Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein kämpferisches Buch in dunklen Zeiten, um wieder aus der Defensive zu kommen
Für den globalen Rechtsruck spielt der Kampf gegen »Gender« eine zentrale Rolle. Ob in der Hinterfragung geschlechtlicher Normen nun eine Gefährdung von Kindern, die Zerstörung der Familie oder ein Angriff auf die natürliche Ordnung gesehen wird - in nichts sind sich Rechtspopulisten, religiöse Frömmler und Anti-Trans-Feministinnen so einig, nichts sonst bringen sie solche Ablehnung entgegen.
Judith Butler hat unser Denken über Geschlecht revolutioniert und wurde zur globalen Ikone. Nun erklärt Butler, welche politische Funktion das Schreckgespenst »Gender« in der rechten Agenda besitzt. Dabei thematisiert Butler nicht nur, wie es ist, selbst zum Hassobjekt zu werden, sondern argumentiert zudem, dass queere Politik nur in einer breiten Koalition der Bewegungen gegen verschiedene Ungerechtigkeiten gelingen kann.
9
Wer hat Angst vor Gender? In gewisser Hinsicht wir alle. Wenn wir uns Gender als eine Reihe von Normen vorstellen, die Erwartungen darüber kommunizieren, wie wir in die Welt treten, welche körperliche Form wir annehmen und wie wir uns verhalten sollten, dann gibt es gute Gründe, sich Sorgen darüber zu machen, was passiert, wenn wir an dieser Aufgabe scheitern. Wer stellt die Regeln auf, und welche Freiheit haben wir, sie zu ändern? Gender, verstanden als normative Organisierung gesellschaftlicher Realität, wird kommuniziert als Ensemble von Anforderungen oder Erwartungen, welches zugleich vermittelt, dass es schmerzhafte Konsequenzen haben könnte, wenn diesen nicht gefolgt wird. Daher fürchten manche Gender vielleicht genauso wie jedes andere Ensemble von Normen und möglichen Bestrafungen. Gender hat jedoch etwas Intimes: Es sagt nicht nur, wie Körper organisiert sind, sondern auch, wie sie sich in Bezug auf andere Körper verhalten. Denn letztendlich ist es ja dieser einzigartige, materielle Körper, der sozial geformt ist und in Übereinstimmung mit, gegen oder jenseits geltender Normen handelt.
Andere wiederum, denen zweifellos bewusst ist, dass wir uns hier auf intimem Terrain befinden, wünschen sich eine festgefügte Struktur, die über die Zeiten hinweg stabil bleibt, eine Identität, die durch Naturgesetze oder symbolische Gesetze oder sogar den Staat festgeschrieben ist. Sie fürchten die Variabilität von Gender, und zwar nicht nur die unterschiedliche Art und Weise, wie sich Männer und Frauen heute verhalten, sondern die offensichtliche Tatsache, dass sich die Kategorien im Lauf der Zeit verändern; dass Personen, denen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, Männer werden können, und Personen, denen bei Geburt das männliche Geschlecht 10zugewiesen wurde, Frauen; dass intersexuelle Menschen die Anerkennung ihres verkörperten Lebens einfordern und manche Menschen ganz und gar außerhalb der binären Kategorien von Mann und Frau leben, in neuen Kategorien oder den Räumen dazwischen.
Diejenigen, die angesichts der Variabilität und der unterschiedlichen Ausprägungen von Gender verunsichert sind, zeigen sich besonders anfällig für politische Kräfte, die darauf beharren, »Gender« sei eine »Ideologie« und zusammen mit anderen Formen von »Wokismus« verantwortlich für die Zerstörung der Familie, der Zivilisation, der Menschheit oder nationaler Kulturen. Der politische Anti-Gender-Diskurs verstärkt die normalen Ängste, die Menschen in Bezug auf Gender haben. Und er verknüpft diese Ängste mit anderen Ängsten: Angst vor der Zukunft, dem Klimawandel, der zunehmenden Prekarisierung von Arbeit, der Konzentration von Reichtum bei einigen wenigen, nicht enden wollenden brutalen Kriegen, dem Einfluss von Migration und Vertreibung auf die Homogenität nationaler und lokaler Kulturen. Heute gibt es wirklich viele Gründe für Zukunftsangst, aber die Ursache für all die Umstände, die zur Sorge vor morgen geführt haben, ist nicht Gender.
