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Gerald Sailmann
»Es dürfte kein Zeitalter geben, in dem mehr von Beruf gesprochen worden ist als in der Gegenwart. Die Presse schildert die Sorgen der Berufswahl - die Behörden errichten Berufsberatungsstellen - eine umfassende Berufsstatistik sucht jeden zu erfassen, der das Kindesalter überschreitet - die Gesellschaft ist in zahlreiche Berufsgruppen und Berufsverbände ausgegliedert, die sich lebhaft befehden - die Psychologen untersuchen die >Berufseignung< - die Philosophen, Theologen und Soziologen wetteifern darin, uns den Verfall des Berufsethos oder die Möglichkeiten seiner Wiedererweckung vor Augen zu führen.«2,
so bewertet der Nationalökonom Fritz Karl Mann die gesellschaftliche Bedeutung des Berufes im Jahr 1933 - also ca. 15 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Seine Einschätzung beschreibt eine Entwicklung, die sich in den folgenden Jahrzehnten noch weiter verstärken sollte, so dass Martin Baethge 2004 zu dem Schluss gelangt: »Deutschland ist bis zum heutigen Tag - wie kaum eine andere Gesellschaft - eine Berufsgesellschaft.«3
Warum ist der Beruf gerade in Deutschland4 so gesellschaftsprägend? Dies hat begriffs- und institutionengeschichtliche Gründe. Sprachlich wurde er im Deutschen aus der Taufe gehoben; seine Semantik beruht allerdings nicht auf mittelalterlicher Arbeitsrealität, sondern entstammt reformatorischen Überlegungen. Martin Luther verwendete Beruf anstelle von Berufung erstmals 1522 bei der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Deutsche. Er verband mit dieser Sprachvariation die religiös-moralische Aufwertung werktätiger Arbeit: weltbezogenes Tun genießt, sofern es dem Gemeinwohl dient, die gleiche göttliche Wertschätzung wie spirituelle Kontemplation.5
Der neue Begriff löste sich bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts von seinen theologischen Bindungen, denn er bot die Möglichkeit, christliche Berufung und Standestreue mit gewerblichem Erfolg und Leistungsstreben zu verknüpfen. Zudem wurde er um humanistische Ideen erweitert und in der Aufklärung entfaltete sich ein liberales Begriffsverständnis. Der Beruf stand nun für Selbstbestimmung und das Recht des Menschen, im Arbeitsleben seiner Neigung und Eignung zu folgen.
Trotz dieser inhaltlichen Ausdehnung drang der Berufsgedanke nicht in die Mitte der Gesellschaft vor - auch nicht nach dem Ende des Ständestaates im frühen 19. Jahrhundert. Erst an dessen Ende, vor allem aber im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts, wurde »Beruf« zum Alltagsbegriff. Dies lag vor allem daran, dass seine bereits vor dem Ersten Weltkrieg erkennbaren Funktionalitäten für Individuen, Unternehmen, Körperschaften und Staat nach 1918 zunehmend institutionell ausgebaut wurden; ein Prozess, der bis zur Einführung des Berufsbildungsgesetzes 1969 andauerte.6
Der Zeitraum von 1918 bis 1969 steht auch im Vordergrund der nachfolgenden historischen Analyse. Sie orientiert sich darüber hinaus an einer gesellschaftlich-funktionalen Logik. Ausgehend von seiner Bedeutung als Organisationsprinzip für den Arbeitsmarkt wird auf den Beruf als Beratungsgegenstand und als Leitidee des Bildungssystems eingegangen. Danach wird seine Rolle als Forschungstopos der Sozialwissenschaften skizziert und abschließend ein kurzes Fazit gezogen. Die jeweiligen Abschnitte sind weitgehend chronologisch aufgebaut, wobei der Stationenbegriff nicht für ein konkretes historisches Datum, sondern für geschichtliche Entwicklungen steht.
