Schweitzer Fachinformationen
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Diese Teekanne will Teil des Zimmers sein, wird sich jedoch niemals richtig integrieren.
Myra hörte auf zu tippen und wartete, den blinkenden Cursor starr im Blick, auf die nächste Eingebung. Jedes Wort war wohl gewählt, und jeder Buchstabe leuchtete kreischrosa. Wenn Myra die Augen schloss, sah sie unzählige Bildschirme mit ebenso vielen Gesichtern vor sich, deren Besitzer alle darauf brannten, das winzige Zimmer zu betreten, um das es hier ging. Myra stand vom Schreibtisch auf, kauerte sich vor die Villa Liliput, die auf dem Dachboden des Hauses auf einer gewaltigen Plattform ruhte, und spähte in die Miniaturbibliothek im hinteren Teil. Vorsichtig angelte sie mit den Fingern nach der mit Gänseblümchen verzierten Teekanne aus Porzellan und schob ein silbernes Tablett darunter, ein Versuch, sie besser in die Kaminatmosphäre des Zimmers einzufügen. Dann stellte sie zwei Schaukelstühle links und rechts des gemalten Kaminfeuers auf.
Falsch. Schrecklich falsch. Oder noch schlimmer: absolut unter ihrem Niveau.
»Die da passt einfach nicht rein.« Auf den Fersen hockend, musterte Myra weiter den Raum. »Ich gebe der Sache noch eine Minute, doch ich glaube, meine Entscheidung steht fest.«
Gwen schaute von ihrem Laptop auf, ohne im Tippen innezuhalten. Ihre Miene war bemüht neutral. Myra merkte ihr an, welche Anstrengung es sie kostete, nicht die Augen zu verdrehen. »Wie viele Wochen räumst du jetzt schon an der Bibliothek herum? Und wie lange, meinst du, kannst du die Leute noch mit Die Meisterdetektivin und der Fall der irrlichternden Teekanne bei Laune halten?«
»Du wolltest, dass ich sie benutze. Es war deine Idee, nicht meine.« Myras Arbeit an der Bibliothek war, so wie alles andere an der Villa, einzig und allein für sie selbst bestimmt. Eigentlich. Nur dass ihre Geschichten, die Fotos und die geschmackvolle Gestaltung des Hauses immer mehr Follower anlockten. Erst waren es Hunderte, dann Tausende gewesen. Und inzwischen (wie hatte das geschehen können?) fieberte eine in die Hunderttausende gehende Gemeinde jedem neuen Post von Die Villa Liliput der Myra Malone entgegen. Die Webseite war Gwens Idee gewesen. Und als ein paar Wochen nach der Freischaltung die ersten Miniaturen auf ihrer Türschwelle gelandet waren, war Myras anfänglicher Schreck rasch einem massiven Unbehagen gewichen. Die Villa gehörte nur ihr. Sie hatte keine Gäste eingeladen. Gwen hingegen öffnete jedes Wochenende die Päckchen und aktualisierte den Auftritt der Villa in den sozialen Medien mit überschwänglichen Dankeshymnen für den winzigen Porzellanclown oder ein Paar kleiner Kaminböcke aus Messing, die unaufgefordert mit der Post gekommen waren.
»Ich habe nur gesagt, dass du irgendwann wenigstens einem einzigen dieser Geschenke eine Chance geben solltest«, widersprach Gwen nun. »Lediglich als Experiment. Du musst ja nicht alles verwenden - das wäre auch keine gute Idee, denn je exklusiver du dich gibst, desto mehr Leute werden unbedingt reinwollen. So kriegen wir mehr Feedback.«
»Ich räume alles wieder genauso ein, wie es war. So geht das nicht.«
Gwen, die auf dem Boden saß, stellte den Laptop mit Nachdruck auf den breiten Dielenbrettern ab. »Niemals würde ich es wagen, der allmächtigen Myra Malone ins Handwerk zu pfuschen. Aber lass mich mal etwas nachschauen.« Sie stand auf, marschierte zu Myra hinüber, schnappte sich die Teekanne aus der Villa und begutachtete das zarte Porzellanobjekt auf ihrer Handfläche.
»Echt?« Myra blickte erleichtert auf. Es kam selten vor, dass Gwen wirklich verstand, was von derartigen Entscheidungen abhing.
