Schweitzer Fachinformationen
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Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun; Dolf sucht nichts, und er vermisst auch nichts, als in ihrer Wohnung in der Geresstraat ein Mann auftaucht, zu dem er noch im selben Jahr «Papa» sagt, obwohl er doch bereits ein zehnjähriger Junge ist. Der Mann, der Otmar Smit heißt, dirigiert in der Musikschule im Ortskern von Blerick den Chor, in dem Dolfs Mutter singt. Er ist klein und gedrungen, raucht Belinda durch eine elfenbeinerne Zigarettenspitze und hat so breite Füße, dass man unter seine nussbraunen Budapester Hufeisen nageln könnte.
«Sie haben aber runde Füße», rutscht es Dolf heraus, als der Mann wieder einmal ihr schnell noch gestaubsaugtes Wohnzimmer betritt. Der Mann erwidert, er könne ruhig «du» zu ihm sagen und ob er wisse, dass Ronald Koeman und Luciano Pavarotti ebenfalls runde Füße hätten. Dann ergreift er blitzartig seine Hand, schaut ihn wie der Gott des Gewitters unter wuchernden Augenbrauen hervor an und sagt: «Drück zu, fester - noch fester», woraufhin Dolf die trockene Hand so kräftig wie möglich drückt, erst mit einer Hand und dann mit beiden. Otmar zwinkert Dolfs adrett gekleideter Mutter zu und fragt, die freie Hand locker in der Hosentasche, ob er, wenn ihr Sohn fertig mit Drücken sei, in der Küche helfen könne, irgendwas schälen, einen Topf Kartoffeln abgießen oder so was.
Wahrscheinlich spürt Dolf zum ersten Mal, was Väterlichkeit ist, auch wenn er diese Art von Wörtern nie verwendet. Es sind sich dehnende und sich zusammenziehende Monate, in denen ihn dieser freundliche, anteilnehmende Mann in seinen roten oder grünen Hosen und den gediegenen Fischgrätjacketts mit Wildlederflicken an den Ellenbogen gleichsam einlullt; Otmars joviale Lebhaftigkeit, sein handfester Optimismus - davon geht eine Kraft aus, mit der er nicht gerechnet hatte. Bis dahin war er mit seiner Mutter allein gewesen, ein etwas düsterer, einsamer Start für einen Jungen, wird ihm, sich damit abfindend, bewusst. Auch ohne Vater, ohne Geld für einen Sportverein, ohne Campingurlaube in Frankreich ist er zufrieden. Seine Mutter und er bilden eine Zweieinigkeit, als verliefe irgendwo in der Abgeschlossenheit ihrer Wohnung, unter den durchgetretenen Teppichen oder hinter den Tapeten, auf denen die Filzstiftrunen seiner Kleinkindzeit zu sehen sind, noch immer eine Nabelschnur.
In De Klimop, seiner Grundschule, ist die Vaterlosigkeit nicht unbedingt ein Nachteil. Bei den Raufbolden und Sitzengebliebenen in seiner Klasse erzwingt er damit Furcht; sie glauben, dass diese Lücke in seinem Leben ihn härter gemacht hat, zäher. Manche Mädchen wollen ihn trösten, wenn sie hinter seinem Rücken erfahren, dass sich sein Vater davongemacht hat, noch bevor er auf die Welt gekommen ist. Sie laden ihn als einzigen Jungen zu ihrer Geburtstagsparty ein, bei der ihre Mütter vor unausgesprochenem Mitleid sanft werden, was er durchaus bemerkt und sich schweigend gefallen lässt.
Doch dann ist da Otmar Smit aus Venlo. Wenn er Dolfs Mutter abholt, um mit ihr in den neuen James Bond zu gehen oder eine Kabarettvorstellung in der Maaspoort zu besuchen, hat er immer ein Geschenk für ihn dabei, meistens einen Bausatz, der genau ins Schwarze trifft - das richtige Flugzeug, richtiger Maßstab, richtiger Weltkrieg. Einmal bleibt er einen ganzen Sonntagnachmittag bei ihnen in der Wohnung, um Dolf am mit Zeitungen abgedeckten Esstisch zu zeigen, wie man einen Vickers-Doppeldecker lackiert. Die Farbe kommt aus begehrenswerten Minibüchsen, die Otmar in einem Venloer Geschäft kauft, von dessen Existenz seine Mutter nicht einmal etwas ahnt. Sie führen ernste Gespräche darüber, welcher Klebstoff der beste ist, der aus einer Tube oder der aus einem Tiegel, und auch über die Flugzeuge reden sie, ob die Bordwaffe der schiefen und krummen Vickers schon zwischen den Blättern des Propellers hindurchschoss, ob die Sopwith Camel, die an einer Angelleine über seinem Schreibtisch hängt, einigermaßen wendig war - Dinge, für die man einen Vater braucht, erkennt er.