Für das Verständnis der gesellschaftlichen Karriere des Berufs nach 1918 sind verfassungsrechtliche, ökonomische und soziostrukturelle Entwicklungen bedeutsam, die im 19. Jahrhundert, teils sogar schon davor, ihren Ausgang nahmen und in der Entstehung eines beruflich organisierten Arbeitsmarktes ihren Endpunkt fanden. Die Mehrzahl der deutschen Staaten hatte spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts kein Interesse mehr an marktregulierenden Zünften und wandte sich in den ersten Jahrzenten des 19. Jahrhunderts in Verfassung und Wirtschaftspolitik vom Ständewesen ab. Preußen beseitigte 1810 den Zunftzwang und führte die Gewerbefreiheit ein, d.?h. Wettbewerb und Vertragsfreiheit in den Arbeits- und Leistungsbeziehungen. In der Verfassung des Königreichs Württemberg von 1819 gewährte ein Staat erstmals die freie Wahl des Standes, d.?h. Berufswahlfreiheit. Zwischen dem geschriebenen Recht und der sozialen Realität gab es zwar noch lange Zeit sehr große Diskrepanzen, Kleingewerbe und Handwerk blieben in vielen Ländern noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von den alten Strukturen geprägt, aber das Ende der ständisch-zünftischen Regulation war damit besiegelt und der Durchbruch der Marktwirtschaft eingeleitet.7
Gleichzeitig führten die voranschreitende Industrialisierung und der Übergang zur mechanisierten Produktionsweise zu einem sozioökonomischen Wandel. In der Zeit von 1871 bis 1914 setzte sich der systematische Einsatz von Technologie und wissenschaftlich fundierter Betriebsorganisation durch. Ab etwa 1890 dominierte in Deutschland die Industrie sowohl die Wertschöpfung als auch das Beschäftigungssystem.8
Die Fabrik brachte auch neue Beschäftigtentypen hervor. Hierzu zählten zum einen die Fabrikarbeiter, die zunächst allerdings vor allem aus dem Handwerk kamen, zum anderen die wesentlich kleinere Gruppe der Fabrikbeamten; sie verrichteten keine körperlichen, sondern vorwiegend geistige Tätigkeiten. Aus ihnen gingen die Angestellten hervor, deren Zahl sich zwischen 1907 und 1925 verdoppelte. 1929 gab es im privatwirtschaftlichen und öffentlichen Bereich bereits ca. 3,5 Millionen Angestellte in Deutschland.9
1,2 Millionen davon waren weiblich, wie auch die weibliche Berufsarbeit insgesamt bis in die 1920er Jahre stark zunahm. Zum einen drängten im Zuge der Industrialisierung immer mehr Frauen in die Fabriken und das dortige Arbeitsangebot wurde differenzierter. Zum anderen öffneten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Handwerk und Handel für Frauen und im akademischen Bereich wurde ihnen der Zugang zu Universitäten als Bildungs- und Arbeitsstätte gewährt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren Frauen mit Fachqualifikation mehr denn je als Arbeitskräfte gefragt.10 Auch die Beamtenschaft gewann im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Sie hielt die meisten Schlüsselpositionen in Verwaltung und Wissenschaft besetzt und rekrutierte sich, insbesondere in Preußen, vor allem aus dem protestantischen Bildungsbürgertum.11
Die Ausdifferenzierung der Arbeitsinhalte und Anstellungsverhältnisse führte dazu, dass es immer mehr Beschäftigungsformen gab. Für viele musste aber erst ausgehandelt werden, ob sie offiziell als Beruf anerkannt werden konnten - oder sollten. Hier gewann der Qualifikations- und Ausbildungsaspekt an Bedeutung, aber auch die Frage, welches Geschlecht die Tätigkeiten vorwiegend ausübte. Umstritten war es bei un- und angelernter Arbeit - Tagelöhner, Hilfsarbeiter -, aber auch bei häuslichen Diensten. In beiden Bereichen gab es auch explizit für Frauen angedachte Tätigkeiten.12
Im Handwerk waren traditionell Ausbildungsstrukturen vorhanden, sprachlich war bis ins 20. Jahrhundert hinein noch der alte Standesbegriff dominant. Die Annäherung der Industriearbeiterschaft an die Berufsidee vollzog sich in einem länger dauernden Prozess. Zwar orientierten sich die ersten Gewerkschaftsgründungen zwischen 1850 und 1880 an Berufsnamen und bei der Reichsbahn wurden bereits seit 1878 Lehrwerkstätten eingerichtet, aber erst mit dem Maschinenschlosser wurde 1925 der erste industrielle Ausbildungsberuf auf den Weg gebracht, womit sich auch der Facharbeiter als Qualifikationstypus etablierte. Zudem fand zu Beginn des 20 Jahrhunderts auch der Erwerbs- und Versorgungsgedanke zunehmend Eingang in die theoretische Berufsdiskussion (vgl. das Kapitel unten »Der Beruf als Forschungstopos der Sozialwissenschaft«). Bei den Beamten war der Berufsgedanke aufgrund des ausgeprägten Aufstiegsdenkens bereits im 19. Jahrhundert sehr prominent. Berufe waren mit Bildungsformaten gekoppelt; sie signalisierten Leistungspotenziale unabhängig von ererbten Privilegien.
Die Verknüpfung von Berufsbezeichnungen mit Zertifikaten und Standards zu deren Erwerb war es auch, die die Funktionalität des Berufs für den Arbeitsmarkt begründete. Er liefert nicht allein Hinweise über Position und Status, sondern auch verlässliche Informationen über erworbene Qualifikationen. Zugleich lassen sich mit ihm auch betriebliche Anforderungen und dafür nötige Bildungsvoraussetzungen benennen. Der Beruf entwickelte sich dadurch zum Organisationsrahmen, unter dem sich Anbieter und Nachfrager von Arbeitskraft effizient und kostengünstig am Arbeitsmarkt treffen konnten.13
Die quasi »offizielle Verknüpfung« von Beruf und Arbeitsmarkt wurde kurz nach Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1871 hergestellt. Der neue Staat war daran interessiert, die ökonomische Entwicklung zu forcieren, hierfür brauchte er belastbare Daten. Als statistische Größe für notwendige Erhebungen nutzte die Nationalökonomie - neben dem Familienstand - den Beruf. Er ermöglichte die Erfassung faktischer Spezialisierung und lieferte Informationen über Qualifikationen und Expertentum der Bevölkerung. Da er mehr Tiefenschärfe hatte als »Stand« oder »Klasse«, war er aussagekräftiger und setzte sich bis 1930 als statistisches Konstrukt für...
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