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Ulrike: Alma heißt Apfel.
Alma-Ata, so hatte Almaty, die Hauptstadt von Kasachstan, nicht lange vor meiner Ankunft im Jahr 1992 noch geheißen, war also die Stadt der Äpfel. Denn tatsächlich stammen auch unsere europäischen Äpfel, die wir heute im Supermarkt kaufen können, von einer Art des Asiatischen Wildapfels aus dem Süden von Kasachstan ab. Doch inzwischen war von Apfelbäumen nicht mehr viel zu sehen in dieser modernen Stadt mit ihren mehrspurigen Straßen und Wohnblöcken, umgeben von Bergen mit ihren schneebedeckten Gipfeln.
Als ich dort ankam, gab es im Innern der Stadt viele Plattenbauten und gerade Straßen, die auch nach dem Zerfall der Sowjetunion noch nach Lenin oder anderen sowjetischen Gallionsfiguren benannt waren. Dennoch barg sie eine eigentümliche Schönheit. Der Sommer war heiß, der Frühling aber angenehm warm, es gab hübsche Kanäle mit Bäumen auf beiden Seiten und blühenden Tulpen links und rechts. Der Winter in Almaty hingegen war so eisig, dass Spucke auf dem Boden in Sekundenschnelle gefror. In den wenigen Einkaufszentren, die es in der Stadt gab, reihten sich leere Regale aneinander, weil es keine Waren gab. Waren sie ausnahmsweise gefüllt, fanden sich in ihnen die immer gleichen Produkte. Die Kasachen waren gastfreundlich und genügsam, ihr Leben war schlichter als unseres in Deutschland, aber zugleich nicht weniger intellektuell.
Das alles wusste ich freilich noch nicht, als ich damals den Fuß zum ersten Mal auf den warmen Boden des Flughafen-Rollfeldes setzte. Ich betrat in diesem Moment nicht nur ein anderes Land. Es war eine andere Welt. Das Ende der Sowjetunion war ein Jahr her, seit Dezember 1991 war Kasachstan unabhängig. Die Kasachen hatten bereits ihren ersten Präsidenten gewählt, der Staat war auf dem Weg zur Demokratie, zugleich gab es territoriale Konflikte mit den Nachbarstaaten und die Lebensumstände der Bevölkerung waren schlecht. Mit der neu gewonnenen Freiheit seit dem Sturz des sozialistischen Regimes in Moskau war eine noch größere Armut als zuvor gekommen. Lebensmittellieferungen aus Russland blieben aus, stattdessen musste die Bevölkerung sich in einer neuen, offenen und marktwirtschaftlichen Welt zurechtfinden.
Ich erinnere mich an Menschenschlangen vor Brotläden. Es gab noch keine funktionierende Infrastruktur, alles war im Aufbau. Die Armut war überwältigend und viele schimpften über ihr neues Leben: »Früher war es doch besser, da hatten wir säckeweise Essen, Medikamente und jetzt .«, sagten die Menschen. Ihre Erinnerung mag stellenweise verzerrt gewesen sein, aber offensichtlich war die Lebenssituation im Land schlecht.
Die Kanadier David und Sherry Block, die mir vor meiner Abreise am Telefon gesagt hatten, wie sehr sie sich auf mich freuten, holten mich und Gabi, die im ersten Jahr meine Missionarspartnerin sein sollte, vom Flughafen ab. Wir beiden bezogen eine Wohnung in Almaty und lernten Russisch, um uns anschließend auch in den anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zurechtfinden zu können. Russisch war die dominante Sprache im Land und wurde sogar in der Schule gesprochen. Kasachisch sprachen selbst die Einheimischen kaum. Außerdem war mein Ziel ja Turkmenistan, da sollte mir das Russische weiterhelfen.
Das ganze erste Jahr in Kasachstan erscheint mir rückblickend wie eine Art Flitterwochen. Ein lockerer Einstieg in mein neues Leben, bevor es wirklich ernst werden würde und ich meinen Weg weitergehen sollte.
Es war nicht so, als hätte ich keine Schwierigkeiten gehabt: Die neue Sprache machte mir zu schaffen, ich hatte meine Konflikte mit Gabi, die Kultur war mir so unglaublich fremd. Aber in alldem hatte ich immer das Gefühl, dass Gott bei mir war. Alles um mich herum war spannend und es geschahen unglaubliche Dinge.
Es schüttete wie aus Kübeln. Ich war auf dem Markt unterwegs. Der ganze Platz war dicht gedrängt voll mit Menschen.
Plötzlich kam ein Mann von hinten angerannt, stieß mich fast um und riss mir meine Tasche weg. Darin befanden sich nicht nur meine Geldbörse, sondern auch mein Pass und mein Visum. Ich war starr vor Schreck. Mein wichtigstes Hab und Gut war weg! Meine Lebensgrundlage in Kasachstan.
Ich sah den Mann nur noch von hinten, er drohte, jeden Moment in der Menge zu verschwinden. Ich fasste mich und lief ebenfalls los. So schnell ich konnte, rannte ich ihm nach, aber ich wusste, ich würde den Sichtkontakt verlieren, wenn ich nichts unternahm. So verrückt das klingen mag, aber mir fiel nichts anderes ein, als auf Englisch zu rufen: »Im Namen Jesu, Stopp!«
Das Unglaubliche geschah. Der Mann hielt exakt in dieser Sekunde an. Er drehte sich zu mir herum und gab mir tatsächlich meine Tasche zurück. Meine Knie zitterten, undeutlich hörte ich die Leute um mich herum sagen, ich solle die Polizei rufen, aber ich war einfach nur dankbar.
