Schweitzer Fachinformationen
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Seit Stunden irrte Eileen nun schon durch das Appartement in Kensington, schaltete Musik ein, den Fernseher, stellte beides wieder ab, schlug ein Buch auf und wieder zu, konnte sich auf nichts konzentrieren. Mit Schaudern musste sie wieder und wieder an die kurze Szene mit dem Demonstranten in dem Sträßchen denken. Sie war immer noch so aufgewühlt, dass sie noch nicht einmal etwas gegessen hatte.
Zu gern hätte sie mit Steven darüber gesprochen. Zweimal hatte sie inzwischen mit ihm telefoniert, jedoch keine Gelegenheit gefunden, das Thema zur Sprache zu bringen. Jedes Mal war die Verbindung schlecht gewesen, das zweite Mal sogar nach wenigen Sekunden abgebrochen. Steven war kurz angebunden gewesen, mit den Gedanken auf der Straße oder vielleicht schon bei der Fähre, die er Angst hatte zu verpassen.
Wenn sie mit ihm hätte sprechen können, hätte sie sich nicht so aufgewühlt und hilflos gefühlt. Andererseits bezweifelte sie, dass er ihr überhaupt zugehört hätte. Er schien nur noch an seine Rose zu denken, an diese letzte Reise zu ihr, was immer er sich davon versprach. Ob er danach wieder der Steven war, in den sie sich verliebt hatte? Der Steven, den sie kannte? Aber kannte sie ihn denn wirklich?
Voller Unrast strich sie durch die Räume, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte. Vielleicht ein Stück von Vertrautheit, einen Pullover oder eine Strickjacke, irgendetwas von Steven, das sie an ihn erinnerte, das nach ihm roch, beruhigte. Sie brauchte jetzt etwas, woran sie sich festhalten konnte.
In gewisser Weise ersetzte die Arbeit im »arts and more« ihr die Therapie, zu der Steven sie immer wieder zu überreden versuchte. Sie brachte sie nicht nur auf andere Gedanken, sondern verlieh ihr Selbstbewusstsein und schenkte ihr Lebensfreude. So gern sie ihre Zeit mit ihm verbrachte und in der Sonne Südenglands das gemeinsame Leben genoss - zu oft überfielen sie bei all dem angenehmen Nichtstun urplötzlich Panikattacken. Der Vorfall in der Bear Lane hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie leicht ihr das Hier und Jetzt entglitt. Wie rasch sie die Kontrolle verlor, von einer Sekunde zur anderen.
Auch nach acht Jahren noch suchten die Anfälle sie heim. Bei Weitem nicht mehr so häufig wie früher, auch die Albträume hatten nachgelassen. Dennoch erwachte sie wie Steven nachts oft schweißgebadet und fand lange keine Ruhe mehr. Und seit sie Lagos verlassen hatte, kam auch noch die ständige Angst vor Onkel Charly hinzu. Überall auf der Welt würde er sie aufspüren. Weil er sie töten wollte, dessen war sie sich sicher. Seinetwegen hatte sie ihr blondes Haar schwarz gefärbt, einen neuen Namen angenommen, sich eine Bulldogge angeschafft, zusätzliche Schlösser montieren lassen und Alarmanlagen hinten und vorn und oben und unten.
Wenn Steven bei ihr war, gelang es ihr meist, ihre Ängste im Zaum zu halten. Doch ohne ihn war das Cliff House leer und still, selbst die Wohnung, die sie nach ihrer Ankunft in England gekauft und bezogen hatten, fühlte sich noch ein wenig verlassener und kälter an.
Und nun wurde ihr auch noch Steven fremd. Im Grunde wusste sie kaum etwas von ihm. Sie kannte keinen seiner Freunde, falls er überhaupt noch welche hatte. Nie hatte er ihr jemanden aus seinem früheren Leben vorgestellt, auch seine Heimatstadt Liverpool hatte er ihr nicht gezeigt. Stattdessen überfiel er sie auf einmal mit dieser rätselhaften, dieser unfassbaren Geschichte .
Die IRA war ihr natürlich ein Begriff. Doch zur Zeit der Anschläge war sie noch ein Kind gewesen, das im fernen Detroit aufwuchs, mit völlig anderen Sorgen als Tochter eines arbeitslosen Alkoholikers und einer billigen Fast-Nutte. Und von der Real IRA oder einer in Schottland verschwundenen Atomrakete hatte sie erst recht noch nie etwas gehört.
Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, mehr über Steven zu erfahren. Über seine Vergangenheit. Tief in ihr schwelte die Sorge, dass er ihr noch nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Um sie zu schonen, in die Sicherheit zu wiegen, die sie so bitter brauchte.
Sie hetzte in die Bibliothek, den hintersten Raum der Hundertachtzig-Quadratmeter-Wohnung, die im Gegensatz zum Cliff House modern eingerichtet war. Hier war kaum etwas verschnörkelt oder prunkvoll, hier dominierten helle Farben, klare Linien, kubische Formen. Nur da und dort wurde das minimalistische Design von farbenprächtigen Kunstwerken aus Afrika oder den in Gold gerahmten, mit Efeuranken und Putten verzierten Spiegeln durchbrochen, die Steven so liebte, eine seiner Eigenarten, die sie immer wieder erstaunte.
Eileen setzte sich an den gläsernen Schreibtisch, schaltete das Notebook an, tippte »Bombenanschlag Omagh« in die Suchmaschine ein und erzielte seitenweise Treffer.
