Schweitzer Fachinformationen
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Auf eigene Faust auszunüchtern, schaffen die wenigsten. Wer mit dem Trinken aufhören will, sollte Anschluss an eine Gruppe suchen. Die suchtkranke Ruth kennt solche Lehren, glaubt aber nicht daran. Allein kommt sie am besten zurecht. Als sie nach einem schweren Sturz im Krankenhaus aufwacht, braucht sie jedoch Unterstützung und wendet sich an eine Mitpatientin, Katja. Der passiert das ständig, Leute bitten sie um einen Gefallen, eine Unterschrift, etwas Kleingeld. Helfen gibt ihr ein gutes Gefühl, auch wenn sie weiß, dass sie sich später nur schwer abgrenzen kann. Sie merkt bald, Ruth zu mögen ist nicht leicht. Und es gibt noch andere, die sich darum bemühen - Max, der sie mit seinem linken Kollektiv beim Kampf gegen die neue Vermieterin unterstützen wollte. Katja kennt ihn nur aus Erzählungen und empfindet Eifersucht. Was ist das für einer, der angeblich nie die Geduld verliert, keine feste Widerstandsfläche bietet?
Nina Bußmann erzählt von drei Menschen in der Großstadt, die um Kontrolle kämpfen, sie aber längst verloren haben. In prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse verstrickt, taumeln sie zwischen Abhängigkeiten und Freundschaften, Therapieversprechen und spirituellen Verlockungen. Ohne Rausch kommt kaum einer aus. Und dennoch suchen sie alle nach Klarheit.
»In Nina Bußmanns Büchern ist es die Genauigkeit der Beschreibung, die die Unschärfen des Lebens erkennbar macht.« Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung
In der Kristallographie beschreibt man als Störung eine Unregelmäßigkeit in der Gesamtstruktur, Verwerfungen, die unter normalen Bedingungen unbemerkt bleiben. Man darf sie sich vorstellen wie die kleinen unsichtbaren Risse in einer angeknacksten Eierschale. Die Spannung baut sich allmählich auf. Wenn der Druck zu stark geworden ist, kommt es zum Bruch. Die aus der Grundstörung des Menschen stammende Energie hat, obwohl sie hochgradig dynamisch ist, weder Trieb- noch Konfliktform. Es ist nicht etwas Aufgestautes, für das man eine Abfuhr suchen muss, sondern eher eine Not, die entweder aktuell besteht oder schon fast das ganze Leben hindurch bestanden hat.
Ich selbst bin in meinem Leben noch niemals richtig zornig gewesen. Dass ich Lust bekam, alles kurz und klein zu schlagen, dass ich gar nicht mehr anders konnte: Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Mein Bruder war derjenige von uns beiden, der Tobsuchtsanfälle bekam und manchmal noch immer bekommt. Inzwischen hat er gelernt, damit umzugehen. Wenn er spürt, dass es anfängt (eine starke körperliche Empfindung, stelle ich mir vor, wahrscheinlich rast sein Herz, und in seinen Ohren rauscht es), steht er vom Tisch auf, stellt sich ans Fenster, schaut hinaus und atmet in seinen Bauch hinein. Ich war noch nie dabei, aber ich kann mir denken, wie das aussieht: Er muss an sich halten, und seine Mitarbeiterinnen beziehungsweise seine Familie müssen warten, aber in der Regel geschieht nichts.
Was ich kenne, ist, dass ich die Geduld verliere, wenn zum Beispiel im Supermarkt am Rückgabeautomaten für Leergut schon eine Schlange steht und dann auf dem Bildschirm neben dem Schlund für die Flascheneingabe eine Anzeige erscheint: »Störung« oder: »Hintergrund voll«, und dazu ein ganz aufgeregter Signalton. In solchen Momenten merke ich, wie etwas hochkommt in mir. Ich bin dann nicht wütend auf diese Röhre, die Stockungen am Fließband, auf die Anordnung der Waren in den laufenden Regalen, nicht auf das Display oder die Musik aus den unsichtbaren Lautsprechern, falls überhaupt Musik gespielt wird. Ich bin wütend auf diesen Menschen in der Schlange vor mir, die Tragetaschen voller Bier- und Limoflaschen, die er oder sie aus dem Gebüsch im Park und aus öffentlichen Mülltonnen zusammengesucht oder vielleicht auch zu Hause angesammelt hat, möglich ist beides, ich weiß auch nicht, warum ich nicht auf die Verhältnisse wütend bin, sondern auf diese Person vor mir, von der ich nicht mal das Gesicht sehen kann, nur die Haltung. Warum ich mich derart zusammenreißen muss, bis endlich alles wieder seinen Gang geht, die PET-Flaschen von der Maschine zu Ballen verpresst werden und ich bald an der Reihe bin.
Im Alten Testament ist die Rede von Saul, der von einem Dämon befallen und von diesem zu Zornesausbrüchen veranlasst wird. Manche benutzen den Ausdruck »böser Gottesgeist«, andere reden von kleinen Teufeln. Zwischenwesen aus einer Region, die nicht zur Welt des Geistes und nicht zu der des Fleisches gehört. Das Problem im Umgang mit ihnen ist ihre Flüchtigkeit. Sie scheinen keine Ziele zu verfolgen und können sich leicht verwandeln. Immer wieder gelingt es ihnen, den Körper eines Menschen in Besitz zu bekommen und seine Handlungen zu lenken. Strittig ist, wie ihnen das gelingt. Zuerst muss die Seele die betreffende Person verlassen, dem Halbwesen Platz gemacht haben. Aber warum sollte sie das tun? Und wie lässt es sich beweisen?