»Ja. Es ist nämlich nur eine gottverdammte Teekanne, kein uralter Talisman der Mayas, den man genau an der richtigen Stelle platzieren muss, wenn man nicht von einem gewaltigen Felsbrocken zermalmt werden will. Du schiebst das Ding jetzt seit zwanzig Minuten hin und her, weshalb ich beinahe gehofft habe, dass es tatsächlich wichtig sein könnte.«
»Niemand zwingt dich zu bleiben. Warum gehst du nicht wieder in dein Büro und lässt mich arbeiten, Gwen?«
»Ich liebe dich auch, Myra.« Als Gwen ihr die Zunge herausstreckte, war sie sofort wieder sieben Jahre alt und hänselte ihre Sandkastenfreundin, obwohl sie inzwischen beide vierunddreißig waren. »Außerdem haben wir Samstag. Und am Samstag aktualisieren wir unsere Webseite. Vergiss nicht, dass ich auch Geld in die Villa Liliput gesteckt habe. Und ich bin noch immer überzeugt, dass es eine große Sache wird. Das Wortspiel war meine volle Absicht.« Sie schnappte sich ein winziges Schaukelpferd, das in einer Ecke der Bibliothek stand, ließ es auf ihrer Handfläche wippen und nickte im Gleichtakt nachdenklich mit dem Kopf. Das Licht fing sich im abblätternden Rot seines Sattels, während Gwen wortlos Ideen hin und her wälzte. Wenn man sie beobachtete, fühlte man sich wie die Zuschauerin bei einem Tennisspiel, das außer einem selbst niemand sah. »Du könntest Wohnraum versteigern. Platz in der Villa verkaufen. Ganze Zimmer, die die Leute selbst einrichten können.« Sie holte Luft. »Ich hab's, ein Schreibwettbewerb!«
»Nein.« Myra hielt eine weitere Erklärung für überflüssig. Sie nahm Gwen das Schaukelpferd ab und stellte es zurück in seine Ecke in der Bibliothek. »Bitte sei vorsichtig damit«, sagte sie. »Dieses Pferd habe ich mit Trixie und Opa gemacht.«
Gwen verzog missmutig das Gesicht, was eher der Ablehnung ihres brillanten Einfalls als der Rüge wegen des Schaukelpferds geschuldet war. Das Planen lag ihr eben im Blut. Auch die kleinste Idee war nicht sicher davor, von ihr aufgegriffen und vertieft zu werden. In ihrem Kopf entstanden bereits gewaltige Multimedia-Imperien. Manchmal bereute Myra, dass sie Gwen die Villa überhaupt gezeigt hatte. Doch dieser Zug war schon vor vielen Jahrzehnten abgefahren. Nämlich damals, als sie beide sieben Jahre alt gewesen waren und Gwen, gerade neu zugezogen, sich in Myras Dachkammer gedrängt und verkündet hatte, ab jetzt würden sie beste Freundinnen sein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Myra schon seit fast achtzehn Monaten nicht mehr das Haus verlassen. Sie war fünfeinhalb gewesen, als das Krankenhaus sie endlich nach Hause entlassen hatte. Ein halbes Jahr lang hatte sie dort um ihr Leben gerungen, und dann, als sie nach langem Kampf zurück in der Welt war, stellte sie fest, dass alles sie plötzlich überragte und ihr Angst machte. Nur im Haus ihrer Eltern fühlte sie sich sicher. Und zwar deshalb, weil Opa Lou die Balken und Wände lange vor ihrer Geburt eigenhändig zusammengefügt und ihm dieselbe Ruhe eingehaucht hatte, die er selbst verströmte. Ein weiterer Grund war, dass der Dachboden dieses Hauses die Villa Liliput beherbergte. Sie hatte Trixie gehört, Opas Frau. Das war vor dem Unfall gewesen, der sie getötet hatte und Myra beinahe das Leben gekostet hätte. Im Haus war es sicher, weil die Villa Myras Seele ein Zuhause bot, und zwar auf eine Weise, die sie selbst nicht in Worte fassen konnte. Mit ihrer Hilfe hatte sie die Möglichkeit, neue Welten zu entdecken. In einem leichter zu handhabenden Maßstab. Und sie im Handumdrehen verschwinden zu lassen, ein Geheimnis, das Myra mit dem Haus teilte.
Für Myra waren die Wände dieses Hauses die Grenzen ihres Lebens. Sie verschloss sich wie die Villa selbst, und ihr eigener Körper diente als Tür. Ihre einzige Freundschaft existierte nur deshalb, weil Gwen sie mit schierer Willenskraft am Leben erhielt. Und auch mangels anderer Alternativen. Wenn Gwen - erst nach der Schule, später nach den Kursen am College und schließlich nach den Seminaren an der Universität - die Speichertreppe heraufgestürmt kam, traf sie Myra stets an genau demselben Ort an wie schon am Vortag: im Haus, auf dem Dachboden und beim Einrichten von Zimmern, die damals außer ihnen beiden nie ein Mensch sah.
Bis Gwen endlich, vor sechs Monaten, mit dem Fuß aufgestampft und verkündet hatte, die Villa sei zu schön, um sie dem Rest der Welt vorzuenthalten. Entnervt hatte sie den Ausdruck von Myras letzter Kurzgeschichte in die Luft geworfen und gebrüllt, es sei allmählich an der Zeit, den Hunderten von Textseiten ein Dasein unter Menschen zu ermöglichen, die sie auch lasen. Wenn du dich selbst schon nicht zeigen willst, zeig wenigstens deine Arbeiten. Erzähl die Geschichte deiner Projekte. Lade die Welt zu dir ein.
Nun war es zu spät, diese Einladung zurückzunehmen. Weder Gwen noch die unzähligen virtuellen Besucher, die sie angelockt hatte, würden sich wieder verscheuchen lassen. Und deshalb hatte Myra jetzt diese Teekanne am Hals. Nein, es waren sogar Unmengen von Teekannen in den verschiedensten Größen und Dekors. Kartons und Taschen, die von Teekannen, Kaffeekannen und Kakaokannen schier überquollen. Es befanden sich sogar zwei winzige Samoware aus Messing darunter. Und sie alle wetteiferten um einen Platz in der Villa. Geistesabwesend berührte Myra die Eichel aus Lapislazuli an ihrem Hals und ließ sie an ihrem Kettchen hin und her gleiten. Dabei musterte sie weiter die Bibliothek. In den auf Kirschbaumholz gebeizten Regalen standen die Werke von Plath und Baudelaire und warteten darauf, dass vor dem marmornen Kamin mit den fröhlich flackernden, aufgemalten Flammen der Teetisch gedeckt wurde.
Diese Teekanne will Teil des Zimmers sein, wird sich jedoch niemals wirklich integrieren.
Myra wusste genau, was diese Teekanne empfand.
Nachdem sie sie wieder eingepackt hatte, wischte sie sich die Hände an den Hosenbeinen ab, um auch die letzte...
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