Es wird behauptet, Gender sei eine Doktrin, ähnlich dem Totalitarismus, oder ein Sinnbild für die extremen Auswüchse des Kapitalismus. Es kursieren jede Menge widersprüchliche Vorwürfe, die in der Überzeugung gipfeln, Gender sei eine »Ideologie«, wobei unter diesem Begriff ein Paket falscher, dogmatischer Ansichten verstanden wird. Dabei sind die Gender Studies per definitionem eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich aus verschiedenen Bezugssystemen speist, geprägt von zahlreichen Debatten und Problematiken und nicht von doktrinären Behauptungen oder feststehenden Wahrheiten. Vielmehr sind ihre Seminarräume geradezu modellhafte Orte offener Debatten, und die, die dort miteinander diskutieren, haben ganz unterschiedliche Auffassungen über Methodik und Status der Theorie, den 11Bedarf für regionale Ethnografien und die Beziehung zwischen akademischer Welt und gesellschaftlichen Bewegungen. Eigentlich gibt es derart viele unterschiedliche Ansätze, dass die meisten Kurse, die sich der Vermittlung dieses Themas widmen, es kaum schaffen, all die vielfältigen Sichtweisen einzubinden, aus denen die Disziplin besteht. Auf diesem Punkt reite ich nur deshalb so stark herum, weil es Leute gibt, die »Gender« eben regelmäßig auf eine gefährliche Ideologie reduzieren und so die Komplexität und Vielfalt dieses Rahmenwerks und seiner zahlreichen konzeptionellen Beiträge zum Nachdenken über Natur, Gesellschaft, Macht und Verkörperung auslöschen. Denjenigen, die glauben, von den Gender Studies inspirierte Pädagogik sei eine Form von Indoktrination, muss entschieden widersprochen werden: Gender ist keine Ideologie und auch keine Form von Indoktrination. Tatsächlich ist die Kritik von Gender innerhalb der Gender Studies sehr produktiv. Wenn überhaupt, dann ist es ein Rahmenwerk, das es uns unter anderem gestattet zu fragen, wie die soziale Welt organisiert ist, durch welche Ausschließungen und mit welchem Potenzial. Die Debatten über solche Fragen sind ergebnisoffen. Allen, die von dieser Wissenschaftsdisziplin gelernt haben, gilt diese Offenheit als vielversprechender Wert, der zu bekräftigen ist. Für andere hingegen sollten gesellschaftliche Strukturen unverändert bleiben und auf präsozialen Unterschieden beruhen, die jenseits interpretativer Rahmenwerke oder sozialer Bedeutungen gewusst werden können.
Wer Bücher über Gender zensieren oder die Gender Studies abschaffen will, erlegt Forschung und Lehre selbst eine Doktrin auf. Abgesehen davon ist es ein Menetekel für die Demokratie, wenn die öffentliche Debatte abgewürgt und die ergebnisoffene Untersuchung an Universitäten und Hochschulen beendet wird. Dennoch fordert die Anti-Gender-Bewegung genau das. Sie führt eine von Falschbehauptungen und Zensur geprägte Kampagne, die repressive staatliche Kräfte stärkt. Dieses Buch ist der Versuch zu verstehen, wie sich die verschärfte Opposi12tion gegen Gender in den Aufstieg autoritärer Regime einpasst, die sich ihre Unterstützung holen, indem sie von einer Wiederherstellung patriarchaler, heteronormativ geprägter Ordnungen fantasieren.
Je häufiger über »Gender-Ideologie« diskutiert wird, als beschriebe der Begriff etwas Reales, desto stärker wird diese Fiktion zum Bestandteil eines weithin aufkommenden kulturellen Verständnisses, das von manchen als Backlash bezeichnet wird. Der komplexe Charakter von Feminismus, Sexualität und Gender Studies als Forschungsgebieten und ihr Potenzial, die Verkörperung des Menschlichen in ihrer Komplexität zu beschreiben und zu verstehen, wird ersetzt durch eine Karikatur. Doch dies ist nur eins der Probleme, denen wir uns stellen müssen. Bestünde die Aufgabe lediglich darin, mit der immer stärker um sich greifenden Falschcharakterisierung einer Disziplin aufzuräumen, könnten wir einfach die verschiedenen Ansätze in Lehre und Forschung darlegen und anhand der zur Verfügung stehenden Belege zeigen, warum die Karikatur das Studienfeld, seine institutionellen Formen und seine Auswirkungen auf die Gesellschaftspolitik vollkommen verfehlt. Das Zerrbild »Gender-Ideologie« wird gezielt eingesetzt, um Angst zu erzeugen, und »Gender« als die Ursache für Zukunftsängste hingestellt, um die Rückkehr in eine Zeit zu versprechen, in der Geschlechterbinarität und Geschlechterhierarchien als unabänderlich galten.
Gender beschreibt nicht nur Identitäten. Vielmehr bietet es den Rahmen, um eine wesentliche Form gesellschaftlicher Macht zu verstehen und wie diese Macht streng voneinander getrennte Sphären, soziale Ungleichheiten und Ausschlüsse etabliert. Zum wichtigen Begriff für Feminist:innen wurde Gender in den 1970er Jahren, weil er ihnen half, soziale Ungerechtigkeiten und das Fortbestehen männlicher Vorherrschaft zu beschreiben und zu kritisieren. Indem sie Fragen zur geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und dem »Gendering« des öffentlichen Raums stellten, trugen sie dazu bei, staatliche Maßnahmen zu 13formulieren und zu institutionalisieren, die sich gegen Diskriminierung richten, Gleichbehandlung vor dem Gesetz etablieren, genderbasierte Gewalt offenlegen, spezielle Anforderungen an das Gesundheitswesen skizzieren und Wege aufzeigen, wie die Gesellschaft so transformiert werden kann, dass sie mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit bietet - die Grundprinzipien der Demokratie. Gendergerechte Rahmenwerke haben sich in Umweltpolitik, Migrationsforschung und Antigewaltstrategien als produktiv...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.