Schweitzer Fachinformationen
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I
Doro entdeckte die Frau durch einen Zufall. Er wollte wissen, was von einem seiner Zuchtdörfer übrig geblieben war. Das Dorf war ein freundlicher, von einer Lehmmauer umgebener Ort inmitten einer weiten, mit Baumgruppen durchsetzten Ebene. Noch bevor Doro das Dorf erreichte, erkannte er, dass die Bewohner verschwunden waren. Die Sklavenhändler waren ihm zuvorgekommen. Mit ihren Gewehren und ihrer Habgier hatten sie in wenigen Stunden das Werk von tausend Jahren vernichtet. Die Dorfbewohner, die sie nicht verschleppt hatten, waren auf die grausamste Weise hingemetzelt worden. Doro fand menschliche Knochen, Haare und ausgedörrte Fleischfetzen, die die Aasfresser übrig gelassen hatten. Er stand vor einem winzigen Skelett - den Gebeinen eines Kindes - und fragte sich, wo man die Überlebenden der Katastrophe hingebracht haben mochte. In welches Land oder in welche Kolonie der Neuen Welt? Wie weit würde er reisen müssen, um die Reste dieses einst so gesunden und blühenden Stammes ausfindig zu machen?
Schließlich riss er sich los vom Anblick der zerstörten und verkohlten Behausungen. Zorn und Bitterkeit erfüllten sein Herz. Ihm war nicht bewusst, wohin er sich wandte, und es kümmerte ihn auch nicht. Seine Gedanken galten anderen Dingen als dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Es war eine Sache seines Stolzes, dass er sein Eigentum beschützte. Er war für die Menschen verantwortlich gewesen. Nicht so sehr für die Einzelnen wie für das Gemeinwesen als Ganzes. Sie gaben ihm ihre Treue, ihren Gehorsam, und er beschützte sie.
Er hatte versagt.
So, wie er gekommen war, machte er sich auf den Weg: allein, ohne Waffen, ohne Vorräte. Immer genau nach Südwesten. Er durchquerte die Savanne und später das große Waldgebiet. Er starb zahlreiche Tode durch Entbehrung und Krankheit, durch wilde Tiere und die Feindseligkeit der Menschen. Dies war ein raues Land. Dennoch behielt er unbeirrbar die Richtung nach Südwesten bei. Er entfernte sich dabei immer weiter von jenem Teil der Küste, an dem sein Schiff auf ihn wartete. Nach einer Weile stellte er fest, dass es nicht mehr der Zorn über den Verlust seines Zuchtdorfes war, der ihn vorwärtstrieb. Es war etwas Neues, ein Impuls, eine Art von innerem Sog, der sein Tun bestimmte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich diesem Zwang zu widersetzen, aber er unterließ es. Er ahnte, dass bald etwas geschehen würde. Etwas wartete auf ihn, wartete in unmittelbarer Nähe. Auf solche Ahnungen konnte er sich verlassen.
Seit vielen Hundert Jahren war er nicht mehr so weit nach Westen gekommen. Und aus diesem Grund konnte er sicher sein: Was und wen auch immer er finden mochte, es würde neu für ihn sein - neu und über alle Maßen bedeutsam. Ungeduldig beschleunigte er seine Schritte.
Die Ahnung wurde intensiver, deutlicher. Sie wandelte sich zu einer Art von Signal, das er normalerweise nur bei Menschen erwartete, die er kannte - Menschen wie die verschleppten Dorfbewohner, deren Fährte er folgte, damit man sie nicht zwang, ihr Blut mit fremdem zu vermischen und minderwertige Nachkommen zu zeugen. Doro hielt die Richtung nach Südwesten bei und näherte sich langsam seinem Ziel.
Anyanwus Ohren und Augen waren weit zuverlässiger als die anderer Menschen. Sie hatte ihre Sinne bewusst geschärft, nachdem sie zum ersten Mal von Männern bedroht worden war, die ihr plötzlich mit gezückten Macheten gegenüberstanden und über deren Absichten kein Zweifel bestand. Siebenmal hatte sie töten müssen an diesem grauenvollen Tag - sieben entsetzte Männer, die noch hätten leben können. Und um ein Haar wäre sie selbst umgekommen, nur weil es den anderen gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Nein, nie wieder durfte das geschehen!
In diesem Augenblick zum Beispiel war sie sich des einsamen Störenfrieds sehr genau bewusst, der ganz in ihrer Nähe durch die Büsche streifte. Er hielt sich vor ihr verborgen, bewegte sich lautlos wie Rauch. Dennoch hörte sie ihn, und ihre Ohren folgten jedem seiner Schritte.
Ohne sich etwas anmerken zu lassen, setzte sie ihren Gang durch den Garten fort. Solange sie den Standort des Störenfrieds kannte, hatte sie keine Furcht vor ihm. Vielleicht verließ ihn der Mut, und er schlich sich wieder davon. Sie war jetzt im rückwärtigen Teil des Gartens angelangt. Hohes Unkraut trennte sie von dem Eindringling. Das Unkraut wuchs in ihren Kürbisbeeten und zwischen ihren Heilpflanzen. Es waren fremdartige Pflanzen, die den Menschen ihres Volkes unbekannt waren. Nur sie allein pflanzte sie an, benutzte sie als Medizin gegen Krankheiten und Wunden, mit denen die Leute zu ihr kamen. Oft genug bedurfte es einer solchen Behandlung gar nicht, doch das behielt sie für sich. Die Leute glaubten an die heilende Kraft ihrer Kräuter, und deren Anwendung brachte ihnen Erleichterung bei Krankheit und Schmerzen. Sie liebten es, den Nachbarn von diesen Wunderkräutern zu erzählen, was Anyanwu ihnen ausdrücklich erlaubt hatte. Sie war eine Art Orakel. Eine Frau, durch die eine Gottheit sprach. Fremde zahlten hohe Preise für ihre Dienste. Die Einnahmen kamen ihrem Volk zugute, genauso wie ihr selbst. Und so sollte es sein. Ihre Leute mussten wissen, dass Anyanwus Gegenwart ihnen Nutzen brachte, dass sie aber auch allen Grund hatten, ihre Fähigkeiten zu fürchten. Auf diese Weise blieb der Abstand zwischen ihr und den anderen gewahrt. Sie war sicher vor ihnen, und das Volk war sicher vor ihr. Die meiste Zeit jedenfalls. Doch hin und wieder geschah es, dass der eine oder andere seine Furcht überwand und glaubte, ihrem langen Leben ein Ende setzen zu müssen.
