Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Früher wurde Vachel Carmouche in den staatlichen Personalakten stets als Elektriker geführt, niemals als Henker. Das war zu der Zeit, als der elektrische Stuhl manchmal im Angola stand, mitunter aber auch auf einem Tieflader mitsamt seiner Generatoren von Bezirksgefängnis zu Bezirksgefängnis gekarrt wurde. Vachel Carmouche erledigte die Arbeit des Staates. Er machte seine Sache gut.
Wir in New Iberia wussten, welchen Beruf er ausübte, gaben uns aber ahnungslos. Er lebte allein oben am Bayou Teche in einem ungestrichenen, mit Wellblech gedeckten Zypressenholzhaus, das tief im Schatten dunkler Eichen lag. Er pflanzte keine Blumen in seinem Garten und rechte ihn selten, aber er fuhr stets ein neues Auto, das er gewissenhaft wusch und pflegte.
Jeden Morgen sahen wir ihn in aller Frühe in seinen frisch gebügelten, grauen oder khakifarbenen Sachen, eine Segeltuchkappe auf dem Kopf, allein am Tresen in einem Café an der East Main Street sitzen, wo er die anderen Gäste im Spiegel musterte, mit halb offenem Mund und leichtem Überbiss über seine Kaffeetasse gebeugt, als wollte er etwas sagen, obwohl er sich nur selten auf ein Gespräch einließ.
Wenn er einen dabei ertappte, dass man ihn anschaute, lächelte er rasch und legte das braun gebrannte Gesicht in Hunderte von Fältchen, doch das Lächeln passte nicht zu dem Ausdruck in seinen Augen.
Vachel Carmouche war Junggeselle. Falls er Freundinnen hatte, bemerkten wir nichts davon. Hin und wieder kam er in Provost's Bar & Poolsalon, setzte sich an meinen Tisch oder neben mir an den Tresen und deutete damit unterschwellig an, dass wir beide Ordnungshüter waren und daher über eine gemeinsame Erfahrung verfügten.
Damals trug ich noch die Uniform der Polizei von New Orleans und war scharf auf Jim Beam, am liebsten pur mit einer Flasche Jax-Bier daneben.
Eines Abends traf er mich allein an einem Tisch bei Provost's an und setzte sich, eine weiße Schale mit Gumbo in den Händen, unaufgefordert hin. Ein Tierarzt und ein Lebensmittelhändler, mit denen ich getrunken hatte, kamen aus der Männertoilette, warfen einen Blick zum Tisch und gingen dann zur Bar, kehrten uns den Rücken zu, bestellten sich ein Bier und tranken es dort.
"Man muss dafür bezahlen, dass man ein Cop ist, stimmt's?", fragte Vachel.
"Sir?", sagte ich.
"Sie brauchen mich nicht mit 'Sir' anzureden . Sind Sie viel allein?"
"Nicht unbedingt."
"Ich glaube, das bringt der Beruf mit sich. Ich war einst bei der Staatspolizei." Er senkte den Blick und wandte die Augen, die so grau waren wie sein gestärktes Hemd, dem vor mir stehenden Schnapsglas und den Ringen zu, die mein Bierkrug auf der Tischplatte hinterlassen hatte. "Ein Trinker hört daheim allerhand Echos widerhallen. Wie wenn ein Stein in einen trockenen Brunnen fällt. Nichts für ungut, Mr. Robicheaux. Darf ich Ihnen eine Runde ausgeben?"
Das neben Vachel Carmouches Anwesen gelegene Grundstück gehörte der Familie Labiche, Nachkommen so genannter freier Farbiger, wie man sie vor dem Bürgerkrieg nannte. Der Begründer der Familie war ein französisch erzogener Mulatte namens Jubal Labiche gewesen, der am Bayou südlich von New Iberia eine Ziegelei besaß. Er hielt selbst Sklaven, die er ebenso wie die zusätzlich angemieteten gnadenlos schuften ließ, und lieferte einen Großteil der Ziegel für die Häuser anderer Sklavenhalter entlang des Teche.
Das Haus mit dem Säulenportal, das er südlich der Grenze des St. Martin Parish errichtete, wartete nicht mit italienischem Marmor oder Ziergittern aus spanischem Schmiedeeisen auf, wie die Villen der Zuckerrohrpflanzer, die weitaus vermögender waren als er und deren Lebensart er nachzueifern suchte. Aber er pflanzte immergrüne Eichen entlang der Fahrwege, hängte Blumenkästen an seine Balkons und die Veranda, und seine Sklaven hielten die Obstgärten mit den Pecan- und Pfirsichbäumen und die Anbauflächen tadellos in Ordnung. Auch wenn er nicht in die Villen der Weißen eingeladen wurde, achteten sie ihn doch als Geschäftsmann und ernsthaften Zuchtmeister und behandelten ihn auf der Straße höflich und zuvorkommend. Das genügte Jubal Labiche beinahe. Aber nur beinahe. Er schickte seine Kinder zur Ausbildung in den Norden, hoffte darauf, dass sie dort eine gute Partie machten, über die Rassenschranken hinweg, damit die hellbraune Hautfarbe der Familie Labiche, dieser Makel, der ihn trotz allem Ehrgeiz einschränkte, irgendwann endgültig verblasste.
Unglücklicherweise sprangen die Soldaten der Union, die im April 1863 den Teche aufwärts zogen, mit ihm ganz genauso um wie mit seinen weißen Nachbarn. Im Sinne der Gleichberechtigung befreiten sie seine Sklaven, brannten seine Felder, Scheunen und Maisspeicher nieder, rissen die gerippten Läden von seinen Fenstern und benutzten sie als Tragbahren für ihre Verwundeten und zerhackten seine importierten Möbel und das Klavier zu Feuerholz.
