Schweitzer Fachinformationen
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Als der Bummelzug in Wunsiedel einfuhr, stockend, mit quietschenden Bremsen, war es fast Abend geworden, und die Schatten wurden länger. Zögernd schälte ich mich als Letzter aus dem Waggon. Türen schlugen; aus dem Lautsprecher kam eine gebellte Ansage im oberfränkischen Dialekt, die mir unverständlich blieb. Die kleine Station verfügte nur über zwei Bahnsteige, doch das stattliche Bahnhofsgebäude, spätklassizistisch hell und von quadratischem Grundriss, war mit einem Dachreiter, einer großen Normaluhr mit römischen Ziffern und rundum mit einem gläsernen Vordach versehen. Eine Zeitlang stand ich, nachdem ich die Schalterhalle durchquert hatte und die Schwingtür nachwippend hinter mir zugefallen war, vor dem Gebäude und blickte, über das runde Becken eines Springbrunnens hinweg, die von Ulmen gesäumte Bahnhofstraße entlang, die zunächst elegant abfiel, um schließlich weit hinten, am Ende der bewohnten Welt, so schien es, wieder anzusteigen. Einladend wie ein Hohlweg, fast einschmeichelnd kam mir diese Abwärtsbewegung vor, die den am Bahnhof Eintreffenden, an gediegenen Gast-, Wohn- und Geschäftshäusern vorbei, gleichsam in die innere Stadt hineinzog, wogegen man sich so gut wie gar nicht wehren konnte, und dann schnurgerade weiter nach Süden führte, den bereits dunklen Anhöhen des Fichtelgebirges entgegen, über dem sich ein paar Wolken türmten.
Ein Montagabend im Juni, kurz vor 18 Uhr. Warm und würzig die Luft und gut nach Heu riechend, ein leuchtender Vorabend, längst nicht so schwül, wie ich es von zu Hause gewohnt war; sogar leicht windig. Noch lag das Licht so hell auf dem Asphalt der Bahnhofstraße, den Hausdächern und dem Wasserbecken, dass es mich blendete, und alles war wie in Grün getaucht. Die Passanten, unter ihnen die gerade eingetroffenen Reisenden, zumeist mit kleinem Tagesgepäck, strebten ohne besondere Eile, hier und da innehaltend, dem Stadtkern zu. Ich sah ihnen nach, als wollte ich mir jeden von ihnen einprägen für immer, ihr Hinken, Hüpfen, Lachen. Waren sie am Ende alle vom Theater? Auch die beiden Schauspieler, die einander im Zug an ihrem Geruch oder ihrem Gebaren erkannt hatten, gingen in lebhaftem Gespräch die Straße hinunter, ab und zu das Gepäck absetzend, um effektvoller gestikulieren zu können. Offenbar war ihnen der Weg zum Informationsbüro im Rathaus schon von einem früheren Engagement her vertraut. Sie sahen jetzt wirklich wie zwei Provinzmimen aus, die für eine bescheidene Summe Geldes auch die kleinste Rolle im Feriengebiet annahmen, und ich folgte ihnen mit einem gewissen Abstand über die Maximilianstraße zum Marktplatz, am fahnengeschmückten Hotel »Kronprinz von Bayern«, dem ersten Haus am Platze vorbei, wo ich sie aus den Augen verlor.
Ich war nicht viel über zwanzig und noch nie zehn ganze Wochen von zu Hause entfernt gewesen, nur einmal als Kind für etwa sechs Monate im Heim - doch die Monate im Heim zählten dreifach. Nahe am Bahnhof das Wirtshaus »Zum grünen Baum« mit einem großen Biergarten; da blieb ich zum ersten Mal stehen. Im Schatten dichter Kastanienbäume saßen Familien bei Bratwurst mit Kraut und Kartoffelsalat oder Schweinebraten mit Klößen, meinem Lieblingsessen. Alle Fenster waren offen, die Türen auch, sowohl die zur Straße als auch die zum Garten, und die Kellnerinnen eilten ständig ein und aus, mit Bierkrügen und Tellern beladen. Girlanden, Lampions über den Köpfen. Die Kinder saugten Bluna aus bunten Plastikröhrchen, spielten Nachspringen und Versteck um die Tische herum, neckten die Hunde. Kläffen; Gelächter, Geheul. Die nahe am Zaun tätige Kellnerin - schwarzer Rock, schwarzer Pullover, weißes Schürzchen mit Spitzenbesatz und die Fülle des dunklen Haars hochgesteckt - kam mir anziehend vor, die grauen Augen kühl und flüchtig, fast abweisend auf mich gerichtet. Ich stand befangen am Lattenzaun und starrte sie an, die Koffer, zwei folgsame Hunde, bei Fuß.
