Schweitzer Fachinformationen
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Miranda Fricker ist ein:e englische:r Philosoph:in, die:der ein Buch mit dem Titel "Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing" geschrieben hat. Um dieses Buch und dessen Inhalt soll es im Folgenden gehen. Epistemologie ist ein Synonym für Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie untersucht, was, warum und wie wir wissen und warum und wie wir zu Wisssen kommen. Ein anderer großer Bereich der Philosophie ist die Ethik. Ethik setzt sich mit der Bewertung von menschlichem Handeln auseinander. Miranda Fricker hat festgestellt: Es gibt einige Umstände, die sind sowohl aus ethischer als auch aus erkenntnistheoretischer Sicht problematisch. Sie:er sagt also, dass es zwischen Erkenntnistheorie und Ethik eine Schnittstelle gibt.
Sie:er beschreibt in dem Buch, dass es einen gesellschaftlichen Pool an Wissen gibt. Bestimmtes Wissen ist einfach allgemein bekannt oder man kann zumindest leicht darauf zugreifen. Dieses Pool an Wissen wird aber ganz maßgeblich dadurch beeinflusst, dass manche Menschen mehr Einfluss haben und bestimmte Informationen wichtiger finden. Wonach geforscht wird, was gelehrt wird, was common knowledge ist, wird durch Machtstrukturen beeinflusst. Was wir wissen, mag in Bezug auf weiße, wohlhabende, gesunde, nicht behinderte, neurotypische, heterosexuelle cis Männer wohl oft stimmen, aber nicht so sehr in Bezug auf alle andere Menschen.
Beispiele: In dem Buch "Unsichtbare Frauen" von Caroline Criado-Perez wird ausführlich darauf eingegangen, wo Frauen überall vergessen werden. Crashtest-Puppen haben eine durchschnittliche Männergröße, Möbel und Geräte sind für einen durchschnittlichen cis Männerkörper ausgelegt, Temperaturen in Büroräumen sind so eingestellt, dass sie für einen durchschnittlichen cis Männerkörper angenehm sind etc. Aus meinem eigenen Interessensgebiet kann ich berichten, dass lange Zeit viele sportwissenschaftliche Studien nur an cis Männern durchgeführt wurden. Das heißt, Trainings- und Ernährungspläne sind/waren auf durchschnittliche cis Männerkörper ausgerichtet.27 Medizin und Psychologie scheinen auch einige Symptome bei afab28 nicht richtig einschätzen zu können. So ist es für afab zum Beispiel sehr viel schwieriger, eine Autismus-Diagnose zu bekommen, weil weiblich sozialisierte Personen andere Symptome zeigen als männlich sozialisierte Personen.
Auch BIPoC haben es bei Diagnosen schwerer, beziehungsweise kursierten lange Zeit viele Falschinformationen über angebliche medizinische Unterschiede zwischen nicht-weißen und weißen Menschen. Es wurde zum Beispiel lange Zeit angenommen, dass Schwarze Menschen dickere Haut haben - was falsch ist. Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, dass unser Wissen sehr verzerrt ist. Es geht so weit, dass es sogar für bestimmte Phänomene einfach lange Zeit keine Wörter gab. Vermutlich fehlen uns auch heute noch viele Begriffe.
Es gab etwa lange nicht den Ausdruck "sexuelle Belästigung". Erst nachdem sich einige Frauen öfter in Kreisen trafen und über ihre Erfahrungen redeten und feststellten, dass sie alle bestimmte Erfahrungen teilen, haben sie sich ein Wort für diese Erfahrungen überlegt und konnten dann sinnvoll darüber reden.29
Ein anderes Beispiel ist Postpartale Depression. Früher (zum Teil auch heute noch) wurde Menschen, die darunter litten, einfach vorgeworfen, "Rabenmütter" zu sein, schlechte Menschen zu sein, nicht mehr zurechenbar zu sein. Erst 1994 hat man eingesehen, dass Postpartale Depression ein ziemlich verbreitetes Phänomen ist, unter dem viele Menschen leiden.
Manchen Menschen wird schlicht nicht zugehört, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen. Manche Menschen werden nicht als Wissensquellen anerkannt, sondern gelten als subjektiv, emotional, unsachlich, psychisch labil, nicht ganz zurechenbar, naiv etc. Die Erfahrungen mancher Menschen gelten als unwesentlich.
