Schweitzer Fachinformationen
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Ein lächelndes Gesicht sah mich an.
Eingerahmt in blondes Haar.
Daneben eine zweite Person. Ich selbst blickte mir entgegen. Ebenfalls lächelnd, aber ein bisschen gezwungen und verkrampft.
Wie man eben so schaut, wenn man auf den Selbstauslöser wartet.
Das Foto steckte in einem breiten, chromglänzenden Bilderrahmen und stand vor mir auf dem Schreibtisch. In der spiegelnden Fläche konnte ich die Fenster meines Büros erkennen. Mit ein bisschen Phantasie zeichneten sich darin auch die fernen Hügel auf der anderen Seite von Wuppertal ab. Und die dunklen kantigen Kästen der Bergischen Universität, die südlich von Elberfeld wie eine Ritterburg auf den Höhen thronte.
Ich konzentrierte mich auf das Foto, während ich - den Telefonhörer ans Ohr gepresst - die Kurzwahl einer Bergisch Gladbacher Nummer eintippte.
In das gleichmäßige Tuten mischte sich ein mechanisches Geräusch.
Tack, tack, tack.
Tuuut . tuuut.
Tuut . tuut.
Draußen vor dem Fenster tropfte Wasser aus einer Dachrinne und traf ein tiefer liegendes Dach. Wahrscheinlich die Oberseite des »City Store«. Das war der Kiosk, der sich unterhalb meiner Wohnung befand.
Gelegentlich hatte ich mir da unten eine Packung Zigaretten besorgt. Seit einem halben Jahr rauchte ich aber nicht mehr. Die Glimmstängel waren auch viel zu teuer für meine Verhältnisse.
Zwei Jahrzehnte arbeitete ich nun schon als Privatdetektiv. Am Anfang meiner Karriere hatte ich tatsächlich geglaubt, damit finanziell irgendwann mal auf einen grünen Zweig zu kommen. Jetzt schien ich weiter davon entfernt zu sein als je zuvor. Und das in einem Alter, in dem sich andere ihrer Midlife-Crisis hingaben.
Ich hatte für so was keine Zeit.
Es war Freitagnachmittag. Mein letzter Auftrag lag bereits vier Wochen zurück.
Wie so oft hatte ich mich eingeigelt und auf bessere Zeiten gehofft. Doch die kamen nicht. Ich konnte hier in meiner Wohnung, wo Luisenstraße und Kasinostraße zusammentrafen, versauern, und es interessierte keinen.
Auch Wonne nicht, die ich gerade zu erreichen versuchte.
»Remi. Ich hab dir doch gesagt, du sollst das lassen.«
Ihr Tonfall war weder verärgert noch genervt. Eher resigniert.
Ich klammerte mich an den Klang ihrer Stimme wie an einen Strohhalm. Dazu fixierte ich das Foto in dem silbernen Rahmen, das ich vor einigen Jahren an der Wuppertalsperre von uns gemacht hatte. Als könnten Bild und Stimme in irgendeiner Weise Wonnes Gegenwart ersetzen.
»Wir haben doch darüber gesprochen«, fügte sie hinzu.
Ja, das hatten wir. Wir hatten darüber gesprochen, eine Weile keinen Kontakt mehr zu haben. Aber wie sollte man das aushalten?
»Wonne, ich .«
Keine Ahnung, was ich sagen sollte.
Sag irgendwas, was sie zum Antworten zwingt, befahl ich mir innerlich. Was dich ihre Stimme hören lässt.
»Du klingst müde«, sagte ich.
»Ja .« Es klang, als sei mit der Erwähnung ihrer Müdigkeit tatsächlich die letzte Kraft aus ihr gewichen. »Ja, das bin ich auch.«
»Ich will dir helfen.« Ich räusperte mich. »Lass mich dir helfen.«
Ich wusste schon, was ihre Entgegnung sein würde. Wir hatten das alles zigmal durch.
»Remi. Du hilfst mir, indem du mich eine Weile in Ruhe lässt.«
»Was ist eine Weile?«
»Bitte . Fang nicht wieder damit an.«
»Ich brauche aber etwas, woran ich mich orientieren kann.«
Sie holte langsam Luft. »Du weißt, dass ich dir keine Orientierung geben kann. Es dauert die Zeit, die es dauert.«
Wieder eine Pause. Wieder dieses langsame Atmen. Ein Schnaufen. Ein leichtes Zittern war auch darin.
Weinte sie etwa? Ich wollte sie fragen, aber ich ließ es. Solange sie nicht auflegte, bestand noch eine Chance, dass wir weitersprechen konnten. Ich würde am Telefon bleiben, solange es ging. Und wenn es das ganze Wochenende war.
»Ach, Remi .« Ihre dünne Stimme war zerbrechlich und fern.
»Ja, Wonne?«
Ich musste mich zügeln. So viele Fragen gingen mir im Kopf herum. Seit Monaten schon. Seit dem großen Fall, in den auch Wonne verwickelt gewesen war. Jemand hatte versucht, sie zu erschießen. Sie hatte tagelang im Koma gelegen, während ich voller Wut und geradezu rasend das Bergische Land durchpflügte, um den Täter zu finden.
»Es strengt mich zu sehr an«, sagte sie jetzt etwas bestimmter, als habe sie dazu ihre ganze Kraft zusammengenommen.
Sie leitet den Abschied ein, dachte ich. Gleich legt sie auf. Dann kriege ich sie wieder wochenlang nicht an die Strippe. Ich hätte das Telefonat aufnehmen sollen, damit mir ihre Stimme erhalten bleibt. Aber dafür war es nun zu spät.
