Schweitzer Fachinformationen
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Dienstag, 27. April 1824
Es war ein schöner Frühlingstag, etwas mehr als eine Woche nach dem Osterfest, und Reiser eilte, wie so oft in letzter Zeit, verstohlen die Schlossmauer entlang, hin zur hinteren Pforte. Die Rückseite des zweiflügeligen Schlosses - und damit von dort aus gesehen auch er - lag fast vollständig hinter hohen Eichen verborgen. Sollte jemand zufällig einen Blick aus dem Fenster werfen, würde er ihn nicht sehen.
Hinter der Mauer schlängelte sich ein Pfad durch ein kleines, verwunschenes Gehölz. Dann kam eine abschüssige Wiese, an deren Ende wie hingewürfelt ein Dutzend graue Felsbrocken lagen. Wenn man sich auskannte, wusste man, wie man auf direktem Wege durch das steinerne Labyrinth kam, woraufhin man an eine Felsnase gelangte, die einen weiten Blick über die Michelsklamm und die sich dahinter verlierenden Höhenzüge bot. Nur Wiesen und bewaldete Bergrücken waren hier zu sehen. Kein Haus. Außer der langen Holzbrücke über die Schlucht gab es nichts von Menschenhand Gebautes.
Der offizielle Spazierweg vom Schloss hierher war Reiser verwehrt, wenn er sich mit Theresia von Sonnberg traf, der neunzehnjährigen Tochter des Edlen. Was ihnen an gemeinsamer Zeit erlaubt war, beschränkte sich auf die wenigen Stunden pro Woche, die sie der Musik widmen durften. Wie es sich für eine höhere Tochter gehörte, spielte Theresia das Pianoforte. Reiser hatte in seiner Schulzeit in Wien das Violinspiel erlernt, und so musizierten sie zusammen, alle anderen Treffen mussten heimlich erfolgen.
Er setzte sich auf einen der Felsen und genoss den Anblick der Landschaft, die wie ein herrliches Gemälde vor ihm ausgebreitet lag.
Eigentlich durfte er sich solch romantische Stunden gar nicht erlauben. Als angehender Verwalter des Schlosses hatte er sich Tag für Tag mit Zahlen zu befassen. Erträge aus den Besitztümern des Edlen, zu denen nicht nur die Ländereien rund um das Schloss, sondern auch einige Kohlegruben im Osten gehörten. Der Edle war der Ansicht, nicht dem Holz, sondern der Kohle gehöre die Zukunft. Womit er wohl recht hatte, wenn man moderne Erfindungen wie die Dampfschiffe und verschiedene andere Maschinen betrachtete. Eines Tages, so hatte der Edle schon oft prophezeit, werde die Kohle sogar die Pferde abschaffen und dafür sorgen, dass die Wagen mit Hilfe einer eingebauten Maschine von allein fuhren. Und nicht nur auf Schienen, wie es das schon jetzt in England gab, sondern überall. Auf Straßen und Wegen. Wer dann Kohle als Brennstoff liefern konnte, war in der besten geschäftlichen Situation.
Reiser war fasziniert von diesen Gedanken. Mehr noch reizte ihn aber die Musik.
Er war sehr gut in seiner Arbeit in der Verwaltung, doch er konnte auch die andere, die musische Seite in sich nicht unterdrücken. Während seiner Schulzeit in Wien hatte er eine Sonate des Komponisten Ludwig van Beethoven abgeschrieben. Die Druckausgabe hatte er sich nicht leisten können, daher hatte er sie sich ausgeliehen und mühevoll von Hand kopiert. Alle Welt sprach derzeit von diesem Tonkünstler, dessen Werke so eigenartig neu waren. Reiser hatte die Abschrift aufbewahrt und das Stück mit Theresia geübt. Es begann nicht wie üblich mit einer richtigen Melodie, sondern mit einem ungewohnten Triller - einer musikalischen Liebkosung, die wie ein klanggewordenes zärtliches Streichen über eine weiche Wange war, ein hingehauchter Kuss. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber Theresia empfand die Musik genauso, da war er sicher. Manchmal errötete sie beim Spielen - wenn eine Stelle kam, an der sie gemeinsam eine Melodie in eine Steigerung führten und sich der Ausdruck nach und nach ins Leidenschaftliche veränderte.
Auch die Landschaft war Musik. Das leise Säuseln des Windes, verbunden mit dem Gezwitscher der Vögel, die sich im blauen Himmel des Frühlings tummelten. Das ferne Rauschen des Michelsbaches, der in den Tiefen der Klamm schäumte.
Etwas riss Reiser aus seinen Gedanken. Eine Bewegung bei der Brücke, die als hellbraune horizontale Linie über dem dunklen Grün des Waldes schwebte. Für einen kurzen Moment glaubte er, zwischen den Tannen an der linken Seite eine Gestalt in ganz und gar dunkler Kleidung zu sehen. Ein Gesicht war nicht zu erkennen, nur ein dunkler Haarschopf. Die Erscheinung war wie ein Schatten, der sich aber sofort wieder in dem Dunkel zwischen den Stämmen aufzulösen schien. Reiser kniff die Augen zusammen. Vielleicht hatte er sich getäuscht.
»Sebastian«, sagte Theresia hinter ihm.
Er hatte sie gar nicht kommen gehört. Sie trug heute wieder ihr blassrosa Kleid, dazu den farblich passenden Hut und Schal. Ihr Vater hätte sie gerügt, hätte er gesehen, dass sie sich in diesem Aufzug auf die Felsen setzte.
Reiser stand auf und beugte den Oberkörper. Sie hielt ihm die rechte Hand hin, die in einem weißen Handschuh steckte, und er deutete einen Handkuss an. Ihr Lächeln zeigte, wie überflüssig sie diese formale Begrüßung fand.
