Schweitzer Fachinformationen
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Geschichte
Was du noch nicht weißt
Rob wirkte nicht wie ein Akademiker. Er sah vielmehr aus wie ein junger Mr Rochester, schön genug, dass Bertha ihr Leben für ihn hinter sich lassen würde. Als wir uns das erste Mal begegneten, rief Archie sein »Love-DEEE!« so laut durch den Laden, dass ich es bis ins Hinterzimmer gehört hätte. Tatsächlich stand ich aber nur zwei Meter neben ihm und versuchte, so etwas wie Ordnung in die Abteilung mit den historischen Romanen zu bringen. Dabei fühle ich mich immer wie Dorothea in Middlemarch, allerdings ohne den göttlichen Auftrag. Wann immer du denkst, dass du den dicken, abgegriffenen Bänden Herr geworden bist, kommt eine neue Kiste herein, mit Fischernetzen und schmuddeligen Straßenkindern auf den Umschlägen. Archie lehnt sie nie ab, weil er es über alles genießt, wenn ihm Heldenepen liebende alte Damen schöne Augen machen.
»Ich bin hier«, sagte ich. »Kein Grund zu brüllen.« Sie lachten beide, als sie mich entdeckten, wie ich am Boden kniend hinter dem Regal hervorsah. Robs Lachen klang eher wie das Kichern einer Elfe, und ich musste auch lachen, weil es ein Geräusch war, das man von einem erwachsenen Mann nicht erwartete. Noch dazu von einem, der so aussah wie Rob. Das Kichern passte nicht zu seinem stoppeligen Kinn. Es war nicht etwa so, dass ich ihn toll fand oder dergleichen, aber ohne Frage hatte er etwas Besonderes an sich. Vielleicht waren es die strahlend braunen Augen.
Ich war zweiundzwanzig und arbeitete seit vier Jahren Vollzeit bei Brodie's Books. Es war Anfang September. In der Stadt war es noch heiß und voll, der Laden aber war ein dunkler, kühler Zufluchtsort. Ich vermute, ich begann mich das erste Mal seit langem aufgehoben zu fühlen. Vielleicht wurde ich deswegen unachtsam.
Ich hatte meine Wohnung renoviert. Der Vermieter hatte angeboten, es auf seine Kosten machen zu lassen, doch ich habe nur das Geld für das Material angenommen und selbst renoviert, weil ich keine Fremden in der Wohnung haben wollte. Außer mir hatte nur Archie den Fuß über die Schwelle gesetzt, und anders wollte ich es nicht. Auch wenn die Wohnung nicht außergewöhnlich war. Es war ein quadratischer Raum, in dem eine Ecke von einem winzigen Badezimmer eingenommen wurde, der Rest war offen, mit einer Küchenzeile und einer Schlafcoach, bei der ich mir nachts nicht immer die Mühe machte, sie auszuziehen. Die Wohnung war voller Bücher (und ist jetzt noch voller), manche davon auf einem alten Bücherregal, das Archie mir geschenkt hatte, die meisten aber stapelten sich einfach an der Wand. Das mag chaotisch erscheinen, aber ich weiß genau, wo alles ist. Ich besitze eine richtig gute Leselampe und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, die ich kaum benutze; immerhin steht eine Pflanze auf dem Tisch, ein Ficus benjamini. Ich habe ihn beim Einzug in einem Anfall von Sentimentalität gekauft, weil meine Mutter ihn mochte, und ich war zuversichtlich, dass er innerhalb von wenigen Wochen sterben würde, aber nein, er hält sich wacker.
In den zwei Wochen bevor Rob zum ersten Mal auftauchte, hatte ich abgeschliffen und gestrichen. Die Wände waren nun blaugrün wie vom Meer ausgewaschenes Flaschenglas, die Holzbalken strahlend weiß.
In der Wohnung lebte ich, seit ich den Vollzeitjob hatte. Nach meinem Schulabschluss hatte ich mich aus der Jugendamtsbetreuung herausgewunden, obwohl sie versuchen, möglichst bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr dranzubleiben. Doch ich für meinen Teil war damit durch. Ich war erwachsen. Archie behauptete, er hätte mich in den drei Jahren zuvor, in denen ich stundenweise bei ihm gejobbt hatte, unterbezahlt, und gab mir eine Einmalzahlung. Ich nahm ihm das nicht ganz ab, doch ich war seit meinem zehnten Lebensjahr arm und durfte nicht wählerisch sein; als ich die Wohnung fand, konnte ich die Kaution und die erste Monatsmiete davon bezahlen. Ich hatte fast meinen ganzen Verdienst und das Taschengeld gespart, das Annabel mir immer so gewissenhaft gegeben hatte. Von den Behörden bekam ich außerdem zweitausendfünfhundert Pfund. Und so kaufte ich mir eine Schlafcouch, Handtücher, Töpfe, einen Fernseher, einen gebrauchten Staubsauger und ein Fahrrad aus dem Wohlfahrtsladen und hatte danach immer noch Geld auf der Bank.
Ich war glücklich in meiner Wohnung, und die Arbeit in der Buchhandlung war vermutlich mein Traumjob - nun, da die anderen Träume erkannten, dass sie umsonst herumgelungert hatten, und sich jemanden anderen suchten, den sie behelligen konnten. Rob hatte einen guten Zeitpunkt erwischt, um in mein Leben zu treten. Ich war bereit für etwas Neues.
Ich stellte mich hin. »Hi«, sagte ich.
»Mein Name ist Rob«, sagte er. »Ich habe deinen Namen nicht verstanden.«
»Loveday«, erwiderte ich und wollte zu einer Erklärung ansetzen.
