Schweitzer Fachinformationen
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An einem wolkenlosen Tag in der Karibik verschwindet das Propellerflugzeug mit der 32-jährigen Seismologin Nelly an Bord plötzlich vom Radar. Nach monatelanger Suche werden Trümmerteile in den Wäldern Nicaraguas gefunden. Doch von Nelly weiter keine Spur. Zu Hause in Frankfurt kann ihre Freundin ihr rätselhaftes Verschwinden nicht verwinden. Sie reist nach Managua, quartiert sich in Nellys altem Zimmer ein, liest ihre zurückgelassenen Aufzeichnungen und Tagebücher und spricht mit den Menschen, die mit ihr zu tun hatten, getrieben von einer seltsamen Obsession, die abzulenken scheint von einem Geheimnis in ihrem eigenen Leben. Ihre Suche nach Nelly nimmt mehr und mehr die Züge einer Flucht an.
Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen ist ein Roman über Fremdheit und Einsamkeit, über private und politische Gefährdungen, ein Roman über den Wunsch, zu verschwinden, und die Hoffnung, gesucht und geborgen zu werden, wenigstens in der Erinnerung, im Gespräch. Denn das Verschwinden setzt vielem ein Ende, nicht aber dem Erzählen.
Hunde, Hitze, auffliegende Papierfetzen. Die Uniformen der trommelnden Kinder, in ihren scharf gebügelten Hosen aufgestellt vor dem flachbedachten Schulgebäude auf den Rissen und Wülsten des aufgeplatzten Asphalts, in Reih und Glied vor der Lehrerin mit dem Dirigentenstab. Jeden Tag, wenn Nelly an der Schulmauer mit dem aufgesetzten, von Bromeliennestern bewachsenen Maschendrahtzaun vorbeispazierte, übten die Kinder ihre Märsche. Gegenüber der Kathedrale und dem abgesperrten Parque Rubén Darío mit den schreienden Vögeln, der zuckerfarbenen Rotunde, den bis zur Brust eingehegten Märtyrerdenkmälern am Rand. Statt mit zum Himmel gereckter Faust vorwärts zu marschieren, standen die Statuen der Helden abwartend da. Einer hielt den Arm erhoben zum Locken oder zum Gruß; der andere, kleiner, breitstirnig, stand erstaunt oder erschöpft mit hängenden Armen in der schwarzblättrigen Vegetation, umstrickt von den hakenden Ranken der Krallentrompeten.
Von einem Hund hatte Nelly mir geschrieben in einem ihrer letzten Briefe, einer Hündin, um genau zu sein, einem schmalen wüstenfarbenen Tier mit ausgewrungenen dunklen Zitzen, das ihr tagelang gefolgt war bei ihren Gängen durch die Stadt. Es drückte sich wartend in den verwachsenen Straßengräben herum, wenn Nelly das Haus verließ, und wenn es einmal nicht lauerte, tauchte es spätestens nach wenigen Blocks auf, hatte Witterung aufgenommen oder ein Gerücht gehört und folgte ihr. Dicht entlang an den Fassaden der niedrigen Häuser, wohin selbst mittags ein kurzgekappter Streifen Schatten fiel. Die Zitzen baumelten von ihrem fast kahlen Bauch im Trab, der Blick wich aus, aber zu verscheuchen war die Hündin nicht. Nicht mit heftigen Gebärden und nicht mit einem Stein. Seit Tagen, schrieb Nelly, folgte sie ihr, seit Nelly einem Kind auf der Straße ein Stück Gebäck abgekauft hatte, mehr aus Interesse an dem kleinen Mädchen als an seiner Ware. Ein trockenes klebriges Ding mit Hagelzucker, das sie nach wenigen Bissen loswerden wollte, heimlich in einen Graben fallen ließ, wo die Hündin es fand und mitsamt der Plastikfolie hinunterschlang. Selbst wenn einer kam und Nelly auf dem Motorrad mitnahm bis ans Meer, versuchte sie zu folgen, blieb erst weitab der Stadt beleidigt bellend stehen auf einem der stumpfen Hügel am Weg zum Strand.