Vierundvierzig Jahre danach erscheint mir der Ortseingang fremd. Auf den ersten Blick kaum wiedererkennbar die Gegend, Ecken und Winkel verödet. Der Durchgangsverkehr dröhnt. Das Wirtshaus »Zum grünen Baum« ist verdunkelt, der Garten menschenleer, das Blätterdach gelichtet. Selbst die Wurstbude am Zaun ist geschlossen. Und der Bahnhof verrottet bei zugenagelten Türen, die Fenster blind oder eingeschlagen. Drinnen im Wartesaal Abfälle, ein verrosteter Ofen, Taubengeflatter. Wo ist der einladende Springbrunnen aus hellem Stein geblieben, die runde Normaluhr, das zierliche Glasvordach? Überall Spuren der Zerstörung, eine Trostlosigkeit, auf die ich nicht eingestellt bin. Gen Osten ein riesiger, völlig leerer Busparkplatz, auf dem ich soeben eingetroffen bin - der einzige Fahrgast, der den aus Marktredwitz kommenden Omnibus verließ. Ich mache ein paar ziellose Schritte dahin und dorthin, studiere verschiedene Fahrpläne, ohne sie zu verstehen. Ich kann mich hier nicht mehr zurechtfinden. Spreche endlich eine ältere Frau an, die ihren Hund über den Platz zerrt. Wo bitte bin ich gelandet? Vor mindestens zwanzig Jahren schon oder auch dreißig, sagt sie, wurde die Eisenbahnstrecke stillgelegt, das müssens doch wissen. Man habe die Schienen, Schranken, Schuppen und Wärterhäuschen beseitigt und diesen selbst für München zu großen Busparkplatz angelegt. Seither sei Wunsiedel von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschnitten und liege »hinter den Bergen«. Die früher belebte Bahnhofstraße sei in Sechsämterlandstraße umgetauft worden. Es fehle an Reisenden, an Passanten und Kunden, die meisten Läden stünden leer, und die jungen Leute zögen fort, so die Frau zu mir, schon im Gehen. Nur die Bahnschwellen liegen noch immer gestapelt dort im Gestrüpp, mit wildem Wein überwachsen, von Käfern, Vögeln und Igeln bewohnt.
Als ich verspätet im Rathaus ankam - ich hatte mich im Bestreben, mir den Ort sogleich einzuprägen, ein wenig verlaufen - waren alle Künstler bereits mit Zimmern versorgt und auf die entsprechenden Privatadressen verteilt worden, während die Angestellten im Aufbruch waren. Man hatte offenbar mit meinem Eintreffen nicht mehr gerechnet, ja man hatte mich schon abgeschrieben und schien sogar erwogen zu haben, mich von der Liste für das künstlerische Personal zu streichen, um ein zusätzliches Zimmer zu gewinnen. Nach einigen Telefongesprächen bekam ich doch noch eines in einem Neubauviertel zugewiesen. Schönlinder Weg 8 bei Seifert stand auf dem Zettel, den man mir nebst einer Wegbeschreibung in die Hand drückte; ein bescheidenes Einfamilienhaus jenseits der Bahnlinie, hieß es, zweistöckig, hell gestrichen, vom Markt aus zu Fuß in zehn Minuten erreichbar.
Die Wirtin, die mir öffnete, war eine unbestimmt lächelnde Landfrau, rötlich-blond, mit hellen Wimpern und roten Wangen. Sie verlangte fünf Mark pro Nacht fürs Dachkämmerchen, doch ich gestand ihr nicht mehr als drei Mark zu und dabei blieb es. Soviel kostete ein einfaches Mittagessen in der »Eisernen Hand« in der Breiten Straße, und das Briefporto betrug zwanzig Pfennig. Die Wirtsleute erwiesen sich in den folgenden Wochen als äußerst zurückhaltend, von anonymer Höflichkeit, wortkarg, ja schweigsam, die geborenen Randfiguren. Ich erinnere mich nicht, je einen persönlichen Satz mit ihnen gewechselt zu haben, obwohl ich es nicht ungern getan hätte. Oder bekam ich doch manchmal etwas vom Sonntagskuchen ab (mal Apfel mit Streusel-, mal Erdbeer-, mal Linzerschnitten), von ein paar unverbindlichen Worten begleitet, wenn ich ihr peinlich sauberes Wohnzimmer betrat, um die Miete zu bezahlen? Jedenfalls hielten sie streng auf Distanz, ja ich hatte den Eindruck, sie verloren mich, sobald ich ihr Haus verlassen hatte, sofort aus dem Gedächtnis, so unwichtig war ich für sie.
Welche Geräusche vernahm ich in meiner Dachkammer am Schönlinder Weg, abgesehen vom Knarren der Treppe und vom Rauschen der Wasserrohre am Waschtag? Das schrille Warngebimmel vom Wärterhaus her, kurz bevor die nahe Bahnschranke sich senkte; den täglich mehrmals an meinem Fenster Richtung Holenbrunn vorbei ruckenden Bummelzug, der nur stockend in Fahrt kam, etwas später sein lang gezogenes Pfeifen und Rumpeln. Das Knirschen des Schotters, wenn jemand in Eile, um den Weg abzukürzen, über die Gleise ging. Sodann das Anschlagen der verschiedenen Kirchenglocken, die sich gegenseitig übertönten; mal war es die Uhrzeit, mal rief man zum Kirchgang oder zum Begräbnis. Manchmal war das Gepolter eines Müllwagens zu hören oder die Sirene einer Ambulanz, die auf das nahe Städtische Krankenhaus zufuhr. Kein Radio-, kein Fernsehlärm drang je in mein Sommerzimmer, kein lautes Wort aus dem Hausflur. Oder doch nur vergessen den Krach oder einfach nicht richtig aufgepasst, weil ich laufend mit anderen Dingen beschäftigt war, mit mir und meinem Alleinsein, dem Theater, der Liebe, der Wahrheit, der Kunst. Frau Seifert war den Tag über am Putzen, Waschen und Kochen. Wenn ich am späten Nachmittag den leicht gekrümmten Schönlinder Weg in der Sonne daherkam, stand sie oft lächelnd in ihrem Garten, der nur provisorisch...
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