Schweitzer Fachinformationen
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Spätestens seit der Coronapandemie sind Verschwörungstheorien ein Signum unserer Zeit. Je komplexer unsere Welt wird, desto mehr Menschen scheinen für ihre erklärenden Sinnangebote empfänglich. Elon Musk, der reichste Mensch der Welt, hat ein ganzes soziales Netzwerk in eine Schleuder für konspirationistische Erzählungen verwandelt. Donald Trump, der mächtigste Mensch der Welt, amtiert als conspiracy theorist in chief im Weißen Haus.
Michael Butter, Bestsellerautor und einer der renommiertesten Experten für das Thema, präsentiert die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschung. So groß die Gefahr auch ist: Eine freie und demokratische Gesellschaft darf sich nicht von der Angst vor Verschwörungstheorien beherrschen lassen und in Alarmismus verfallen. Wie Populismus sind auch sie eine Reaktion auf eine empfundene oder befürchtete Exklusion. Wer sie bekämpfen will, sollte andere nicht einfach als Schwurbler oder Leichtgläubige hinstellen. Vielmehr gilt es, die gesellschaftlichen Ursachen zu bekämpfen. Inklusion und Teilhabe, so Butter, stellen den wirksamsten Schutz gegen Hetze und Unwahrheiten dar.
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An einem Morgen im März 2020 war ich mit meinen Kindern am Neckarufer unterwegs. Wie fast immer während des ersten Lockdowns war das Wetter traumhaft. Der Große fuhr Fahrrad, der Kleine Laufrad, und ich hechelte auf dem asphaltierten Feldweg hinterher. Entsprechend außer Atem war ich, als mein Handy klingelte. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) fragte an, ob ich für ihre Sendung »Die Politikstunde«, die sie gerade für Schüler*innen konzipierte, die nun keinen Präsenzunterricht mehr hatten, in den nächsten Tagen eine Folge zu Verschwörungstheorien gestalten könnte. Da ich schon öfters gut mit der BpB zusammengearbeitet hatte, sagte ich sofort zu. Die Sendung wurde wenige Tage später am 31. März gestreamt und ist noch immer auf YouTube verfügbar.
Die Tatsache, dass die BpB so schnell anrief, zeigt, wie sehr Verschwörungstheorien schon vor Beginn der Pandemie ins Licht der Öffentlichkeit gerückt waren. Obwohl die »Hygienedemos« erst langsam anliefen und »Querdenken« noch eine ganz andere Bedeutung hatte, war man bereits für konspirationistische Erklärungen sensibilisiert. Ich habe mich daher in den letzten Jahren ab und an gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn die Pandemie uns einige Jahre früher heimgesucht hätte - bevor die russische Annexion der Krim und die Besetzung von Teilen des Donbass im Jahr 2014, die sogenannte »Flüchtlingskrise« von 2015, die Wahl Donald Trumps 2016 und der Aufstieg der AfD das Thema »Verschwörungstheorien« Schritt für Schritt in die Öffentlichkeit trugen. In den ersten Monaten der Pandemie nahm das ohnehin schon große öffentliche Interesse an Verschwörungstheorien dann exponentiell zu.
10Als ich 2008 begann, mich intensiv mit Verschwörungstheorien zu beschäftigen, gab es nur wenige Forschungsarbeiten in diesem Bereich, und außerhalb der Wissenschaft interessierte sich kaum jemand für meine Arbeit. Während meiner Zeit am Freiburg Institute for Advanced Studies, wo ich bis 2012 an einer Habilitation zu Verschwörungstheorien in den USA vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart arbeitete, gab ich vielleicht ein oder zwei Interviews pro Jahr - und das auch nur, weil wir eine umtriebige Pressesprecherin hatten, die sich viel Mühe gab, die Forschung der Fellows in der Öffentlichkeit zu lancieren. Die erste Frage der Journalist*innen war meistens: »Warum glauben so viele Amerikaner an Verschwörungstheorien?« Die mehr oder weniger explizite Annahme war, dass »wir Deutschen« oder »wir Europäer« das nicht tun. Verschwörungstheorien waren skurril und spannend, aber nicht besorgniserregend. Vor allem aber waren sie nicht »unser« Problem.
Dieses Bild wandelte sich in den folgenden Jahren grundlegend, und Verschwörungstheorien erhielten schon vor der Pandemie viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit, als ich mir je hätte vorstellen können. Und mit der Aufmerksamkeit nahm auch die Besorgnis zu. Journalist*innen behandelten das Thema nicht mehr als Kuriosum, sondern betonten die Gefahren der konspirationistischen Weltanschauung. Niemand bestritt mehr, dass Verschwörungstheorien auch in Deutschland und Europa weit verbreitet waren. Auf den Internetseiten seriöser Medien konnte man sich nicht länger durch Galerien der abstrusesten Verschwörungstheorien - von den Echsenmenschen bis zu Chemtrails - klicken, sondern fand Artikel darüber, wie Verschwörungstheoretiker*innen in Parallelwelten abdrifteten.