Vor allem aber immer wieder: das Wetter. Man ließ sie nicht ins Feld, leere lange Nachmittage verbrachte sie im Haus. An den Vormittagen, bevor der Regen einsetzte, stromerte sie in dem dösenden Städtchen herum, bis die unter dem Kalkhimmel gestockte Schwüle Risse bekam, ein vom Meer kommender Wind in die nackten Straßen fuhr, alles rannte sich retten vor der im nächsten Moment niedergehenden Flut. Im Fernsehen sah sie zusammen mit ihrer Vermieterin Berichte über verlorene Fischkutter, Aufnahmen des erodierten Geländes an den Ufern der Laguna von Tipitapa an. Kleinbäuerinnen zeigten ihre verdorrten Grundstücke, kaum vierzig Kilometer entfernt von den zu Sturzbächen geschwollenen Abwasserrinnsalen vor ihrer eigenen Haustür, milchteebraunen Flüssen, die alles, was sich an ihren Rändern angesammelt hatte, talwärts schwemmten. Gerippe ausgesaugter Orangen, Maschinenteile, aufgeplatzte Basketbälle, die Plastiktüten in den Asthaken ausgerissenen Gestrüpps, auch Menschen waren schon ertrunken, die Fundamente ungünstig befestigter Häuser aus dem Boden gedrückt und weggespült worden. Unter den Dachvorsprüngen der stabileren Bauten hing die Wäsche für Tage, nahm, anstatt zu trocknen, den Geruch eines alten kranken Tiers an. Meteorologen mutmaßten, El Niño kündige sich an, eine Klimaanomalie, die alle zwei bis sieben Jahre die oberen Wasserschichten des Ostpazifiks, den kalten Humboldtstrom erwärmte, die Wettermuster auf drei Vierteln des Erdballs durcheinanderbrachte, aber das war es diesmal nicht. Die Regenfälle des tropischen Winters hatten zu früh eingesetzt und zu heftig, nichts weiter. Scherwinde strichen über den tropischen Atlantik und den Golf von Tehuantepec. Die Westküsten Amerikas wurden von Dürren, orkanartigen Stürmen, Überschwemmungen heimgesucht. Am Isthmus von Zentralamerika, im Süden Nicaraguas, wo Nelly mit ihrer Forschungsgruppe wochenlang festsaß, geschah alles nebeneinander.
Seit Jahren hatte Nellys Arbeit sie in die gottverlassensten Gegenden geführt, früher hatte sie die Sehnsucht und Langeweile mit ihren Kollegen vertrieben, gewürfelt, gewettet und Karten gespielt. Wenn überhaupt etwas, hatte sie von ihren Reisen Bilder geschickt. Wahllos und fahrig zusammengestellte Aufnahmen von Kraterseen, Pferdekarren, Stadtansichten, von Hotelfenstern aus fotografiert, aus den Geländewagen heraus, in denen man sie und ihre Kollegen ins Feld fuhr. Mit einer Ortsbezeichnung versehen stellte sie die Fotografien ins Netz, verschickte sie an lange offene Listen, mit gutgelaunten Grüßen und Bildunterschriften. Ich las sie in dem Büro, das ich damals mit zwei anderen Doktoranden teilte, im zwanzigsten Stock eines Punkthochhauses aus Stahlbeton, ein dünnwandiger Inkubator nah an der Sonne. Wir saßen mit den Rücken zueinander, in den Ohren schwitzendes Wachs. Ich betrachtete Nellys Bilder und zeigte sie herum. Mit einem Anflug schlechten Gewissens zeigte ich sie Boris, Felix, den Hilfskräften, der Sekretärin an unserem Institut. Palmen, Strände, Schluchten. Nelly. Vor Palmen, Stränden, Schluchten, inmitten einer barfüßigen Kinderschar. Arm in Arm mit einem Mann, beide ganz in Weiß, mit Sonnenbrille und Schirmmütze, auf dem Dach eines aus einer Dunstglocke herausragenden Hotels. An Bord eines Motorboots, das durch das blaue strudelnde Meer pflügte. Vor auffliegenden Pelikanen an einem von Wind und Salz gepeitschten Strand. Auf dem Rücksitz einer mit dem Logo und dem Slogan eines spanischen Mobilfunkanbieters bemalten Pferdekutsche. Das glattgescheuerte Fell der Kutschpferde, ihre Rippen unter den Strängen und Riemen des Geschirrs, die mit Kandare und Scheuklappen maskierten Gesichter, Schaum am Gebiss. Nelly und neben ihr ein Mann, der lächelte wie Belmondo in Der Teufel mit der weißen Weste, betrübt und spöttisch zugleich bei der Frage: Und wovor hast du Angst? Dass was nicht klappt, oder vor dem Leben mit mir? Die Pferde standen mit angelegten Ohren auf dem glühenden Asphalt.
