Schweitzer Fachinformationen
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Ravuú war wütend, so wütend, dass sie sich kaum noch an den Grund dafür erinnern konnte. Fauchend und zischend erhob sie ihren Kopf über die Meeresoberfläche, nicht weit entfernt vom älteren Bruder, der ihrem unbändigen Treiben gelassen zusah. Ihre Wut hielt viele zehntausend Jahre an, in denen sie Lage um Lage flüssigen Gesteins ausspie und zu einem Berg übereinanderschichtete. Erst als ihr neuer Wohnsitz dem ihres Bruders nicht nur ebenbürtig war, sondern ihn sogar überragte, beruhigte sie sich. Der Vulkan hatte nun eine stattliche Höhe von beinahe achthundert Metern erreicht und bildete einen weithin sichtbaren, steilen Kegel auf einer kreisrunden Basis. Lediglich eine Landzunge an der Ostküste, die Ravuú während eines besonders heftigen Ausbruchs geschaffen hatte, ragte wie ein ausgestreckter Finger ins Meer.
Erschöpft von ihrer Raserei fiel Ravuú in tiefen Schlaf. In dieser Zeit trieb der Wind Pflanzensamen und Insekten übers Meer und legte ihrem Berg ein prächtiges Halsband aus smaragdgrünen Bäumen und blühenden Büschen um. Vögel flogen von der großen Insel herüber und begannen in dem Halsband zu nisten; Echsen und Nager klammerten sich an Treibholz und landeten ebenso wie die Kokosnüsse nach langer Überfahrt an den Stränden der jungen Insel. Das Paradies war, zum vieltausendsten Mal, neu entstanden.
Ravuú erwachte erst wieder, als die ersten Menschen, ein junger Mann und seine Frau, ihr Boot auf den weißen Sand der Landzunge zogen. Neugierig beobachtete sie von der Höhe aus die kleinen Wesen, die ihr so ähnlich waren mit ihrem zweibeinigen Gang und den kunstfertigen Händen. Sie ließ sie gewähren, als sie die Tiere ihrer Insel zähmten und verzehrten, als sie die Bäume ihres Halsbands zum Bau von Häusern und Booten verwendeten, sie ließ es sogar zu, dass sie Teile des Waldes mit Feuer zerstörten, um ihre eigenen Früchte anzubauen. In regelmäßigen Abständen erklomm der Mann Ravuús hochgelegenes Reich und brachte der Göttin ihren Anteil an Tieren und Früchten, und sie war zufrieden. Jahre vergingen. Der Mann und die Frau bekamen viele Kinder.
Dann, in einer sehr dunklen Nacht, kehrte der Mann vom Fischfang nicht zurück auf die Insel. Seine verzweifelte Frau bat Ravuú, ein Leuchtfeuer zu entzünden, damit er den Heimweg finden könne. Die Göttin erfüllte der Frau den Wunsch, und von da an geschah es immer wieder, dass sie ein Feuer entfachen musste, weil der Mann unachtsam war. Irgendwann wurde es Ravuú zu viel. Sie begann vor Wut zu zittern und zu rauchen, denn sie war eifersüchtig auf die Liebe der beiden Menschen und die vielen Kinder. Hohe Feuerfontänen spritzten zum Himmel, und eine glutheiße Lavazunge wälzte sich in Richtung der so mühsam bestellten Felder. Die Frau bestieg den Berg und bat Ravuú händeringend, ihr Wüten einzustellen. Da sagte die Göttin, sie würde es nur tun, wenn sie ebenfalls einen Ehemann bekäme, den sie so innig lieben könnte wie die Frau ihren Mann. Sobald der Mann wieder da sei, solle er seinen ältesten Sohn auf den Berg bringen und mit ihr verheiraten. Die Frau erschrak fürchterlich. Als der Mann vom Meer nach Hause kam, erzählte sie ihm nichts von Ravuús Forderung. Da wurde Ravuú noch zorniger, und die Erde zitterte, aber noch stärker zitterte die Familie, bis der Mann schließlich alle zum Boot führte und sie einsteigen hieß. Bevor sie jedoch von der Insel fliehen konnten, traf ein rotglühender Steinbrocken den ältesten Sohn, der als Letzter noch auf dem Strand gestanden hatte. Ravuú hatte ihn geholt, und sofort verebbte ihr Zorn.