Anfragen für Interviews nahmen zu, auch für Vorträge: in Schulen, Volkshochschulen oder bei kirchlichen Einrichtungen, aber auch auf Tagungen des Verfassungsschutzes 11und für die Fraktionen politischer Parteien auf kommunaler und Landesebene. Bei diesen Veranstaltungen bin ich zwischen 2014 und dem Beginn der Pandemie vielen Menschen begegnet, die nur sehr wenig über Verschwörungstheorien wussten, aber neugierig waren, weil ihnen diese nun immer häufiger in den Medien, in manchen Fällen auch im Bekannten- und Familienkreis begegneten. Mein 2018 erschienenes Buch »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien vermittelte daher grundlegendes Wissen. Es orientierte sich an den Fragen, die mir immer wieder gestellt wurden und an denen sich auch meine Vorträge orientierten: Was sind Verschwörungstheorien? Wie argumentieren sie? Warum glauben Menschen daran? Welche Rolle spielt das Internet bei ihrer Verbreitung? Sind sie gefährlich? Heute halte ich noch immer regelmäßig Vorträge über Verschwörungstheorien, aber das Publikum hat in der Regel schon viel über das Thema gehört und gelesen, und fast alle sind sehr besorgt über die vermeintlich steigende Popularität von Verschwörungstheorien und deren negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.
Diese gestiegene Aufmerksamkeit schlug sich unter anderem auch im Interesse an meiner »Politikstunde« auf YouTube nieder. Die meisten Sendungen der Reihe wurden bis heute zwischen 2000 und 5000 Mal aufgerufen, die Folge zu Verschwörungstheorien dagegen mehr als 25000 Mal. Zu den meisten anderen Videos gibt es lediglich eine Handvoll Reaktionen, unter der Episode über Verschwörungstheorien finden sich dagegen fast 300 Kommentare. Einiges Lob ist dabei, aber vor allem Kritik. Man wirft mir vor, entweder keine Ahnung zu haben oder Teil des Komplotts zu sein und die Öffentlichkeit bewusst zu täuschen. Die Zahl der negativen Kommentare ist mindestens zehnmal so groß wie die der positiven. Nähme man die Kommentare naiv als Abbild unserer Gesellschaft, könnte man denken, dass die gro12ße Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile an solche Theorien glaubt.
Allerdings bieten die Kommentare nur ein verzerrtes Abbild der Realität. Während der Pandemie mag in Deutschland zwar der Eindruck entstanden sein, dass immer mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben, aber das stimmt nicht. Quantitative Studien attestieren einem Viertel bis zu einem Drittel der Deutschen eine sogenannte Verschwörungsmentalität, also eine allgemeine Neigung zu Verschwörungstheorien. Doch ist das tatsächliche Ausmaß, wie ich im 5. Kapitel ausführen werde, mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich geringer, da die meisten Umfragen konzeptionelle Mängel aufweisen. Realistischer dürfte eine Zahl von um die zehn Prozent der Bevölkerung sein. Das war vor der Pandemie so und hat sich seitdem nicht geändert. Verschwörungstheorien sind in der Pandemie sichtbarer geworden. Und ihre Anhänger*innen dominieren die Kommentarspalten, weil die konspirationistischen Überzeugungen für ihr Selbstbild von größter Bedeutung sind und sie diese daher viel eher nach außen tragen als Menschen, die nicht an Verschwörungstheorien glauben, ihre Ansichten.
Wenn aber nur eine, wenn auch lautstarke Minderheit in Deutschland an Verschwörungstheorien glaubt, kann man nicht davon sprechen, die Gesellschaft sei im Hinblick auf das Thema gespalten. Die Befürchtung, dass es zu solch einer Spaltung kommen könnte, war der Schlusspunkt meines Buchs von 2018. Damals schrieb ich:
Insofern ist die derzeitige Diskussion - Verschwörungspanik in manchen Teilöffentlichkeiten, Verschwörungstheoriepanik in anderen - ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften. Denn wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern.1
13Diese Sätze erfassen akkurat, was seit einigen Jahren in den USA geschieht. In Bezug auf Deutschland würde ich diese Passage heute aber nicht mehr so schreiben. Anders als in den Vereinigten Staaten gibt es hierzulande keine Spaltung in etwa gleich große Lager oder Öffentlichkeiten; wir haben es vielmehr mit der Abspaltung einer, wenn auch signifikanten, Minderheit zu tun, welche die Welt fundamental anders wahrnimmt als der Rest der Bevölkerung. Das ist alles andere als positiv, von einem »epistemischen Kollaps«, einer Situation, in der sich die Mehrheit der Menschen nicht einigen kann, was gesichertes Wissen ist und was nicht, sind wir jedoch (noch immer) weit entfernt.2
Die öffentliche Wahrnehmung ist insbesondere seit der Pandemie aber eine ganz andere. Viele Menschen denken, Verschwörungstheorien breiten sich immer weiter aus, der epistemische Kollaps habe also zumindest begonnen. In großen Teilen von Politik, Medien und Gesellschaft hat sich die Überzeugung...
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