Alles, was er seit seiner Ankunft hier empfunden hatte, verband sich in ihrer Gegenwart zu einem wunderbaren Glücksgefühl: der Eindruck der Natur, die Gedanken an die Musik. Theresias Nähe veredelte das alles zu einem wunderbaren Ganzen.
Dabei war sie noch nicht einmal hübsch. Jedenfalls nicht nach den Maßstäben der Zeit. Ihr Gesicht war ein wenig zu breit. Ihre Augen waren zu klein, um so kindlich naiv dreinzublicken, wie es das Schönheitsideal junger Damen verlangte. Und darüber hinaus tummelten sich in Theresias Gesicht Schwärme von Sommersprossen. Bis jetzt war jeder Versuch, sie mit Puder im Zaum zu halten, erfolglos gewesen.
Vielleicht war das der Grund, warum Theresia trotz ihrer neunzehn Jahre noch ledig war. Zwei Saisons hindurch hatte sie, wie es üblich war, Bälle besucht. Niemand hatte sie mehrmals zum Tanzen aufgefordert, was als Vorstufe zu einer Verlobung unerlässlich war. Eine dritte Saison zu besuchen und Gefahr zu laufen, wieder sitzen zu bleiben, wäre peinlich gewesen. Dabei hatte Theresia, einziges Kind des Edlen von Sonnberg, eine ordentliche Mitgift zu bieten.
Reiser wäre gern derjenige gewesen, der Theresia aus dem ledigen Stand befreite. Doch diesen Gedanken auch nur zu denken, war schon ein Abenteuer.
»Mein Vater wird dir etwas mitteilen«, sagte sie. »Etwas Bedeutsames. Ich habe ihn darüber sprechen hören.«
»Und weißt du, was es ist?«, fragte er.
Trotz der Ständeschranken duzten sie sich, wenn sie allein waren.
»Es hat sich in letzter Zeit so viel verändert. Zum Guten. Ich denke daher, es wird etwas Günstiges sein.« Ihr Lächeln wurde hintergründig.
Sie hielt ein kleines Buch in den weiß behandschuhten Händen. Offiziell unternahm sie den Spaziergang vom Schloss hierher, um in der schönen Umgebung ein wenig zu lesen.
Sie schlug den schmalen Band auf und las vor: »Willst du schon geh'n? Der Tag ist ja noch fern .«
»Romeo und Julia«, sagte Reiser. Theresia nickte und zeigte ihm den Einband. Es war die Übersetzung des Dichters August Wilhelm von Schlegel, für die sich Theresia seit Jahren begeisterte. »Ist es ein Zufall«, fragte er, »dass du heute diese berühmte Liebesgeschichte liest?«
»Vielleicht«, sagte sie und senkte den Blick. »Vielleicht auch nicht. Es ist nicht an mir, diese Dinge zur Sprache zu bringen.«
Ja, dachte Reiser. Und wie schon viele Male zuvor gestattete er sich für einen Moment die Vorstellung von etwas eigentlich Unvorstellbarem. Er sah sich zu dem Edlen von Sonnberg gehen. Er sah sich das Arbeitszimmer seines Dienstherrn betreten und selbstbewusst das Wort an ihn richten. Hörte sich sagen, welche Gnade ihm, dem Lakaiensohn, zuteilgeworden sei, indem er, der Edle, ihm die Ausbildung auf dem Gymnasium und den Besuch der Universität ermöglicht habe. Während er ihm gleichzeitig immer wieder verdeutlichte, dass sein Fleiß und sein Talent so groß seien, dass er, Reiser, bald Verwalter der Güter werden könnte. Weshalb es doch nur natürlich und vernünftig sei, im Beiseiteschieben der Standesgrenzen nicht nur dem Ruf von Talent und Fleiß, sondern auch dem der Liebe zu folgen. Der unschuldigen, reinen und von Gott gegebenen Liebe zwischen zwei Menschen. Was ihn, Reiser, zu der Entscheidung bringe, bei ihm, seinem gnädigen Dienstherrn, um Theresias Hand .
An dieser Stelle fielen seine Visionen mal so und mal so aus. In einer Fortsetzung der Szene trat ihm der Edle freundschaftlich entgegen, reichte ihm die Hand und erklärte, dass er einverstanden sei. Wenn auch Theresia ihn liebte. In einer anderen zeigte der Adlige ein so erzürntes Gesicht, wie man es nur sehr selten an ihm erlebte. Und was er sagte, machte deutlich, dass Reisers Ansinnen der Grund dafür war. Jahrelang habe er die Fürsorge seines Dienstherrn genossen, und nun wage er, der doch im Grunde ein Nichts war, sich zu erfrechen, etwas vorzubringen, das alles zunichtemache. Das Undankbarkeit beweise und, was das Schlimmste sei, den hohen Edlen von Sonnberg zutiefst enttäusche .
»Sei guten Mutes und hoffe auf morgen, mein Lieber«, sagte Theresia und erhob sich. »Meine Zeit ist leider um. Morgen werden wir auch wieder musizieren. Vielleicht können wir dann mit Beethovens Klängen etwas feiern, wovon wir jetzt noch nicht einmal zu träumen wagen.«
Reiser ließ Theresia vorausgehen. Wie kurz ihre Treffen doch immer waren. Und wie kostbar gerade deswegen.
Er wartete noch ein paar Minuten und blickte nachdenklich ins Tal hinab. Dann kehrte er über den Weg durch die Felsen und das Wäldchen ins Schloss zurück.
***
Kreutz saß eingeklemmt in der Kutsche auf dem Weg...
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