Schweitzer Fachinformationen
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Sie ist Autorin, Mitte vierzig, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, und obwohl ihre Beziehungsversuche meist scheitern, fühlt das Leben sich sehr behaglich an: Barcelona, der Sommer am Meer, die Körper, die Bars, eine beherzte Leichtigkeit. Bis ein Gespenst sie überfällt, eine jähe Erinnerung: an Gema, die allerbeste Kindheitsfreundin, die fünfzehnjährig unrettbar an Krebs erkrankte. Was wäre wohl aus ihr geworden? Wann hatten sie und Gema einander zuletzt gesehen? Und warum ist die Erinnerung an die verlorene Freundin so verblasst? Um dieser plötzlichen Erscheinung nachzuspüren, macht sie sich auf die Suche, geht Fotoalben durch und alte Schülerzeitungen, spricht mit den damaligen Freundinnen. Doch keine scheint sich zu erinnern. Keine außer ihr selbst - oder bildet sie sich das alles nur ein?
Meine verlorene Freundin handelt von der Vergangenheit, die wir vergessen haben und die uns immer wieder heimsucht. Milena Busquets erzählt leicht und lebhaft und tiefgründig, von Liebe und Abschied und von einer Freundschaft, die weit über ihr viel zu frühes Ende hinaus fortzudauern scheint.
Gema ist für mich immer der Name einer Toten gewesen. Oder nicht immer, aber seit gut dreißig Jahren, und das ist fast dasselbe. Sie starb mit fünfzehn. Zwei Jahre später starb mein Vater. Seinen Namen traf jedoch kein Fluch. Ich kann meinen Söhnen zuhören, wie sie ihre Väter mit Fragen löchern, ohne dabei an meinen zu denken, ohne Schmerz oder Sehnsucht, und wenn jemand seinen Namen - »Esteban« - sagt, dann denke ich nur: »Ach, wie Papa.« Wird mir dagegen eine Frau vorgestellt, die Gema heißt, und ich erkenne, wenn ich aufschaue, nicht die schönen dunklen Haare, den blassen Teint und den fragenden, spöttischen Blick meiner Freundin, dann denke ich: »Nein, du bist nicht Gema. Kein Stück.«
Was bedeutet Gema? Stein? Juwel? So wie Gemme? Das englische »Gem«? Niemand heißt in England Gem, aber ein paar Gemas gibt es dort, glaube ich.
Beide Tode fanden auf derselben Bühne statt, auf meinem alten Schulhof, auch wenn die zwei natürlich später im Krankenhaus starben.
Mama war extra in die Schule gekommen, um mir zu sagen, dass es schlecht um Papa stand, und flog dann im Anschluss übers Wochenende nach London. Mit Freunden. Sie ließ mich aus dem Unterricht holen und eröffnete mir auf dem leeren Hof, dass aus dem, was eine Routineoperation am Magen hätte sein sollen, ein Todesurteil geworden war. Auf die Idee, ihre Reise abzusagen, kam sie nicht. »Ich hätte nicht gedacht, dass dich das derart mitnimmt«, entschuldigte sie sich danach endlos über die Jahre.
Ich hatte diesen Schulhof nicht wieder betreten. Ein paarmal war ich daran vorbeigekommen, aber nicht oft, obwohl ich in der Nähe wohnte, er lag einfach nicht mehr auf einem meiner üblichen Wege. Wir haben alle drei, vier Strecken, die wir regelmäßig nehmen, in die Innenstadt, zur Schule, nach Cadaqués, zum Verlieben, wieder zurück. Würden wir sie mit Rotstift auf einer Karte einzeichnen wie die Adern auf manchen anatomischen Darstellungen, dann würden wir sehen, dass es kaum Abweichungen gibt, dass wir unser Leben in einer einzigen Hand verbringen, im Hin und Her zwischen Zeigefinger und Daumen und Daumen und Zeigefinger oder wieder und wieder den Oberschenkel hinauf und hinunter.
Dass meine Mutter verliebt war in den, der ihre letzte Liebe sein sollte, fand ich heraus, als sie mich eines Tages im Auto auf dem Heimweg vom Einkaufen bat, von unserer üblichen Route abzuweichen und eine andere Straße hinauf zu nehmen, weil jemand ihr gesagt habe, das gehe schneller.
»Komische Idee«, sagte ich, während ich tat wie geheißen. »Wir fahren doch immer hier lang. Das ist unser Weg.«
Und dann, zugleich mit dem aberwitzigen, grellen und treffenden Gedanken:
»Du bist doch nicht etwa verliebt?«
So fest und entschlossen, wie unsere Schritte sind, gibt es nicht viel, was sie ändert.