Mein Herz klopfte stärker. Nutz die Chance, die dir bleibt, hämmerte es in mir. Sag irgendwas. Los.
»Was ist nicht in Ordnung mit uns?«, fragte ich - getrieben von der völlig irrsinnigen Vorstellung, sie würde darauf eingehen und mir wirklich endlich die Antworten geben, nach denen ich suchte. Von denen ich allerdings wusste, dass sie sie selbst nicht kannte. Sie litt ja genauso unter der Situation wie ich.
»Ach, Remi.«
Bitte leg nicht auf.
Stille.
Stille, in die wieder das Tack-Tack vom Blechdach eindrang wie bei der berühmten chinesischen Folter, bei der sie einem Wassertropfen auf den Kopf fallen lassen, was dann eine unglaubliche Qual auslösen soll.
Ich hatte das Geräusch während der letzten Minuten nicht bemerkt. Jetzt war es wieder da.
»Ach, Remi, du weißt es doch .«
Nichts wusste ich. Gar nichts. Ich wollte bei Wonne sein. Wollte, dass alles wieder so wurde wie früher, wie damals, als es mit uns angefangen hatte. Gemeinsam waren wir in einen Kriminalfall am Altenberger Dom geschlittert. Wonne hatte es rasend scharf gefunden, mit einem echten Detektiv unterwegs zu sein. Hatte es genossen, mit mir auf Ermittlungstour zu gehen.
Und genau in dem Moment, in dem das Knacken in der Leitung zeigte, dass sie aufgelegt hatte, dass es mal wieder vorbei war mit ihrer Stimme, mit dem ersehnten Kontakt, genau in diesem Moment wurde mir klar, dass sie mich nicht mehr liebte.
Oder dass sie glaubte, sie liebte mich nicht mehr.
Und mir wurde auch klar, warum.
Weil ich eben kein echter Detektiv mehr war. Weil ich nur hier herumsaß und auf Fälle wartete. Weil ich ihrer Vorstellung von einem Mann, der sie heißmachte, indem er abenteuerliche Kriminalfälle löste, nicht mehr entsprach.
Ich war ein arbeitsloser Selbstständiger, weiter nichts. Keiner, der eine Frau wie Wonne noch begeistern konnte.
Ich legte das Telefon hin und stierte in die Gegend. Das Foto mit uns beiden an der Wuppertalsperre mied ich jetzt. Es würde nie wieder so sein.
Stattdessen richtete ich den Blick auf die Bücherregale an der Wand. Dort hatte ich ein bisschen juristische und kriminologische Fachliteratur versammelt. Nicht um sie zu lesen, sondern um meine Kundschaft zu beeindrucken. Auf einem anderen Brett reihten sich sämtliche Romane um den legendären Detektiv Philip Marlowe. Eine Chandler-Gesamtausgabe. Von »Der große Schlaf« bis »Die Tote im See«. Von »Playback« bis »Der lange Abschied«.
Ein Geschenk von Wonne. Zum Geburtstag.
»Der lange Abschied«.
Schon der Titel tat weh.
Ich wandte den Blick zur Tür. Neben dem Durchgang zum Flur gab es einen Garderobenhaken an der Wand. Daran hing ein heller Trenchcoat. So einer, wie ihn Philip Marlowe, verkörpert von Humphrey Bogart, trug.
Auch ein Geschenk von Wonne. Zu einem anderen Geburtstag.
Hast du es noch immer nicht kapiert, Remi? Sie will nicht dich. Jedenfalls nicht so, wie du jetzt dahinvegetierst. Sie will einen bergischen Marlowe. Keinen Loser.
Mir egal, schaltete sich eine andere Stimme in meinen Inneren ein. Ich will diese Frau. Wenn es noch eine Chance gibt, dass ich sie kriegen kann, tue ich alles dafür. Ich nehme die seltsamsten Fälle an. Von mir aus bin ich auch Philip Marlowe. Um wie er zu sein, muss ich die Romane allerdings erst mal lesen.
Ein Stich durchfuhr mich, als mir klar wurde, dass ich genau das nicht getan hatte.
Ich hole alles nach, redete ich mir ein. Ich lerne alle Marlowe-Krimis auswendig. Wir schauen uns alle Verfilmungen an. Ich kaufe alle DVDs. Ich werde alle Dialogzeilen mitsprechen können.
Ich stand auf, ging zum Regal, nahm wahllos eines der Bücher heraus und blätterte. Ich schlug irgendeine Seite auf, las ein bisschen, blätterte weiter und kam ganz ans Ende. Auf der letzten Seite standen nur wenige Zeilen, die den Schluss der Geschichte bildeten: Es war ein kühler Tag und sehr klar. Man konnte weit in die Ferne sehen - aber nicht so weit, wie Velma gegangen war.
Ich sah mir das Cover an. Das Buch hieß »Lebwohl, mein Liebling«.
Abschiede, wohin ich sah.
Verdammter Mist.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Ich stopfte den Roman ins Regal zurück und stürzte zum Schreibtisch, nahm ab und meldete mich.
Es war nicht Wonne. Laute Fahrgeräusche lagen wie eine dicke Schicht Dämmmaterial über der Stimme, die zu mir sprach. Ich verstand nichts.
»Detektei Rott«, rief ich.
». Adresse?«
Ich gab sie durch.
». in zehn Minuten da.«
Dann herrschte Stille in der Leitung.
Ich war allein in meinem Büro.
Der Mann, der sich nach einer Viertelstunde schnaufend die Treppe...
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