Schweitzer Fachinformationen
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Er lächelte. Zum ersten Mal seit zwei langen Jahren lächelte Sa Senyoria, Präsident des Königlichen Gerichts von Barcelona, während er sich das linke Auge zuhielt und mit dem rechten durch das Teleskop blickte. Ihm war, als begegnete er einem alten Freund wieder, denn es war der erste Abend in diesem verregneten Herbst, an dem er seine Sternenbeobachtung an einem wunderbar wolkenlosen Himmel betreiben konnte. Seit einem Jahr hatte er den Orionnebel nicht mehr betrachtet, und er hatte Sehnsucht nach diesem magischen Gebilde, das laut Monsieur Halley aus vier Sternen bestand, die rasend schnell, wie von Haß getrieben, auseinanderdrifteten. Als ob es am Firmament Haß geben könnte! Wie immer, wenn er den Himmel betrachtete, wurde Don Rafel Massó i Pujades von einem Gefühl der Ohnmacht und Kleinheit ergriffen, einer Scheu vor dem Unbekannten, weil die Sterne und Nebelgespinste, die das Fernrohr so dicht vor seine Augen rückte, in Wirklichkeit unvorstellbar weit entfernt waren, einsam, schweigend, unerreichbar und unbeachtet. Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die arme Elvira, und Don Rafels Lächeln war wie weggewischt. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen, und seufzte in die Dunkelheit des Gartens. Dann richtete er sich auf, zog ein Spitzentüchlein aus dem Ärmel und schneuzte sich sacht. Immer wenn er in den Garten ging, um die Sterne zu beobachten, lief ihm die Nase, und das, obwohl er Perücke, Dreispitz und Umhang trug. Er sah mit bloßem Auge zu Orion hinauf, und dieser erschien ihm vertrauter denn je. Nachdem er das Tüchlein wieder im Ärmel verstaut hatte, bückte er sich, um den geliebten Nebel erneut durch das Teleskop zu betrachten, und stieß einen unterdrückten Fluch aus, weil das Bild schon aus dem Blickfeld gewandert war. Eine geschlagene Minute lang mühte er sich ab, den flüchtigen Nebel wieder einzufangen. Donya Marianna hatte ihn gewarnt, er werde sich erkälten, und wie immer hatte sie recht; aber nach dem wolkenverhangenen Himmel der letzten Tage, dem erklärten Feind aller Astronomen, hatte er sich die erste sternenklare Nacht, die schamlos ihre Herbstgestirne entblößte, nicht entgehen lassen wollen. Nicht, daß Don Rafel Astronom gewesen wäre. In jungen Jahren, als er noch ein Neuling in der absonderlichen, geheimnisvollen Welt der Justiz war, hegte er großes Interesse für alles Unbekannte und suchte den Kontakt zu berühmten Physikern wie Don Jacint Dalmases, der ihn in die Astronomie einführte. Unzählige schlaflose Nächte hatte er mit dem vergeblichen Versuch verbracht, das Parallelogramm des Sternbilds Leier einzufangen – wie mühsam war doch die Beobachtung der Leier, die fast immer im Zenit stand! – oder das neckische, wechselhafte Treiben von Ganymed, Io, Europa und Kallisto, die einander rund um den riesigen, behäbigen Jupiter zu haschen schienen, ihr ewiges Kindermädchen mit einem einzigen, geheimnisvollen Auge im Bauch wie ein himmlischer Polyphem. Der junge Don Rafel hatte eifrigst die Schriften Monsieur Halleys gelesen und eine Zeitlang vor seinen Freunden behauptet, er wolle Astronom werden. Doch dann hatte ihn die Wirklichkeit eingeholt: Sein Studium war so gut wie abgeschlossen, und er konnte wohl kaum all die Jahre, in denen er sich mit Vorschriften, Paragraphen, Gesetzen und Urteilen herumgeschlagen hatte, mir nichts, dir nichts über Bord werfen. So wurde Don Rafel Rechtsanwalt, heiratete und verbrachte seine Nächte nicht länger mit dem Bemühen, den schweigenden Sternen ihr Geheimnis zu entlocken. Nur von Zeit zu Zeit nahm er noch das Fernrohr mit hinaus in den Garten, um zu träumen, denn er war ein von Natur aus unzufriedener Mensch. Es gab so viele, denen er ihre Stellung, ihren Reichtum und die Schönheit ihrer Frauen, einige, denen er ihre Weisheit, wenige, denen er ihre Bedachtsamkeit, und kaum jemanden, dem er sein Glück neidete. Sein Leben war von ständigem Verlangen und sein Herz von nagender Mißgunst erfüllt, und darum träumte er, ohne Poet zu sein, verliebte sich, ohne ein Don Juan zu sein, strebte danach, sich über die anderen zu erheben, und redete sich ein, dies sei das Glück. Er war intelligent genug, eine einmal errungene Position auch zu halten, und scherte sich nicht um den Haß und Neid seiner Mitmenschen. Und doch waren all diese Bemühungen nichts weiter als die blindwütige, verzweifelte Suche nach dem Glück – und ebendieses blieb ihm zu seinem Leidwesen versagt. In Augenblicken der Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber mußte er sich eingestehen, daß sein Leben nichts Halbes und nichts Ganzes war, wie Jupiter. Ja, Don Rafel war wie Jupiter: zu groß, zu ehrgeizig, zu massig für einen festen Planeten; zu klein und zu schwach für einen feurigen, kraftvollen Stern, der sein eigenes Licht verstrahlt. Doch genau wie Jupiter hatte er Trabanten, die ihn umkreisten.