An diesem Tag lernte ich, dass ich mich auf Jesus verlassen konnte. In jeder Lebenssituation. Er war meine Burg. Er war es all die Monate in Kasachstan und auch die späteren Jahre in Turkmenistan und in der Türkei.
Während der Zeit in Kasachstan fand ich schnell engeren Kontakt zu einer meiner Sprachlehrerinnen. Die ältere Dame musste einige Zeit im Krankenhaus verbringen. Ich wiederum hatte Zeit und sehnte mich nach Kontakten, also besuchte ich sie, sprach ihr Mut zu und erzählte ihr auch von Gott. Im Gegenzug half sie mir dabei, die Lage der Menschen im Land besser zu verstehen, und sie ließ mich an ihrer Welt und auch ihrem Leid teilhaben, das mir bis dahin so fremd gewesen war.
Sie berichtete mir von leeren Apotheken, von Menschen, die sich auf dem Schwarzmarkt Spritzen, Anästhesiemedikamente oder Verbandsmaterial für anstehende Operationen beschaffen mussten, denn das Gesundheitssystem war völlig überlastet und mangelversorgt. Die medizinischen Geräte waren alt und teilweise unbrauchbar. Für mich als Krankenschwester war das schwer auszuhalten. Ich sah, dass die Krankenhäuser zwar sauber, aber eigentlich alle Utensilien zur Behandlung knapp waren. Ganz viele Kasachen gingen aus diesen Gründen gar nicht erst ins Krankenhaus oder zum Arzt, wenn es ihnen schlecht ging.
Es gab außerdem unglaublich viele Alkoholiker in Kasachstan. Einmal mussten Gabi und ich den Krankenwagen rufen, weil ein Mann vor unserer Haustür betrunken zusammenbrach. Das war besonders deshalb unerwartet für mich, weil die Kasachen eigentlich Muslime waren und keinen Alkohol tranken. Doch im Laufe der Jahre hatten sie unter der sozialistischen und religionsfeindlichen Herrschaft der Sowjetunion vergessen, was ihren muslimischen Glauben eigentlich ausmachte - so wie viele Europäer heute auch nicht mehr wissen, was eigentlich hinter dem Christentum steckt. Im Stadtbild gab es kaum Moscheen, eine kasachische Übersetzung des Korans erschien erst 1991. Religiöses Leben war den Menschen im Land kaum möglich und mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Und doch waren die Russen trotz des sozialistischen und religionsfeindlichen Regimes offiziell orthodox. Bis heute gibt es in jeder größeren Stadt in Zentralasien orthodoxe Kirchen. Einmal hörte ich einen Mann zu mir sagen: »Dieser Jesus ist der Gott der Russen.« Das machte es nicht gerade leichter, mit den Einheimischen über den christlichen Glauben ins Gespräch zu kommen. Denn neben der Tatsache, dass Religion an sich staatlich unterdrückt war, verbanden die Kasachen Jesus mit dem russischen Regime. Zugleich spürte ich allezeit, dass die Abwesenheit von Religion eine Lücke im Leben der Menschen hinterlassen hatte.
Ich selbst besuchte im ersten Jahr eine Gemeinde koreanischer Missionare mit dem klangvollen Namen Grace, also Gnade. Die Gruppe war zutiefst charismatisch. Wenn sie zu einer Gebetsnacht einlud, dann hieß das wirklich, dass das Gebet die ganze Nacht andauerte. So fand ich gesetzt protestantisch aufgewachsenes Mädchen mich zwischen laut auf Koreanisch betenden Christen wieder und verstand kein Wort - es war ein Kulturschock, aber die Hingabe der Menschen erreichte mein Herz und ich kam während meiner Zeit in Kasachstan immer wieder hierher. Nicht zuletzt deshalb, weil die eigentlich koreanischsprachigen Gottesdienste ins Russische übersetzt wurden, ich ihnen also folgen konnte und zugleich meine Sprachkenntnisse erweiterte.
Die Gottesdienste fanden in einem alten Kino mit zweihundert bis dreihundert Gästen statt. Ich lernte in dieser Zeit viel darüber, wie unterschiedlich man Mission angehen konnte. Und beschloss: Egal in welches Land ich gehen würde, ich wollte nahe an den Herzen der Menschen sein. Denn so verstand ich auch Jesus, der sein Leben mit den Menschen geteilt hatte bis hin zum Tod.
Ich nahm mir vor, die Sprache, die Kultur und das Leben der Menschen kennenzulernen und darauf meine missionarische Arbeit zu bauen. Das war sicherlich der mühsamere Weg mit täglichem Sprachunterricht und vielen Gesprächen über das Leben mit den Menschen vor Ort. Aber wie sonst hätte ich sie je erreichen können? Die Zeit in Kasachstan nahm ich als Lehrjahr an. Hier würde ich den ersten Kontakt zu Menschen in Zentralasien herstellen, sie kennenlernen - und dann tiefer gehen.
Meine Missionsorganisation hatte glücklicherweise eine ähnliche Einstellung. Und so konnte ich die nächsten zwei Jahre zum intensiven Sprachstudium verwenden und dabei gleichzeitig von Anfang an miterleben, wie der Glaube in Zentralasien Fuß zu fassen begann. Wir Missionare vor Ort hatten das Gefühl: Das hier ist der Anfang von etwas Großem und wir sind Teil davon.
Wenn ich daran denke, habe ich noch heute Schmetterlinge im Bauch. Es war eben wie in den Flitterwochen.
David: Es war brüllend heiß. Fünfundvierzig Grad...
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