Vor 25 Jahren füllten sich die letzten erwachsenen Mitglie der der Familie Labiche, ein Mann und seine Ehefrau, mit Whiskey und Schlaftabletten ab, schnürten sich Plastiktüten um den Kopf und starben in einem geparkten Wagen hinter einem Abschleppschuppen in Houston. Beide waren Zuhälter. Beide waren Zeugen der Bundesanwaltschaft gegen eine New Yorker Mafiafamilie gewesen.
Sie hinterließen zwei fünfjährige Töchter, eineiige Zwillinge namens Letty und Passion Labiche. Die Mädchen hatten blaue Augen und rauchfarbene Haare mit dunkelgoldenen Strähnen, als wären sie mit einem Pinsel bemalt worden. Eine Tante, die morphiumsüchtig war und behauptete, eine Traiture oder Juju-Frau zu sein, wurde von Staats wegen mit der Vormundschaft betraut.
Oftmals bot Vachel Carmouche von sich aus an, auf die Mädchen aufzupassen oder sie zur Straße zu begleiten und mit ihnen auf den Bus zu warten, der sie zur Vorschule nach New Iberia brachte. Wir machten uns keine großen Gedanken über seine Fürsorge für die Mädchen. Möglicherweise entspringt all dem Bösen auch etwas Gutes, sagten wir uns, und vielleicht gibt es einen Bereich in Carmouches Seele, der nicht von den Taten beschädigt ist, die er mit den Apparaturen beging, die er eigenhändig ölte, putzte und von einem Gefängnis zum anderen transportierte. Vielleicht war seine Kinderfreundlichkeit ein Versuch zur Wiedergutmachung. Außerdem war der Staat für ihr Wohlergehen zuständig, oder nicht?
In der vierten Klasse erzählte eine der Zwillinge, Passion war es, ihrer Lehrerin von einem immer wiederkehrenden Albtraum und den Schmerzen, mit denen sie morgens aufwachte. Die Lehrerin brachte Passion zum Charity Hospital in Lafayette, aber der Arzt sagte, die wunden Stellen könnten vom Spielen auf der Wippe im City Park herrühren.
Als die Mädchen etwa zwölf waren, sah ich sie eines Sommerabends mit Vachel Carmouche draußen bei Veazeys Eisdiele an der West Main Street. Beide trugen das gleiche karierte Sommerkleid und hatten verschiedenfarbige Schleifen in den Haaren. Sie saßen in Carmouches Pick-up, dicht an die Tür gedrückt, mit leblos stumpfem Blick, die Mundwinkel nach unten gezogen, während er durch das Fenster mit einem Schwarzen in einer Latzhose sprach.
"Ich habe viel Geduld mit dir gehabt, mein Junge. Du hast das Geld gekriegt, das dir zugestanden hat. Willst du mich als Lügner bezeichnen?"
"Nein, Sir, das mach ich nicht."
"Dann wünsch ich dir noch einen schönen Abend", sagte er. Als eins der Mädchen etwas sagte, gab er ihm einen leichten Klaps auf die Wange und ließ seinen Pick-up an.
Ich ging quer über den mit Muschelschalen bestreuten Parkplatz und stellte mich an sein Fenster.
"Entschuldigen Sie, aber wer gibt Ihnen das Recht, anderer Leute Kinder ins Gesicht zu schlagen?", fragte ich.
"Ich glaube, Sie haben da was falsch aufgefasst", erwiderte er.
"Steigen Sie bitte aus Ihrem Wagen."
"Verdammte Axt. Sie sind hier nicht zuständig, Mr. Robicheaux. Außerdem haben Sie eine Schnapsfahne."
Er setzte seinen unter den Eichen stehenden Pick-up zurück und fuhr davon.
Ich ging zu Provost's, saß drei Stunden an der Bar, trank und schaute dem Treiben an den Pooltischen zu und den alten Männern, die unter den hölzernen Ventilatorenflügeln Bouree und Domino spielten. Die warme Luft roch nach Talkum, trockenem Schweiß und dem grünen Sägemehl am Fußboden.
"Hat sich hier schon mal jemand Vachel Carmouche vorgeknöpft?", fragte ich den Barkeeper.
"Geh heim, Dave", sagte er.
Ich fuhr am Bayou Teche entlang nach Norden, zu Carmouches Anwesen. Das Haus war dunkel, aber nebenan, bei den Labiches, brannte auf der Veranda und im Wohnzimmer Licht. Ich fuhr in die Auffahrt und ging quer über den Hof zu der Ziegeltreppe. Der Boden war eingesunken, mit modernden Pecanschalen und Palmettobüscheln übersät, das weiß gestrichene Haus fleckig vom Qualm der Stoppelfeuer auf den Zuckerrohrfeldern. Mein Gesicht fühlte sich warm und vom Alkohol aufgedunsen an, und ich hatte ein Summen in den Ohren, ohne zu wissen, woher es kam.
Vachel Carmouche öffnete die Haustür und trat ins Licht heraus. Ich sah die Zwillinge und die Tante hinter ihm aus der Tür spähen.
"Ich glaube, Sie missbrauchen diese Kinder", sagte ich.
"Sie geben eine bedauernswerte und lächerliche Figur ab, Mr. Robicheaux", erwiderte er.
"Kommen Sie raus auf den Hof."
Sein Gesicht lag im Schatten, und im Schein der Lampe hinter ihm flirrte sein Körper vor Feuchtigkeit.
"Ich bin bewaffnet", sagte er, als ich auf ihn zuging.
Ich schlug ihm mit der offenen Hand ins Gesicht, dass seine Bartstoppeln wie Schotter über meine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.