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Kapitel 1
September 1866 Watchfield House, Grafschaft Oxfordshire, England
Das weitläufige Gemach, in dem wir warteten, hallte wider vom Gemurmel menschlicher Stimmen, die jedoch so leise sprachen, wie es der Anstand erforderte. Alle Anwesenden zuckten zusammen, als direkt vor der breiten Fensterfront ein greller Blitz aufleuchtete und in den Boden einschlug wie ein Finger, der auf einen Punkt tief in der Erde zeigen wollte. Vielleicht war es ein Fingerzeig des Herrn. Vielleicht wollte er uns darauf hinweisen, wo die Seele des kürzlich verstorbenen Lord Lydney ihren letzten Ruheort gefunden hatte.
Ich glaubte nicht, dass Lord Lydney in den Himmel aufgestiegen war.
Dennoch war Lydney für meinen Vater ein Freund, Gönner und Wohltäter gewesen. Viele sprachen voller Bewunderung von ihm. Um die Wahrheit zu sagen, er zeigte sich gelegentlich auch mir gegenüber großzügig. Einst glaubte ich sogar, er könnte mein Schwiegervater werden.
Diese Vorstellung gehörte jedoch der Vergangenheit an.
Ich war in Watchfield House, dem englischen Landsitz von Baron Lydney, um dort wieder einmal meine Aufwartung zu machen. Danach wollte ich so schnell wie möglich das Weite suchen und die Vergangenheit endgültig hinter mir lassen.
Mein Blick fiel auf Harry und wider besseres Wissen sah ich ihn länger an. Seine helle Haut und sein widerspenstiges goldbraunes Haar bildeten einen bewundernswerten Kontrast zu der schwarzen Trauerkleidung, die er - wie wir alle auch - trug. Rasch sah ich weg, bevor er mich dabei ertappen konnte, wie ich ihn anstarrte.
»Ein Schwarm von Krähen.« Marguerite zeigte mit einem Kopfnicken auf eine Gruppe unfreundlich dreinschauender Männer, die ihre Köpfe bei der Begrüßung ruckartig bewegten wie Vögel, die Körner aufpicken. Nicht nur ihr hohes Alter, auch ihre schwarzen Frackjacken ließen sie steif wirken.
Ja, meine beste Freundin Marguerite. Obwohl wir fast gleichaltrig waren, war sie als Witwe eine passende Anstandsdame für mich, wenn ich eine benötigte. Bei meiner gesellschaftlichen Stellung war das jedoch nicht oft der Fall. Sie wusste, dass es seit meiner Kindheit meine Angewohnheit war, alles Mögliche in Sammelbegriffen zusammenzufassen, vor allem in Situationen, in denen meine Ängste an die Oberfläche drängten. Diese Gewohnheit passte besonders gut zur Tochter und Assistentin eines Konservators für Sammler. Jetzt war ich selbst als Konservatorin und Gutachterin tätig - beinahe zumindest.
»Eine Rotte Wildschweine?« Ich täuschte ein gelangweiltes Gähnen vor.
Sie blickte in Harrys Richtung. »Ein Wüstling als Führer von Maultieren?«, fragte sie spöttisch.
Ich musste über ihren Scherz lächeln, wusste aber, dass sie das nicht wirklich ernst meinen konnte. Sie hatte Harry immer gern gemocht, zumindest bis zu seinem Verschwinden. Wie jeder von uns hatte Harry seine Fehler, aber er war ganz bestimmt kein Wüstling. Sein Interesse hatte immer nur einer Frau gegolten.
Diese Frau war ich.
Mein Herz schlug schnell und unregelmäßig. Bis dieses Interesse plötzlich nachließ. Ich erlaubte mir, ihn erneut anzuschauen.
Er war hochgewachsen und stand kerzengerade zwischen Mitgliedern des Adels. Sein Auftreten war selbstsicher, so wie ich ihn immer gekannt hatte. Bloß in der Gegenwart seines Vaters hatte er sich anders verhalten. Fast in der Mitte der versammelten Männer stand eine Frau, die ich nicht kannte. Ihr Haar war so schwarz wie unsere Trauergewänder. Sie war eine schöne junge Frau. Ihr Jett-Schmuck leuchtete dunkel im Licht der Lampen. Atemlos beobachtete ich, wie Harry sie ansah und wie aufmerksam er sich ihr gegenüber verhielt.
»Eine Prahlerei von Pfauen«, flüsterte ich Marguerite zu. Bei diesen Worten drehte sich die ganze Gesellschaft um und starrte mich an. Ich spürte, wie mir vor Verlegenheit warm wurde, und ich war dankbar für den hohen Kragen meines Kleides. Meine geflüsterten Worte taten mir leid. Es war eine Sache, sich selbst Mut zu machen, aber eine ganz andere Sache, lieblos zu sein, auch wenn Trauer die Ursache war.
»Haben sie mich etwa gehört?«
Marguerite steckte eine Strähne ihres blonden Haares zurück in ihre Hochfrisur. Dann drückte sie aufmunternd meinen Ellbogen, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich glaube, sie wissen etwas, was du nicht weißt . noch nicht.«
Jetzt, da sie es erwähnte, erinnerte ich mich daran, dass mir die Leute schon den ganzen Morgen lang mit den Blicken folgten. Das war beunruhigend und ungewöhnlich zugleich. Ich drehte mich zu meiner Freundin um und sah ihr in die Augen. »Und was du auch weißt?«
Sie nickte. »Als ich im Flur war, habe ich zufällig etwas von dem Gerede gehört, aber du wirst es bald selbst herausfinden, wenn es tatsächlich stimmt.« Marguerite neigte den Kopf zu der dunkelhaarigen Schönheit inmitten der Männer und flüsterte: »Sie ist mit ihm zusammen aus Venedig zurückgekehrt.« Dann entfernte sich meine Freundin von mir.