Die Artikel und Textausschnitte, die sie überflog, deckten sich mit dem, was Steven ihr berichtet hatte. Die RUC, die Royal Ulster Constabulary, hatte schon im Vorfeld von dem Anschlag erfahren. Doch man hatte dem Informanten nicht vertraut und die Sache nicht ernst genommen. Deshalb hatten so viele Menschen ihr Leben lassen müssen, eine Katastrophe für sie und die Hinterbliebenen und ein Skandal für das Königreich, der nur aufgrund der Hartnäckigkeit der betroffenen Familien aufgedeckt worden war.
Auch Fotos klickte sie an, sogar einen Film auf YouTube entdeckte Eileen. Eine zerstörte Geschäftsstraße, Gebäude in Schutt und Asche, Verletzte, herumirrende Menschen. Das Rot der Feuerwehrautos schien röter als das Blut inmitten der Trümmer. Hastig klickte sie das Video weg.
Eileen suchte weiter. In einem Blog diskutierte man Gerüchte, die Real IRA, die sich zu dem Anschlag bekannt hatte, habe versucht, in Kroatien Sprengstoff und Waffen zu kaufen, unter anderem auch Raketenwerfer. Angeblich hatte sich die Splittergruppe der IRA seinerzeit sogar für Mittelstreckenraketen und Atomsprengköpfe aus sowjetischen Beständen interessiert, um damit London zu beschießen. Auch diese Information gelangte erst nach und nach an die Öffentlichkeit, vermutlich, um eine Massenpanik zu verhindern, ausgelöst durch das Szenario einer auf Westminster abgefeuerten Atomrakete mit Millionen von Toten. Der Parlamentsausschuss, der Jahre später das Verschwinden der Polaris-Rakete in Schottland untersuchte, stand unter der Leitung eines gewissen Alan Scott, dem damaligen Secretary of State im Ministry of Defence.
Zu dem Anschlag auf Steven Huntington und Rose Rymore entdeckte Eileen ebenfalls Zeitungsartikel, wenn auch nur wenige. Auch hier war alles so, wie Steven es geschildert hatte. Alles bis auf ein winziges Detail: In dem Text, der kurz nach Rose' Tod im Guardian erschienen war, hieß es, sie sei während der Verlegung in eine Spezialklinik in Kent ihren schweren Verletzungen erlegen.
Hatte Steven nicht gesagt, Rose sei in einem Londoner Krankenhaus gestorben? Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Und warum hätte er sie ausgerechnet in diesem völlig nebensächlichen Punkt belügen sollen?
Eileen klappte das Notebook zu, suchte nach ihrem Smartphone, wählte Stevens Nummer, ging wieder auf und ab. Nur die Voicebox meldete sich. Vielleicht fuhr er genau in diesem Moment auf die Fähre und hatte keinen Empfang. Sie überlegte, ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte, mit der Bitte um Rückruf, wünschte ihm dann aber nur eine gute Überfahrt und beschloss, die Vergangenheit für heute ruhen zu lassen.
Doch das ging nicht so einfach, ihre Gedanken ließen sich nicht abstellen. Ein winziges Detail nur, bestimmt völlig bedeutungslos. Das Misstrauen in ihr, diese gemeine Schlange, war immer noch wach und züngelte nach allen Seiten.
Noch einmal setzte Eileen sich an den Computer. Der Name des Journalisten, der den Artikel verfasst hatte, lautete Roger Lee Burns. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es halb elf war. In Zeitungsredaktionen wurde oft bis Mitternacht gearbeitet. Einen Versuch war es wert.
Es dauerte eine Weile, bis Eileen Burns am Apparat hatte. Seine Stimme klang brummig, doch nicht unsympathisch.
»Rose Rymore? Vor acht Jahren?« Er lachte gutmütig, nachdem sie ihm die Hintergründe ihres Anrufs erläutert hatte. »Sorry, Mrs Brown, aber haben Sie auch nur den Hauch einer Vorstellung, wie viele Artikel ich pro Jahr schreibe? Beim besten Willen, ich kann mich an den Vorfall wirklich nicht erinnern.«
»Aber wenn die Frau zu dem Zeitpunkt schon transportfähig war«, warf Eileen ein, »wie kann sie dann ihren schweren Verletzungen erlegen sein?«
»Vielleicht hat man sie genau deshalb verlegt - weil man ihr nur in der Spezialklinik helfen konnte. Mit unserem NHS ist es nicht weit her. Sie als Amerikanerin wissen das vielleicht nicht, aber damals war das englische Gesundheitssystem leider auch nicht besser als heute. Oder meinen Sie, dass da irgendetwas vertuscht wurde - ein medizinischer Kunstfehler oder wie?«
»Nein. Es ist mir nur aufgefallen, und da dachte ich .«
»Die Ärzte lassen sich nicht gern in die Karten schauen, da haben Sie schon recht«, sagte Roger Lee Burns in seinem gemütlichen Ton. »Aber die Sache ist wirklich ewig her, wen interessiert das heute noch?« Wieder lachte er. »Nichts für ungut, Mrs Brown, aber wenn ich es so geschrieben habe, dann wird es wohl so gewesen sein, und ich muss dann auch wieder. Einen schönen Abend noch.«
Enttäuscht, verwirrt und ein wenig gekränkt legte Eileen das Festnetztelefon zur Seite. Plötzlich stellte sie fest, dass sie hungrig war, und lief nach vorne in die Küche, um den Kühlschrank zu inspizieren. Alles, was sie fand, war ein nicht mehr ganz taufrischer Mince Pie. Mit fliegenden Fingern...
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