Der Mann und die Frau blieben auf der Insel, da sie sich nicht von ihrem Sohn, der nun der Gemahl der Göttin war, trennen mochten. Auch ihre Kinder und Kindeskinder fühlten sich der Insel, die sie »Pulau Melate« nannten, die Rocheninsel, sehr verbunden und gingen ein Bündnis mit Ravuú ein. Die Menschen waren genügsam, achteten die Natur, und das Paradies blieb erhalten, viele hundert Jahre lang. Die Häuser des einzigen Dorfes drängten sich auf der kleinen Landzunge zusammen, so als wollten sie instinktiv die Nähe des unberechenbaren Vulkans meiden, der rauchend über der Heimat der kaum dreihundert Insulaner thronte. Die Menschen ernährten sich vom Fischfang und vom Ertrag ihrer kleinen Felder. Das Leben verlief in ruhigen Bahnen, bestimmt von Trocken- und Regenzeiten, von Erntefesten und Geisterbeschwörungen und dem Lauf der Sonne und des Mondes.
Normalerweise.
Aber heute war kein normaler Tag, und das lag nicht nur an dem ungewöhnlich heftigen Sturm, der die ganze Nacht gewütet und das Meer aufgepeitscht hatte, bis die brüllenden Wellenberge und die leuchtenden Blitze Furcht in die Herzen der Rochenkinder getragen hatten.
Nein, da war noch etwas anderes, dessen war Sa'e sich ganz sicher, als sie den Schutz der letzten Häuser verließ und sich gegen den Wind stemmend auf den Strand trat. Sie konnte es in ihren Fingerspitzen kribbeln spüren, auf ihrer Kopfhaut, in ihrer Leber. Etwas kündigte sich an. Etwas Unerhörtes. Etwas, von dem das Leben, ihres und das des Stammes, durcheinandergewirbelt würde, so wie die Sturmdämonen durch die hohen Palmen jagten, die Stämme bogen und die unvorsichtigen Vögel durch die Luft warfen, hin und her, bis sie schließlich zerzaust auf die Erde oder in die kochende See klatschten. Etwas Gutes? Etwas Böses? So stark Sa'es Vorahnungen auch waren, so wenig war sie sich darüber im Klaren, was der Sturm bringen mochte.
Suchend blickte sie aufs Meer. Ihr Gefühl sagte ihr, dass der Morgen nahte, doch noch verhängten dunkle Wolken den Horizont im Osten und ließen nicht erkennen, ob die Sonne sich bereits anschickte, die Sturmdämonen in ihre Schlupflöcher zurückzujagen.
Sa'e war allein; die anderen schliefen oder aber taten so, als würden sie schlafen, um ihre Angst nicht zu zeigen und sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie selbst hatte keine Angst, das Gefühl war ihr abhandengekommen und einer schalen Gleichgültigkeit gewichen, seit ihr Mann auf dem Meer verschollen war, gerade drei Monate nach der Hochzeit. Sie hatte nicht einmal ein Kind, an das sie sich klammern konnte, keinen Grund, am Leben festzuhalten. Sa'e schlang die Arme um ihren Körper und überließ sich ihrer Trauer, die selbst eine Regenzeit nach dem Tod ihres Mannes nichts an Stärke eingebüßt hatte. Ihr Vater drängte sie seit geraumer Zeit, erneut zu heiraten, es gab sogar einen Mann, drüben auf der großen Insel, der in Frage käme, aber sie konnte sich nicht entschließen. Grübelnd stapfte sie den Strand entlang, zu den Booten, die bis unter die Palmen gezogen worden waren, damit die See sie nicht holte. Der Wind flaute ein wenig ab, doch es war nur eine kurze Atempause. Mit neuer Kraft griffen die Sturmdämonen in Sa'es Haare und zerrten sie in Richtung des Wassers. Sie taumelte willenlos mit ihnen, bis das Meer ihre Waden umspülte. Eine gierige Welle riss sie von den Füßen. Halbherzig versuchte sie aufzustehen, doch schon kam die nächste Welle, und die nächste, und die nächste. Sa'e gab auf. Sie war bereit, ihrem Mann zu folgen.