Störungen der Impulskontrolle sind noch wenig erforscht. Nicht immer bemerkt man ihr Auftreten, oft geschieht es so leise, dass die Betroffenen es selbst gar nicht mitbekommen, bis sie die Haut an ihren Fingern so lange bearbeitet haben, dass Wunden entstehen. Andere reißen oder zupfen sich das Haar aus, am Kopf und seltener an anderen Körperstellen. Sie berichten, keinen Schmerz zu spüren, stattdessen Erleichterung und Befriedigung, manche sprechen von Trance.
In unserem Dorf gerieten die Leute regelmäßig außer sich. Es wurde als gesund betrachtet, etwas, das zum Leben dazugehört, dass jemand auch mal mit schweren Gegenständen wirft und laut wird. Das ist die Wahrheit, hieß es, die dann aus so jemandem herauskommt. Heraus: Normalerweise also sitzt sie in unserem Innern fest und hält still, damit wir im Alltag gut zurechtkommen. Später lernte ich, dass das Gehirn des Menschen in drei Bereiche unterteilt werden kann. Ein Reptilgehirn für die Instinkte, ein Säugetiergehirn für die Gefühle und ein Großhirn, das alles unter Kontrolle behält, oft aber auch für Verwirrung sorgt, weil es Gedanken produziert, die unsere Instinkte in Frage stellen.
Wenn ich meinen Bekannten in der Stadt davon erzähle, wollen sie wissen, ob in unserer Gegend viel getrunken wird, ob es viele Arbeitslose gibt. Ohne je dort gewesen zu sein, wissen sie, dass vor allem die an solchen Orten verbliebenen jungen Männer sich und ihre Langeweile nicht im Griff haben, einen Schuldigen wofür auch immer suchen und deshalb mit ihren Autos gegen Bäume rasen, Wohnhäuser in Brand setzen, zertrümmern, was sie finden können, Jagd machen auf alle, die ihnen in die Quere kommen.
Die Mutter meiner Freundin hatte immer etwas Porzellan bereitliegen, um es zerschmeißen zu können, wenn sie den Drang verspürte. Sie suchte mit Bedacht die hässlicheren oder billigeren Stücke aus. Sie wollte etwas haben, womit sie um sich werfen konnte, ohne es später bereuen zu müssen. Wenn alles vorbei war, kehrte sie die Scherben auf und saugte die ganze Wohnung durch, vor allem die dunklen Teppichböden. Wenn man gerade dann vorbeilief, lachte sie ein bisschen hektisch und rief: Entschuldigung, ihr sei beim Ausräumen etwas aus der Hand gerutscht. Sie fuhr mit dem Staubsauger in alle Ecken, sie wollte nicht, dass Kinder oder Katzen sich an den bis zur Unsichtbarkeit winzigen Splittern verletzten. Im Biologieunterricht lernten wir, dass die Heftigkeit der Gefühle unter anderem chemischen Ursprungs ist und von körpereigenen Drüsen reguliert wird.
Gesehen habe ich diese Ausbrüche nie. Nur das bereitgelegte Geschirr in einem Kartondeckel auf dem Boden, wie etwas, das man aussortiert hat. Heute frage ich mich, warum diese Stapel aus Untertassen und Tellern nie verschwanden, nicht einmal weniger schienen sie zu werden, immer war etwas zum Aussortieren und Zerschmeißen verfügbar. Damals war ich natürlich noch nicht ganz raus aus dem Alter, in dem man die Handlungen der Eltern vielleicht merkwürdig findet, aber hinnimmt wie einen fremdartigen Brauch. Vor allem hatten wir genug anderes im Kopf. Ich war immer froh, wenn ich auf diesem dunklen Flur niemandem begegnete und wenn niemand uns in das Zimmer meiner Freundin folgte, ich war sogar froh, wenn wir es aus dem anderen Zimmer scheppern hörten. Solange hatten wir jedenfalls unsere Ruhe. Heute frage ich mich, wie gesagt, woher all das Geschirr kam. Sie wird es mitgehen lassen haben in dem Hotel, in dem sie kellnerte. Aber dass das dort keinen kümmerte, kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Chef konnte ziemlich streng sein.
Manche halten an der Idee einer genetischen Veranlagung fest, andere meinen, es hat mit dem Klima meiner Heimat zu tun, es ist als Reizklima eingestuft. In kleinen Dosen soll es gesund sein. Wenn man es übertreibt, nicht. Unser Städtchen ist ein staatlich anerkanntes Seeheilbad. Hell getünchte Villen säumen den Strand. Man sagt von solchen Orten, sie hätten im Lauf des letzten Jahrhunderts viel an Glanz eingebüßt. In unserem Dorf gibt es noch immer einen Badearzt. Die Luftqualität und die Wasserqualität werden regelmäßig kontrolliert. Das ganze Jahr kommen die Leute wegen der Luft, die nach Ginster und Salz riecht und in alle Straßen der Stadt weht. Schon ein kurzer Spaziergang putzt die Atemwege, das Hautbild und sogar die Gedanken der Erkrankten. Ich bin seit Jahren nicht dorthin zurückgekehrt, aber das Bild der Promenade und des Meers mit den Gischthauben steht mir noch vor Augen, die Fassaden der Villen auf ihrer sandigen Erhebung. Auch den allmählichen Verfall der Villen versuche ich mitzudenken. Obwohl es wahrscheinlicher ist, dass man sie entweder abgerissen oder verkauft und frisch gestrichen hat, sehe ich das Weiß von ihren Fassaden blättern, das Holz aufweichen in der Meeresluft, ihre Fundamente scheinen in den Dünen zu versinken, und die Luft verdichtet sich zu Nebel, einer kompakten Trübnis.
Ich will nicht wissen, ob sie wirklich völlig betrunken war an dem einen besagten ...
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