»Ah, ein schöner kornischer Name.«
»Ja.« Das war mal etwas, dachte ich. Normalerweise ernte ich fragende Blicke oder einen Witz darüber, dass meine Eltern Hippies gewesen sein müssen, was der Wahrheit so fernliegt, dass es lustig wäre, wenn es nicht so wenig lustig wäre. Immerhin taugt ein ungewöhnlicher Name dazu, die Leute davon abzuhalten, Fragen zu stellen. »Wie kann ich helfen?«
Rob lächelte entschuldigend, um zu verstehen zu geben, dass sein Anliegen ein wenig Zeit in Anspruch nehmen würde. »Ich fange gerade mit meiner Doktorarbeit an«, erklärte er. »Die wissenschaftliche Literatur habe ich mehr oder weniger zusammen, die Unibibliotheken sind gut, von dem ein oder anderen Buch hätte ich aber ganz gern ein eigenes Exemplar. Und dann brauche ich ein paar Bücher, sie sind eher .«
Ich dachte, er wollte taktvoll sein. »Mainstream?«, fragte ich.
Er lachte, wieder war es dieses komische Kichern. »Schön wär's«, antwortete er. »Ich würde sagen Nischenliteratur.«
Die meisten Leute benutzen das Wort »Nischenliteratur«, wenn sie nach Erotika fragen wollen, und ich malte mir bereits aus, wie ich mich monatelang damit abmühen würde, viktorianische Pornographie aufzustöbern. Ich glaube, er hörte mein Seufzen.
»Ich schreibe über das Ingenieurswesen in der Renaissance«, sagte er.
»Oh, aha«, meinte ich. Es lag mir auf der Zunge zu sagen: »Gibt es das überhaupt?«, dann aber dachte ich, dass Rob das vermutlich genauso oft hörte wie ich den Witz über meine Hippie-Eltern, also ließ ich es bleiben. Stattdessen sagte ich: »Interessant.«
»Ja, das ist es.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Die Mathematik ist faszinierend, und auch die politischen Umstände. Sie sind .« Er unterbrach sich. »Entschuldigung.«
»Nein, nein«, erwiderte ich. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wissen Sie, wonach Sie suchen?«
»Ich habe eine Liste dabei«, sagte er und reichte mir ein Blatt in einer Klarsichthülle. »Ich habe Sie im Internet gefunden und dachte, es könnte nicht schaden vorbeizukommen, zumal ich nicht so weit weg wohne.«
»Klar«, meinte ich. »Können Sie mir das für ein paar Tage dalassen? Ich müsste mich dafür durch das Lager oben wühlen.«
Zwei Jahre zuvor hatten wir einige Kisten eines Da-Vinci-Liebhabers hereinbekommen. Die großen Hochglanzbücher über das »Genie Leonardo« gingen schnell weg. Wir hauen Bildbände für einen Fünfer raus, weil sie gebraucht allenfalls als Spontankauf funktionieren. Inhaltlich bieten sie zu wenig für Leute, die sich ernsthaft interessieren, und die meisten verschenken nichts Antiquarisches, verjubeln aber vielleicht ein paar Scheinchen für einen Prachtband. Es ist verrückt. Für das Geld könnte man das Gesamtwerk von Rupert Brooke bekommen. Ich würde dem Hochglanzpapier und den großen Fotos jederzeit einen Gedichtband vorziehen.
Vermutlich stünden die Chancen nicht schlecht, dass die anderen Bücher, die in der Renaissance-Kiste waren, noch irgendwo herumstanden.
»Danke«, sagte Rob und berührte mich am Ellbogen. »Das ist sehr nett.«
Ich mag es nicht, wenn mich jemand ohne Aufforderung berührt. Ich nickte. Er war schon auf dem Weg nach draußen, als mir die naheliegende Frage in den Sinn kam. Ich holte ihn auf der Straße vor dem Café ein.
»Entschuldigung, kannst du mir ein bisschen mehr über dein Forschungsthema erzählen? Du hast von Ingenieurswesen in der Renaissance gesprochen, aber vermutlich gibt es da eine ganze Reihe von Dingen, die drum herum eine Rolle spielen, wenn du also .«
Er lächelte, wandte sich mir zu und blinzelte in die frühherbstliche Sonne. »Es geht um den Zusammenhang zwischen Brunelleschi, der die Kuppel für den Dom in Florenz entwarf, und Leonardo da Vinci. Von Brunelleschi hat sich keine einzige Aufzeichnung erhalten, und die Geschichtsschreibung hat ihn quasi ausgeblendet. Ich beschäftige mich mit seinem Einfluss. Da Vinci wird immer als ein für sich allein existierendes Genie betrachtet, als eine Art Gott. Ich glaube, er war in mancher Hinsicht eine Elster und hat sich das funkelnde Zeug von anderen geklaut.« Während er redete, formten seine Hände in der Luft zwischen uns Kirchtürme, Gebete, Bücher, und im Verlauf seiner Erklärungen sah er mal mich an und dann nach oben und dann wieder mich. Er hatte braunes Haar, in der gleichen Farbe wie der dunkelste Teil seiner Augen.
»Dann ist es ein bisschen so wie mit den Dichtern der Beat Generation, ohne die es Bob Dylan nicht gegeben hätte«, sagte ich. Auch wenn wir ganz gut ohne Bob Dylan auskämen.
»Ganz genau.« Rob lächelte wieder. »Sehr sympathisch.«
Blöd, wie ich war, gefiel es mir, dass er mich nett fand. Ich hätte es besser wissen müssen. Im Rückblick denke ich, dass er mich wahrscheinlich kaum über die Tatsache hinaus mochte, dass ich mich mit ihm über ihn selbst und über...
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