Der Eindringling kam näher, ließ sich allerdings immer noch nicht sehen. Kein Mensch mit ehrlichen Absichten näherte sich einem derart verstohlen. Wer war dieser Mann? Ein Dieb? Ein Mörder? Jemand, der sie für den Tod eines Verwandten oder irgendein anderes Missgeschick verantwortlich machte? Während ihrer zahlreichen Jugendperioden hatte man ihr oft die Schuld für alle möglichen Arten von Ungemach und Unheil zugeschrieben. Um sie der Hexerei zu überführen, hatte man ihr sogar Gift gegeben.
Bereitwillig hatte sie diese Prüfungen über sich ergehen lassen, denn sie wusste, dass sie unschuldig war. Zumindest war sie sicher, dass kein gewöhnlicher Mensch mit seinen unzureichenden Kenntnissen über Gifte und fremdartige Pflanzen ihr gefährlich werden konnte. Sie wusste mehr über Gifte und hatte in ihrem langen Leben mehr davon eingenommen, als einer ihrer Leute es sich vorstellen konnte. Jedes Mal bestand sie diese Prüfungen, ohne Schaden davonzutragen, und ihre Widersacher sahen sich der Lächerlichkeit preisgegeben und standen als Lügner da. Immer dann, wenn Anyanwu das Alter einer Erwachsenen erreicht hatte, hörte man damit auf, sie zu beschuldigen. Aber der Gedanke, dass sie eine Hexe sein könne, saß in den Köpfen ihrer Leute fest. Immer wieder versuchte man, Beweise gegen sie in die Hände zu bekommen und sie zu töten ohne Rücksicht auf das Ergebnis der Prüfungen, denen man sie unterzog.
Der Eindringling schien sie schließlich lange genug beobachtet zu haben. Er trat auf den schmalen Pfad und zeigte sich ihr in aller Offenheit. Sie schaute auf, als bemerke sie ihn zum ersten Mal.
Er war ein Fremder, ein gut aussehender Mann, größer und breitschultriger als die meisten Männer, die sie kannte. Seine Haut besaß die gleiche dunkle Tönung wie die ihre. Sein Gesicht war schön, mit breiten, kräftig ausgeprägten Wangenknochen. Ein feines Lächeln spielte um den vollen Mund. Er ist jung - noch keine dreißig, dachte sie. Ganz gewiss zu jung, um irgendeine Bedrohung für sie darzustellen. Dennoch, etwas an ihm beunruhigte sie. Vielleicht die Tatsache, dass er ihr nach seiner heimlichen Annäherung so unversehens und offen gegenübertrat.
Wer war er?
Was wollte er von ihr?
Als er sich ihr auf Hörweite genähert hatte, sprach er zu ihr, und seine Worte ließen sie verwirrt die Stirn runzeln. Es waren fremdartige Worte, völlig unverständlich für sie und doch von einer seltsamen Vertrautheit, so als gehörten sie zu einer Sprache, die sie verlernt zu haben schien.
Ihre Haltung straffte sich in dem Bemühen, eine ungewohnte Nervosität vor ihm zu verbergen.
»Wer bist du?«, fragte sie.
Während sie sprach, hob er ein wenig den Kopf, zum Zeichen, dass er ihr zuhörte.
»Wie können wir uns verständigen?«, fragte sie. »Du musst von sehr weit her kommen, deine Aussprache ist so ungewöhnlich.«
»Von sehr weit«, sagte er in ihrer eigenen Sprache. Die einzelnen Worte kamen klar und deutlich, jedoch mit einem Dialekt, der sie an die Zeit ihrer frühesten Jugend erinnerte. Damals hatten die Leute eine solche Aussprache gehabt. Anyanwu hatte sie nie gemocht. Alles daran wirkte abstoßend auf sie.
»So kann ich dich verstehen«, erklärte sie. »Ich erinnere mich wieder. Es ist lange her, seit ich deine Sprache zum letzten Mal gesprochen habe.« Er kam näher und sah sie forschend an. Schließlich lächelte er und schüttelte den Kopf. »Du bist nicht nur eine alte Frau«, stellte er fest. »Vielleicht bist du auch überhaupt noch nicht alt.«
Überrascht wich sie einen Schritt zurück. Wieso wusste er über ihr Alter Bescheid? Ohne sie zu kennen! Ohne mehr von ihr zu wissen als das, was er sah, und das, was er gehört hatte! »Ich bin alt«, widersprach sie voller Zorn, hinter dem sich ihre Furcht verbarg. »Ich könnte die Mutter deiner Mutter sein.« Sie hätte noch weiter in die Vergangenheit gehen können, doch sie schwieg. »Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich könnte der Vater deiner Mutter sein!«, antwortete er.
Sie wich einen weiteren Schritt zurück, aber es gelang ihr, die wachsende...
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