegtreten und ihn gegen die anderen beiden stoßen, damit sie ebenfalls zu Boden gingen. Dann würde er einem Soldaten die Feuerwaffe entreißen und mindestens einen von ihnen damit erschießen, eventuell zwei. Vielleicht hatte er Glück und entkam, vielleicht auch nicht, doch zumindest würde er dann im Kampf sterben.
Ich will nicht sterben, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die wie die eines Kindes klang. Nicht wie Liam und nicht am selben Tag wie er.
Und dann war die Erinnerung plötzlich wieder da.
Der Londoner Himmel hatte schwer und grau über ihnen gehangen, und er hatte den Nieselregen im Gesicht gespürt. Er war zu klein gewesen, um seinen Bruder sehen zu können, als dieser die Stufen des Podests hinaufstieg. Deswegen entdeckte er ihn erst, als er schon fast oben war. Liam stolperte auf der letzten Stufe und musste von einer Wache festgehalten werden. Sein Bruder zitterte und bewegte sich langsam, keine Spur von Heldenmut. Er sah sich in der Menge um, und sein Blick ruhte eine Sekunde lang auf Jess, bevor er dann zu ihrem Vater weiterwanderte.
Jess spähte ebenfalls zu ihrem Vater. Callum Brightwell starrte seinen ältesten Sohn so ausdruckslos an, als wäre er ein Fremder.
Dann hatten sie Liam die Hände gefesselt und ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen.
»An die Wand, Hände hinter den Rücken.« Die Stimme des Soldaten holte Jess in die Gegenwart zurück.
Jess kam dem Befehl nur zögerlich nach und versuchte gleichzeitig abzuschätzen, wo sich die anderen beiden Männer befanden. Als er den Lauf einer Waffe im Nacken spürte, erstarrte er. »Ich weiß genau, was du gerade denkst, mein Sohn. Lass es bleiben. Ich würde dich ungern wegen so einer Dummheit erschießen.«
Der Akzent der Wache klang vertraut, vermutlich war er in der Gegend um Manchester aufgewachsen, aber schon lange genug in Alexandria, dass seine englischen Wurzeln nicht mehr ganz so deutlich herauszuhören waren. Jess fand es seltsam, nun so weit entfernt von seiner Heimat vielleicht von einem Landsmann getötet zu werden - von einem Engländer, genau wie sein Bruder Liam.
Nachdem man ihm die Fesseln mit dem Siegel der Bibliothek fest um die Handgelenke gelegt hatte, fühlte er sich seltsamerweise ruhiger. Alle sonstigen Chancen waren dahin, damit blieb ihm nur noch eine einzige Möglichkeit, und er wusste nun genau, was er zu tun hatte.
Jess drehte sich zu einem der anderen Hohe-Garda-Soldaten um. Seine dunkle Haut und die Haare verrieten, dass er aus der Gegend um Alexandria stammte. Er hatte einen gepflegten Bart und einen...
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