Und dann sah sie ihn.
Noch immer verbarg sich die Sonne, doch das trübe Morgenlicht reichte aus, um Sa'e eine dunkle, große Form erkennen zu lassen, die nur eine Armlänge entfernt von den Wellen hin und her geworfen wurde. Im ersten Moment vermutete Sa'e, es sei ein Hai, den der Meeresgott geschickt hatte, sie zu holen, doch einen Herzschlag später erkannte sie, dass dort ein Mensch trieb, der Größe nach zu urteilen ein Mann. Sofort vergaß sie ihre Todessehnsucht. Eine irrwitzige Hoffnung durchzuckte sie gleißend wie ein Blitz und erlosch genauso schnell. Dieses hilflose, leblose Bündel konnte niemals ihr Ehemann sein. Aber wer war es dann? Niemand hatte sich gestern aufs Meer gewagt, alle Fischer saßen zu Hause.
Sa'e duckte sich unter die nächste auf sie zurollende Welle, wurde herumgewirbelt, bis sie nicht mehr wusste, wo unten und wo oben war, und kam prustend wieder an die Wasseroberfläche. Das Wellental war niedrig genug, um ihre Füße Grund finden zu lassen. Mit zwei Schritten war sie bei dem Mann, gerade rechtzeitig, um mit beiden Händen ein Bein zu packen, bevor die nächste Welle sie beide ergriff. Wild strampelnd gelang es Sa'e, sich und den Mann über Wasser zu halten; sie schaffte es sogar, sich von der Woge näher zum Strand tragen zu lassen. Jetzt war das gurgelnde Wasser nur noch hüfttief. In Erwartung der nächsten Welle spannte sie ihre Muskeln an. Noch zweimal, dreimal, dann würde sie den schlaffen Körper in Sicherheit gebracht haben. Etwas traf sie mit voller Wucht in den Bauch. Sa'e zuckte zusammen, dann erkannte sie ein großes Stück Treibholz, an das sich der Mann geklammert hatte und das er nun im Geziehe und Gezerre der Wellen hatte aufgeben müssen.
Mit letzter Kraft schleppte sie den Mann auf den Strand. Keuchend und mit geschlossenen Augen sank sie neben ihm auf die Knie, noch immer sein Bein umklammernd, als würde nur ihr Griff ihn davor bewahren, von den Geistern ins Totenreich entführt zu werden. Wenn er nicht längst dort war, denn er bewegte sich nicht.
Lange kauerte sie so neben ihm, bis sie endlich den Mut fand, ihre Hände zu lösen und die Augen zu öffnen. Ein Blick auf seinen sich hebenden und senkenden Brustkorb sagte ihr, dass der Mann lebte, dann wanderte ihr Blick höher, hin zu seinem Gesicht.
Entsetzt sprang Sa'e auf. Ihr gellender Schrei übertönte selbst die Sturmdämonen.
»Wacht auf! Wacht auf! Kommt zum Strand!« Laut schreiend rannte Sa'e durch ihr winziges Heimatdorf auf das Haus ihres Klans zu. Jemand musste helfen, sie wusste nicht mehr ein noch aus. Die ersten Dorfbewohner erschienen auf den Veranden...
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