Zweifellos hat seine Mutter auch schon vorher Verehrer gehabt. Der Honigwaffelverkäufer auf dem Markt schneidet die oberste Waffel in ihrer Tüte immer in Herzform. Der Musiklehrer, ein Mann mit einem Glasauge, möchte, dass er ihr Grüße ausrichtet. Auf dem Schulhof umherirrende Väter scherzen mit ihr, was Dolf verwundert, denn sonderlich freundlich ist sie nicht. Allerdings ist sie anders als andere Mütter. Da ist zunächst mal ihr komischer Name, Ulrike Eulenpesch - «warum heißt ihr Eulenpisse», fragt ein Mitschüler, auf den Dolf sogleich losgeht -, und außerdem spricht sie seltsam, so wie die hübsche Schwester von Prinz Claus, sagt Otmar. In deutschen Versandhäusern bestellt sie blumige Seidenblusen und taillenhohe Hosen, zu denen sie offene Schuhe mit goldenen Riemchen anzieht, selbst bei Regen. Wenn er im Klassenraum sitzt, sieht er sie aus dem Augenwinkel den Schulhof betreten, ihr aschblondes Haar, das sie mit großen Haarspraywolken in Form bringt. «Mist, wieso ist das Elnett denn schon wieder alle?», ruft sie aus der Dusche, sodass sie am Nachmittag zusammen mit dem Bus nach Venlo fahren, über die Maasbrücke, und Hand in Hand durch die Vleesstraat zum Nolensplein gehen, um bei «Die 2 Brüder von Venlo» neue bronzene Dosen zu kaufen und auch noch Kaffee und Zigaretten und Krustenbrote; die liebt seine Mutter, ebenso wie Gold und «geschulten Gesang». Beim Bettenbeziehen singt sie deutsche Arien. «Deine Mutter war in Wuppertal bei der Operette», sagt Otmar, wenn Dolf freche Bemerkungen macht. «Sei also ein bisschen lieb zu ihr.»
Er tut, was er kann. Auch wenn er, als sie noch zu zweit waren, nicht in solchen Begriffen über seine Mutter dachte, als wäre sie jemand, zu dem man besonders lieb sein müsste; ihr Charakter eignet sich nicht für Mitleid, sie ist eine Frau, die, wenn sie traurig ist, wütend wird oder anfängt zu putzen. Die einzigen Frauen, die ihr ähnlich sind, sieht er im deutschen Fernsehen in der Werbung für Schwarzkopf-Shampoo, doch die wohnen in großen Häusern und sind fröhlich.
«Wann kommt Otmar wieder», fragt er, als es ihm zu lange dauert. Sobald der koboldhafte Mann da ist, schleppt Dolf ihn zur Heimorgel, die sie von Opa Ludwig bekommen haben und die Otmar «Steinway mit Ohrwärmern» nennt. Er zieht den Kopfhörer heraus, lässt erst mal all seine Fingerknöchel knacken, woraufhin etwas Beeindruckendes aus den staubigen Lautsprechern zu seinen Füßen dringt, ein wilder Strom von Tönen, die Dolf weniger schön als vielmehr gut oder gekonnt findet, oder wie sagt man das. «Liszt, Ferenc, - so mein Vater, der schon unter der Erde ist», sagt Otmar oder: «Ludwig Bethosen, stocktaub, aber dennoch kein Hörgerät, Mensch - auf keinen Fall benutzen, einfach so tun, als wenn nichts wäre.» Altmodische Witzchen, wenn er jetzt daran zurückdenkt, die aber seine Mutter silberhell auflachen lassen, was an und für sich schon ein Ereignis ist. Durch Otmar wird ihm bewusst, dass sie eigentlich immer mürrisch war. «Mach mich nicht griesgrämig, Junge», warnt sie ihn oft zu spät. Vielleicht ist «verbittert» ein besserer Ausdruck, wie die bittere, schwarze Schokolade, die sie schimpfend durchs Klo spült, wenn sie die von Leuten geschenkt bekommen hat, «die mich mästen wollen, mein Schatz».
In gewisser Weise versteht Dolf ihre Verdrießlichkeit ja, mehr noch, ihn selbst plagt so was auch. Wenn er nach der Schule bei einem Freund zum Spielen ist, wo es nach Blumenkohl und Bratwurst riecht, und ein Vater den Gartenweg betritt, dann überfällt ihn eine Trauer, die an Wut grenzt, weniger aus Eifersucht, sondern vielmehr, weil ein solcher Mann, der seine Tasche abstellt und seiner Frau einen Kuss gibt, ihn daran erinnert, dass irgendwo ein Mann herumläuft, der seiner Mutter und ihm etwas vorenthält. Bei ihnen ist es Ulrike selbst, die am Nachmittag gerädert heimkommt, um Jahre gealtert nach einem Tag in der Venloer Gärtnerei, in der «ich des Liebesschicksals wegen arbeiten muss, mein Schatz», das T-Shirt steif von der Wundflüssigkeit der Gerberastiele, die sie in tropischer Hitze abgeschnitten hat - «kriechend, sie lassen deine Mutter auf den Knien kriechen». Oft ohne ihm einen Kuss gegeben zu haben, schließt sie sich im Bad mit dem zu kurzen Duschvorhang ein, was zur Folge hat, dass sie jeden Abend ein durch und durch nasses Handtuch auswringen muss, und kommt erst nach einer Dreiviertelstunde wieder heraus, nach Elnett riechend und erstaunlich gut renoviert, woraufhin sie am Küchentisch, das Kleingeld aus ihrem Portemonnaie wie Schrot um sich herum, einen Einkaufszettel schreibt.
Er ist nicht gut angesehen in der Geresstraat, der Mann, von dem Dolf nicht zu reden wagt. Ein vertracktes Tabu umgibt seinen «Erzeuger», wie seine Mutter ihn nennt. Einerseits will sie nicht, dass von ihm gesprochen wird, andererseits spricht sie fortwährend von ihm, ein Alleinrecht, das sie aufgrund einer Vergangenheit, zu der Dolf gerade eben nicht gehört, für sich Anspruch nimmt. Es sind immer dieselben vier, fünf Geschichten, die sie erzählt, über Ereignisse oder Eigenschaften, aus denen hervorgeht, dass sein «Erzeuger» ein unangenehmer Mensch war - «ein großer Fehler deiner Mutter, Junge». Ein Mann, der zu Opa Ludwig gesagt hat, er könne kein Gespräch mit ihm führen,...
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