Ich holte tief Luft und drehte mich um. Niemand sollte meinem Gesichtsausdruck ansehen, wie bestürzt und überrascht ich war. Ich ging zu einem dick gepolsterten Sessel, in dem ein älterer Bekannter von mir gerade zu versinken schien. Ich wollte nachsehen, ob er beim Aufstehen Hilfe brauchte. Als ich mich vorwärts bewegte, trat mir ein Mann in den Weg und hinderte mich am Weitergehen. Er wirkte selbstsicher wie ein Mann, der es nicht gewohnt war, wenn man Nein sagte. Seine Kieferpartie wirkte wie aus Stein gemeißelt und die Wellen seines platinblonden Haares verdankten ihren perfekten Sitz wohl nicht einer Pomade. Er kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wo ich ihn einordnen sollte.
»Viscount Audley.« Er verneigte sich. »Zu Ihren Diensten.«
Ich empfand es nicht gerade als besonders »dienstbar«, mir einfach den Weg zu versperren. »Miss Eleanor Sheffield. Ich bin mir sicher, dass ich Ihre Dienste nicht benötige, obwohl ich Ihnen für Ihr Angebot danke.«
»Oh, ich kenne Ihren Namen. Wir sind uns schon begegnet.« Er senkte die Stimme. »Ich glaube sehr wohl, dass Sie meine Unterstützung benötigen. Sie sind eine Frau und noch dazu allein oder Sie werden bald allein sein. Deshalb sind Sie ohne Schutz, nicht wahr?«
Die unverblümte Offenheit und die versteckte Drohung in seiner Äußerung ließen mich frösteln, aber ich sagte nichts. Er brauchte keine Aufforderung, sondern sprach einfach weiter.
»Ich will Ihnen bloß einen guten Rat geben: Wissen Sie, er wird Ihren guten Willen ausnutzen, wie er es immer getan hat. So wie auch sein Vater sich Ihrem Vater gegenüber herablassend und leutselig gegeben hat. Ihr Wohlwollen ist aber niemals selbstlos gewesen, oder, Miss Sheffield? Und keiner von beiden hat sich am Ende als loyal erwiesen.«
»Entschuldigen Sie, Lord Audley. Bestimmt meinen Sie es gut. Aber ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.« Nichts als Lügen.
»Ich glaube, Sie wissen es sehr wohl.« Er sah Harry an, dann fiel sein Blick wieder auf mich. Er verneigte sich wieder und kehrte zu den anderen zurück.
Ich wusste nicht, wie ich diese Bemerkungen von Lord Audley verstehen sollte, es sei denn, auch er kannte das Geheimnis, das offenbar für alle anderen, außer mir, gar keines war.
Aus Gewohnheit warf ich einen Blick auf die prunkvolle Kaminuhr. Das Gehäuse aus französischem Walnussholz war geschmückt mit den Figuren der drei Grazien aus der griechisch-römischen Sagenwelt. Ich war verblüfft, dass die Uhr die richtige Zeit anzuzeigen schien. Ich sah auf meine kleine Taschenuhr, und tatsächlich, die Uhrzeiten stimmten überein. Aber schimmerte das Holz der Kaminuhr nicht heller als sonst? Oder täuschte ich mich? Ich trat näher an den Kamin. Das Uhrwerk konnte ich nicht sehen, aber ich konnte sein leises Summen hören. Das Glas über dem Ziffernblatt glänzte. Vielleicht hatte Mr Clarkson, der Mitarbeiter unserer Firma, es poliert, als er vor ein paar Monaten hier war, um sich während meiner Abwesenheit um die Sammlung zu kümmern.
Ich sollte ihn fragen, ob er das Uhrwerk repariert hatte. Wenn ja, war er viel versierter als erwartet. Darüber war ich froh.
Ich sah mich suchend in dem Raum um. Jetzt waren mehrere Dutzend Männer und Frauen hier, Adlige und Bürgerliche, die reichen Kunstsammler, die mit dem Baron bekannt waren. Manche von ihnen waren Auftraggeber meines Vaters gewesen. Und natürlich war Harry da.
Diesmal konnte ich ihm nicht entwischen. Sein Blick ruhte auf mir, so wie Hunderte Male im Laufe eines Jahrzehnts, zuerst als hoch aufgeschossener, schlaksiger Junge, später als gereifter, gut gebauter junger Mann. Ich holte tief Luft, denn ich wollte nicht lügen: Ich hatte ihn geliebt, sowohl den Jungen als auch den Mann. Er lächelte mich an. Ich neigte kurz meinen Kopf in seine Richtung und sah wieder weg, als die Würdigungen des Verstorbenen begannen.
Einige der Anwesenden sprachen gut über den verstorbenen Lord Lydney. Ihre freundlichen Worte klangen echt und sogar der Pfarrer äußerte sich positiv in seiner Trauerrede. Andere jedoch hatten während der Lobesreden ihre Blicke starr auf den Tisch gerichtet und signalisierten keine Zustimmung. Bald versiegte dann auch der Strom der Lobeshymnen.
Ich wollte gerade auf mein Zimmer zurückkehren, als ein Mann mich sanft am Arm berührte. »Miss Sheffield?«
Ich nickte und er stellte sich vor. »Ich bin Sir Matthew Landon, der Anwalt des Verstorbenen. Dürfte ich...
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