Der Schulhof war betoniert und umrahmt von ein paar nüchtern praktischen, etwas kastigen Gebäuden in Sandfarben. Wobei die Schule wahrscheinlich der Ort auf der Welt ist, an dem es am wenigsten stört, wenn er hässlich ist. Jugendliche interessieren sich bloß dafür, wie sie selbst aussehen (und ihre Eltern, solange sie deren Erscheinung als eine Erweiterung von sich ansehen), und ich habe noch nie gehört, dass sich ein Schüler beschwert hätte, weil der Unterricht in einem anmutlosen Kasten stattfindet. Uns wäre es egal gewesen, in einem Palast zu sein. Einziger Bewuchs waren ein paar niedrige, an strategischen Punkten verteilte Büsche, die verschiedene Bereiche abtrennten oder kennzeichneten - den Eingang zum Hauptgebäude, die Grenze zwischen oberem Hof und Sportplatz - und deren sattgrüne, glänzende Blätter wir in der Pause so geistesabwesend und gewissenhaft abzupften, wie wir Jahre später Zigaretten rauchten und zu den Jungs hinschielten, so dass um unsere Füße ein grünes, wenig umweltschonendes Mosaik entstand. Als die Schulleitung begriff, dass wir dabei waren, den Pausenhof zu entlauben, verfasste sie ein Rundschreiben mit dem Verbot, auch nur ein einziges Blatt auf dem Schulgelände abzureißen. Eine breite Steintreppe, möglicherweise ein Überrest des Landguts, das durch die Schule ersetzt worden war, führte zum unteren Hof, an dem die Mensa, der Leichtathletikplatz, die Turnhalle und die Duschen lagen. Dort, vor dem höchsten Baum der Schule, einer trockenen, pfeilgeraden Palme, die aussah, als wollte sie den Himmel hochdrücken, entstanden auch einmal im Jahr die Klassenfotos.
Wir bekamen immer ein paar Tage vorher Bescheid, damit wir uns etwas Ordentliches und Angemessenes zum Anziehen überlegen konnten, aber wir waren Jugendliche, fühlten uns folglich als die Schönsten und die Hässlichsten der Welt und scherten uns nicht darum. Wir waren alle angezogen wie immer.
Vielleicht bergen diese Fotos deshalb eine tiefe Wahrheit, zeichnet sich dort, von Nebel umhüllt wie in einer Kristallkugel, schemenhaft ab, wer wir sind und sein werden. Betrachtet man sie genau, ist alles bereits vorhanden: die Entschlossenheit, die Neugier, die Schüchternheit, die Freude, das Zutrauen, der Stolz. Niemand entkommt diesen Fotos, wir sollten sie bis in alle Ewigkeit als Passbilder verwenden.
An jenem Tag war ich zum Mittagessen nach Hause gegangen, der Unterricht begann um halb vier wieder, aber ich kam früher zurück, um meine Freunde auf dem Hof zu treffen. Jungs waren fast keine dabei, denn während wir unsere Freundinnen abgöttisch liebten, war bei den Jungs nichts zu machen, sie blieben ewig abgehängt. Befreundet waren wir mit ihnen eben, weil wir sie nicht lieben konnten, die Männer, von denen wir träumten, waren eigenartiger, gleichgültiger, blonder, schwarzhaariger, dunkler und undurchsichtiger. Unsere Freundinnen allerdings waren, trotz der Reibereien, des Streits und der Unstimmigkeiten, die Vollendung in Person.
Es waren die ersten warmen Tage, der Himmel wolkenlos, die Bäume von winzigen grünen Blättern überzogen, bewegt von einer sanft böigen, leicht maritimen Brise.
Im ersten Moment sah ich sie nicht, Gema war seit Monaten nicht in der Schule gewesen, und wir waren auch nicht mehr so eng befreundet wie früher. Im Französischen Gymnasium vertrat man die Meinung, den Klassenverband jedes Jahr aufzulösen und die Schüler neu zu mischen, fördere die Umgänglichkeit und die Fähigkeit zur Anpassung. Meine Sandkastenfreundin und ich besuchten schon seit Jahren nicht mehr zusammen den Unterricht, und wir hatten uns zwar beide auf die gleiche grundlegende Suche danach gemacht, wer wir waren, dabei aber sehr unterschiedliche Richtungen eingeschlagen: ich die der Rebellion, sie die der Vorsicht.
Man hatte uns gesagt, dass sie krank war, ich hatte Gerüchte gehört, aber an meinem Alltag änderte sich nichts, da war keine leere Schulbank, keine unbehagliche Stille beim Aufrufen der Namen, kein Eindruck von Abwesenheit. Ich spürte nur eine leichte Beklommenheit, wenn ich an sie dachte oder mir mit schreckgeweiteten Augen im Kreis meiner Freundinnen den Kopf über ihr Leiden zerbrach, das letztlich aber nur ein graues Wölkchen blieb am heiteren, blendenden Horizont der Jugend.
Sie hielt sich sehr gerade. Sie sieht größer aus, dachte ich. Und wie bleich sie ist! Sie war immer sehr weiß gewesen, aber ihr Teint, früher milchig und rosig wie bei den Prinzessinnen im Märchen, war ins Graue verkehrt. Als hätte sich ein rauchfarbener Schleier über ihr Gesicht gelegt und ihm einen aschfahlen, erloschenen Ton verpasst; tränenvoll und wässrig leuchteten darin nur die Augen (sie sterben als Letzte, die Augen). Ihre rundlichen, vollen Wangen waren zerflossen, die Wangenknochen traten scharfkantig hervor, und die Nase, früher lang und fein, hatte etwas Adlerhaftes bekommen. Als hätte ihr ein Vampir einen Strohhalm in den Arm gerammt und sie ausgetrunken, dachte ich, bis auf den letzten Tropfen.
Ich muss hingehen und Hallo sagen, dachte ich, hilft ja nichts. Viele Jahre später passierte mir dasselbe mit Ana, einer der besten Freundinnen meiner Mutter, als ich hörte, dass sie im Krankenhaus war (»Ich muss sofort hin und sie besuchen, auf der Stelle, umgehend, hilft ja nichts«), aber damals hatte ich schon ausreichend lange gelebt, um zu wissen, dass ich nicht hinging, um Hallo zu sagen, sondern um mich zu verabschieden. Bei Gema wusste ich das nicht, ich hatte mich noch nie von jemand verabschiedet.
Also löste ich mich aus meinem Grüppchen schwatzender Freundinnen und...
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