Kurz vor dem Ende ihrer Nicaragua-Expedition fing sie an mit dem Verschicken von Pamphleten, Aufrufen und Manifesten, Informationen über Protestbewegungen, Essays zur Theologie der Befreiung, manchmal auch bloß einem esoterischen Spruch. Später erfuhr ich von einer ihrer ehemaligen Assistentinnen, dass sie nach kurzer Zeit aus dem Mitarbeiterverteiler entfernt worden war. Auch ich war bald genervt, wenn ich morgens drei oder mehr Nachrichten von ihr in meinem Posteingang fand. Ich konnte keine Empörung aufbringen damals, ich wollte mich nicht interessieren müssen. Bilder von Straßenblockaden, lose stehenden Protestgruppen gegenüber behelmten Polizisten hinter spiegelnden Plexiglasschildern. Demonstrierende mit ausladenden Sonnenschirmen über dem schön gekämmten Haar. Das Vaterland verkauft man nicht, las ich auf ihren Spruchbändern, vor brennenden Blockaden sah ich einen hinstürzenden Menschen, las dazu Nellys Äußerungen hellster Aufregung, als wäre so was noch nie geschehen. Sie hatte sich so was bislang einfach noch nicht angeschaut. Sie interessierte sich für die Ursache der Erscheinungen und ihre gegenseitige Verknüpfung. Die Zusammensetzung der Erdkruste, Vorgänge an der Plattengrenze, den Austausch von Fluiden in der Subduktionszone im Pazifik vor der Küste Mittelamerikas. Ihr letztes Projekt: die Suche nach Wasseradern im Innern der Krustenplatte, Beschaffung der Daten für ein möglichst genaues Abbild des Erdmagnetfelds in einem winzigen gewählten Ausschnitt. Ob sie damit jemandem half und wem, ob sie sich überhaupt fürs Helfen interessierte, wusste ich nicht, ich glaube nicht, dass sie sich über ihre Motive viele Gedanken gemacht hatte, sie wäre kaum dazu gekommen.
Fast alles, was ich über sie und ihre Arbeit weiß, habe ich mir anlesen oder von anderen erzählen lassen müssen. Untersuchungen an den Rockschößen der Vulkane, in schwammfeuchten Nebelwäldern, am Grund der Tiefsee: So aufregend ist es nicht, wie es klingt, sagte sie, warum eigentlich willst du das so genau wissen? - Weil ich es mir vorstellen will. Sie zuckte mit den Schultern. Ich sah, wie unangenehm ihr das war.
Immer war sie, wenn sie über sich und ihre Arbeit sprach, um einen möglichst wurstigen Ton bemüht. Als wäre Ehrgeiz eine zu kaschierende Problemzone, als wäre ihre Forschung etwas, das sie neben allem möglichen anderen zufällig eben auch noch machte. Anders als in den Filmaufnahmen ihrer Vorträge, die ich mir nach ihrem Verschwinden angesehen habe, viele von ihnen mehrmals. In diesen Aufnahmen legt sie eine manische Begeisterung für ihren Gegenstand an den Tag. Sie steht im Licht eines Videoprojektors, der eine Karte mit den Anomalien der Erdkruste an die Leinwand wirft, bunt wie auf den Schnittbildern der Neurowissenschaftler: die glühenden Adern der Plattenbrüche, die Wundherde der Hotspots, ausblutend in gelbe Höfe, abkühlende Farben in passiven Zonen, Azur, Preußischblau, Kobalt, Indigo, wo es ruhig ist. Sie steckt im bleistiftfarbenen Hosenanzug, wohl in der Hoffnung, darin erwachsener zu wirken, und zeigt eine Folie nach der anderen, es ist zu sehen, wie sie sich zusammennimmt, sich nicht dauernd mit der Hand ins Gesicht zu fassen, nicht alles, was sie je gelernt und herausgefunden hat, unterbringen zu wollen in einem einzigen ohne Punkt und Komma heruntergeratterten Satz. Sympathisch, freundlich, sachlich zu bleiben auch auf ablenkende, schon häufig gestellte, man muss leider sagen dumme...
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