»Verflixt, er verschwindet schon wieder!« beschwerte sich Don Rafel bei der Unendlichkeit. In diesem Augenblick hörte er Schritte und sah das schwankende Licht einer Laterne näher kommen: »Mach die Lampe aus, Hipòlit«, tadelte er das sich nahende Flackern.
»Die Herrin sagt, ich soll Euch sagen, daß es Zeit ist«, ließ sich der unsichtbare Diener vernehmen.
»Ja, ja, ich komme schon.« Er bückte sich und stellte verärgert fest, daß der Nebel in der Tat schon wieder aus dem Blickfeld gerückt war.
»Die Herrin sagt«, beharrte Hipòlit im Dunkeln, »ich soll Euch sagen, daß es schon acht geschlagen hat. Und daß Ihr vor dem Konzert noch Eure Perücke wechseln müßt.«
»Laß mich in Ruhe«, knurrte Don Rafel. Er harrte beim Teleskop aus, bis sein Zorn über die Störung durch den Diener verraucht war. Aber die für die Himmelsbeobachtung so notwendige innere Ruhe war dahin. Noch immer ein wenig verärgert, tastete er sich durch die Dunkelheit zurück in Richtung Haus, stolperte über Steinbänke und seine eigenen Gedanken, denn für einen flüchtigen Augenblick hatte er wieder das Bild Elviras vor sich gesehen.
Im Palast des Marquis von Dosrius im Carrer Ample traf sich für gewöhnlich alles, was unter den Anhängern der Bourbonen in Barcelona Rang und Namen hatte: Militärs, Juristen, Ingenieure, Beamte, angesehene Kaufleute, einheimische und importierte Politiker, dazu der eine oder andere Franzose, der in den traurigen Zeiten der Revolution sein Hab und Gut eingebüßt und im verängstigten, mißtrauischen Nachbarland Zuflucht gefunden hatte. Sie alle, die sich durch ihre profunde Unbildung auszeichneten, kamen hier zusammen, um Musik zu hören (ihr zu lauschen hätte ihnen zu viel abverlangt) oder im Takt der Alexandriner zu gähnen (»Ach, wie so sehr mein Herz verlangt nach Rache …«), mit denen sie der jeweils geladene Dichter traktierte.
Don Rafel war gerne beim Marquis zu Gast, weil dieser der guten alten Sitte treu geblieben war, seinen Haushofmeister die Namen der Eintreffenden ausrufen zu lassen. Zufrieden vernahm er die Ankündigung »Seine Gnaden Don Rafel Massó i Pujades, Präsident des Königlichen Gerichts von Barcelona, nebst Gemahlin«. Pflichtschuldig sah er seine Gemahlin an, Donya Marianna erwiderte seinen Blick, und beide betraten den großen Saal des Palasts des Marquis von Dosrius, den prächtigsten Salon der ganzen Straße, der unter der Hautevolee von Barcelona allenthalben Neid weckte. Die Gäste, die in Grüppchen beisammenstanden und sich die Zeit damit vertrieben, halblaut übereinander herzuziehen, fanden mit dem Eintritt des Ehepaars Massó neue Nahrung. (Seht nur, Don Rafel wird von Tag zu Tag dürrer und buckliger, er sieht schon aus wie ein Fragezeichen. Das macht wohl die Bürde seines Amtes. Daß ich nicht lache. Was wollt Ihr damit sagen? Herrje, ich könnte Euch Geschichten erzählen …) Nach allen Seiten lächelnd, schritten die Massós an den Geladenen vorbei direkt auf den Kamin zu, an dem Don Ramon Renau, der greise Marquis von Dosrius, mit einer nagelneuen silbernen Perücke nach Wiener Art geschmückt, eine Decke über die gelähmten Beine gebreitet, in seinem Räderstuhl saß, einem Meisterwerk der Ingenieurskunst, dank dessen er sich ungehindert fortbewegen konnte, und seine Gäste begrüßte. Hinter dem alten Marquis wartete der undurchdringliche Mateu stoisch auf Anweisungen. Der Marquis, der sich etwas darauf zugute hielt, der ungehobeltste Adelige ganz Barcelonas zu sein, grunzte beim Anblick der beiden und stieß mit dem Gehstock, den er stets bei sich hatte, in den Bauch des Gerichtspräsidenten.
»Wie geht’s, Don Rafel?«
»Sehr gut, Senyor Marquis.« Das Ehepaar verbeugte sich tief.
»Geht nur, und zerreißt Euch das Maul über mich«, sagte der Marquis nach kurzem Plausch und nickte zu den anderen Gästen hinüber, »ich muß mich um die Neuankömmlinge kümmern.«
Gehorsam gesellte sich das Ehepaar Massó zu einer Gruppe, in der, dem plötzlichen Themenwechsel nach zu schließen, gerade über sie gesprochen worden war. Guten Abend, Baron, Baronin, Herr Gerichtspräsident, Don Rafel, Lächeln, Begrüßungen, Handküsse, Seufzer. Wie geht’s? Weiß man, ob der Militärgouverneur kommt? Ich habe gehört, er wolle kommen, Baron, und Don Rafel warf einen verstohlenen Blick auf Donya Gaietanas großzügigen Busen, ach, es gibt Dinge auf dieser Welt … Don Rafel wußte, daß man sich jetzt, da die ausladenden Reifröcke vergangener Zeiten aus der Mode gekommen waren, den Damen wieder einfacher nähern und in ihr Dekolleté spähen konnte, ein aufregendes Erlebnis, und seine Hände wurden schweißfeucht wie immer in letzter Zeit, wenn er bei Donya Gaietana stand, die ihn das Gesicht der armen Elvira vergessen ließ.
»Ich habe gehört«, verkündete der Baron von Xerta, ohne etwas von Don Rafels ehebrecherischen Gedanken zu ahnen, »diese Frau...
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