Das Ganze hat eine lange Geschichte. Schon Simone de Beauvoir schrieb bereits 1949 in ihrem bekannten Buch "Das andere Geschlecht" über diesen Umstand (Achtung, es ist etwas transfeindlich aus heutiger Sicht):
"Die Frau hat Ovarien und einen Uterus. Das sind Sonderbedingungen, die sie zur Subjektivität verurteilen. Man sagt gern, sie denke mit ihren Drüsen. Der Mann sieht großzügig darüber hinweg, dass zu seiner Anatomie auch Hormone und Testikel gehören. Er begreift seinen Körper als direkte, normale Verbindung zur Welt, die er in ihrer Objektivität zu erfassen glaubt, während er den Körper der Frau durch alles, was diesem eigentümlich ist, belastet sieht und ihn als Behinderung, als Gefängnis betrachtet. [.] Und Thomas von Aquin schließt sich ihm in der Auffassung an, die Frau sei ein 'verfehlter Mann', ein 'zufälliges Wesen'. Das gleiche symbolisiert auch die Geschichte der Genesis, in der Eva nach den Worten Bossuets aus einem 'überzählichen Knochen' Adams hervorgezaubert wird. Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen. [.] Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere."30
Wir werden später noch mehr über Normen reden, aber um erst mal beim Punkt zu bleiben: Dadurch, dass manche Menschen nicht als Wissensquellen anerkannt werden, entstehen zwei Probleme zugleich.
Zum einen liegt ein ethisches Problem vor, weil einigen Menschen nie geglaubt wird und sie ganz zentrale Erlebnisse in ihrem Leben nicht einordnen können, weil die Informationen und Wörter dafür fehlen. Man nennt das: hermeneutische Lücken. Und das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass Menschen ihre ganze Identität infrage stellen. Es ist eine Art von gesellschaftlichem Gaslighting. "Als Gaslighting wird in der Psychologie eine Form von psychischer Gewalt bzw. Missbrauch bezeichnet, mit der Opfer gezielt desorientiert, manipuliert und zutiefst verunsichert werden und ihr Realitäts- und Selbstbewusstsein allmählich deformiert bzw. zerstört wird."
Es ist auch deshalb schlecht, weil vor Gericht einigen Beweisen nicht genügend Bedeutung geschenkt wird und man sehr direkt zu Ungerechtigkeit kommt, weil dadurch ggf. falsche Urteile gefällt werden. Man nennt das auch testimoniale Ungerechtigkeit.
"Testimonial injustice occurs when prejudice causes a hearer to give a deflated level of credibility to a speaker's word; hermeneutical injustice occurs at a prior stage, when a gap in collective interpretive resources puts someone at an unfair disadvantage when it comes to making sense of their social experiences. An example of the first might be that the police do not believe you because you are black; an example of the second might be that you suffer sexual harassment in a culture that still lacks that critical concept."31
Zum anderen liegt ein epistemologisches Problem vor, denn offensichtlich sind hermeneutische Lücken erkenntnistheoretische Lücken. Uns fehlen so viele Sichtweisen, wenn wir immer nur die Perspektive der Menschen wertschätzen, die innerhalb der Norm liegen (und die die Norm festgesetzt haben). Unser ganzes Pool an Wissen ist verzerrt. Es sollte uns allen ein Anliegen sein, das zu entzerren, um uns der Wahrheit mehr anzunähern.
Content Note: Sexualisierte Gewalt.
Als Nächstes wollen wir ein Beispiel für eine noch immer offene hermeneutische Lücke betrachten, um die Begrifflichkeiten besser zu verstehen und einem gesellschaftlichen Problem mehr Kontext zu geben.
Schon seit der Antike haben Menschen einen Begriff für Vergewaltigung,32 seit Generationen existiert dieses Wort in unserem Wortschatz; dennoch haben viele Menschen falsche Vorstellungen, was hinter diesem Begriff steckt. Einige Verwirrung mag der Tatsache geschuldet sein, dass die Definition von Vergewaltigung im Gesetzestext einigen Wandlungen unterzogen wurde. Seit 1997 wird der Begriff auch bei Taten zwischen Ehepartnern benutzt. Seit 2016 braucht es keine körperliche Zurwehrsetzung mehr, um Nicht-Einverständnis zu kennzeichnen und eine Tat als Vergewaltigung zu verurteilen. Trotz dessen, dass diese Änderungen oft große mediale Aufmerksamkeit bekamen und vielen Menschen diese Änderungen bekannt sein sollten, halten sich einige Mythen zäh.
"Rape myths are inaccurate perceptions concerning rape."33
Wenn Menschen an Vergewaltigung denken, denken sie oft an fremde Männer, die mit einem Messer bewaffnet in der Nacht Frauen auflauern. Das ist jedoch selten in der Realität der Fall. Beispielsweise werden sexuelle Straftaten in den meisten Fällen von jemandem begangen, die:der der betroffenen Person bekannt war.
In einer Studie...
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