Schweitzer Fachinformationen
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Frühmorgens an einem heißen Tag Mitte Juni. Hinter dem Kalksteinplateau der Murge in der süditalienischen Basilikata guckt die Sonne hervor. Sie bringt die Luft zum Erröten, lässt die Kornfelder in den unzähligen Farben des Goldes erstrahlen, weckt spärliche Mohnblumen auf und taucht die Sassi, die Höhlensiedlungen von Matera, in ein leuchtendes Rosa, das ins Gelb spielt. Die Stadt schläft noch, doch zwischen den Häusern und unten in den zerklüfteten Schluchten hallt bereits das Gezwitscher der Schwalben wider.
Die Botschafterinnen des Frühlings schießen durch die engen Gassen, deren Steinpflaster vom ständigen Getrappel glatt poliert ist. Sie spielen Verstecken zwischen den porösen Mauern, an denen sich da und dort Kapernsträucher hochranken. Sie stürzen sich ins Tal hinab und gleiten im Tiefflug über den Wildbach Gravina, mit offenem Schnabel, um ein wenig Wasser aufzufangen und ihren Durst zu löschen. Dann steigen sie wieder hoch und machen sich erneut auf die Jagd nach Fliegen und Mücken. Den Schnabel voller geflügelter sechsfüßiger Leckerbissen, fliegen sie zum Nest, wo die kreischenden Jungschwalben sie erwarten. In ein paar Stunden, wenn die Luft sich erwärmt hat, werden die Rötelfalken auf der Suche nach Heuschrecken, Maulwurfsgrillen und Libellen über die vor Kurzem gemähten Kornfelder fliegen. Kleine und elegante Falken mit ziegelrotem Rücken und blassen, messerscharfen Krallen.
Beide kamen zu Beginn des Frühlings nach Europa, die einen etwas früher, die anderen später. Dort trafen sie ihre Partner wieder und bezogen das am Ende des vorigen Sommers aufgegebene Nest. Die anspruchsloseren Rötelfalken begnügten sich mit Spalten in den Kalkmauern, Nischen an Denkmälern und Hohlräumen unter den Dachziegeln, um eine Familie zu gründen. Die akkurateren Schwalben richteten die alte Bleibe wieder her, indem sie Erdkrümel und Grashalme mit Speichel verklebten, um Risse zu reparieren und den Rand des Nestes zu glätten. Dann sammelten sie feinste Federn, um damit das Nestinnere auszukleiden und es für die Eier und den Schwalbennachwuchs weich und behaglich zu machen. Jetzt, zu Beginn des Sommers, richtet sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Neugeborenen.
Ende August aber, wenn die jungen Rötelfalken völlig selbstständig und auch die Jungschwalben flügge sind, wird es Zeit, wieder aufzubrechen. Sobald der Abend hereinbricht, sammeln sich die Falken im Schlafsaal einer großen Strandkiefer im Zentrum von Matera. Dasselbe tun die Schwalben, im Röhricht oder auf den Strom- und Telefonleitungen vor den Ställen oder Garagen, in denen sie gebrütet haben. An einem der letzten August- oder ersten Septembertage verlassen sie dann das Land, um über die Sahara hinweg in den tiefen Süden zurückzukehren, wo sie den Winter verbringen. Am Ende des Winters beginnen sie aufs Neue: Sie kehren nach Europa zurück, pflanzen sich fort und fliegen wieder nach Afrika, Jahr für Jahr, ein Leben lang, in einer endlosen Reise: der Migration.
Doch nicht nur Schwalben und Rötelfalken wandern. Über unseren Planeten ziehen Milliarden von Wandertieren: Vögel, Meeres-, Land- und Flugsäugetiere, Fische, Amphibien, Reptilien, Insekten und andere wirbellose Tiere. Die Giganten der Meere, die Wale, wandern ebenso wie einige der anmutigsten Tiere: die Schmetterlinge. Klein oder groß, allein oder in Gruppen, legen sie jedes Jahr Tausende von Kilometern zurück und nehmen dabei auf unsicheren Routen Schwierigkeiten und Gefahren in Kauf, die sie das Leben kosten können. All das, um sich fortzupflanzen und genügend Nahrung zu finden. Doch wie schaffen sie es, ihren Bestimmungsort zu erreichen? Wie orientieren sie sich dabei und wie gelingt es ihnen, jedes Jahr genau an den Ort zurückzukehren, an dem sie geboren wurden? Und vor allem: Warum wandern sie überhaupt?
Auf diese und weitere Fragen suchte der Mensch in seiner Neugier seit jeher eine Antwort. Doch die ersten Hypothesen darüber waren, gelinde gesagt, voll blühender Fantasie.
Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte Aristoteles festgestellt, dass die Schwalben im Winter fortblieben und im Frühling wiederkamen. Doch trotz seines Scharfsinns und der umfassenden Arbeit an der Historia animalium gelang es dem griechischen Denker nie, das Geheimnis zu lüften. Tatsächlich ist er ihm noch nicht einmal nahegekommen.
Die gängigste Auffassung jener Zeit war, die Vögel flögen bis zum Mond, um dann im Frühling auf die Erde zurückzukehren. Oder sie ließen sich im Herbst im Laubwerk der Bäume nieder, um beim Fallen der Blätter auch ihr Federkleid abzulegen und sich in Zweige zu verwandeln. Laut Aristoteles verwandelten sich die Rotkehlchen nach dem Ende des Winters in Rotschwänzchen: Die rötliche Farbe würde von der Brust auf den Schwanz übergehen. Heute wissen wir, dass beide derselben zoologischen Familie, jedoch verschiedenen Arten angehören. Die merkwürdigste und zugleich langlebigste Erklärung betrifft jedoch die Wanderung der Schwalben. Laut Aristoteles ließen sich die Schwalben am Ende des Sommers auf den Schilfrohren der Seen nieder, verlören ihr Gefieder und verwandelten sich in Frösche. Sie verbrächten den Winter als Amphibien, um dann im Frühling wieder mit leuchtend blauen Flügeln aus dem Wasser aufzutauchen.
Heute entlockt uns diese Hypothese ein Lächeln, doch bis ins 18. Jahrhundert hinein waren sogar Wissenschaftler wie Linné und Cuvier bereit, auf den Wahrheitsgehalt dieser Theorie zu schwören, wobei sie sich auf "schlagende Beweise" stützten: die Erzählungen von ein paar Fischern, die "erstarrte" lebendige Schwalben unter der gefrorenen Oberfläche eines Sees gesehen haben wollten. Das einzig Wahre an der Geschichte ist, dass sich die Schwalben, bevor sie nach Afrika ziehen, zu Tausenden in kleinen Grüppchen versammeln und oft auf Schilfrohren niederlassen, um dort gemeinsam die Nacht zu verbringen und im Morgengrauen loszufliegen.
Aristoteles hat sich freilich nicht nur für die Zugvögel interessiert. Er hatte auch über den Roten Thun eine Theorie: Im Winter versteckten sich diese Fische in eiskalten und sehr tiefen Gewässern, um sich im Frühling wieder den Küsten zu nähern. Plinius der Ältere hingegen beschreibt einige Jahrhunderte später in seiner Naturalis historia die Wanderung der Kraniche, einer Vogelart, die zu jener Zeit gejagt wurde. Er bewundert die V-Form des Schwarms, die hilfreich ist, um die Luft zu durchschneiden. Aber auch hier vermischen sich Wissenschaft und Fantasie. Nach Plinius gibt es im Schwarm einen "Wächter", der die Aufgabe hat, die Gefährten während des Fluges wach zu halten und sie vor einer etwaigen Gefahr zu warnen, wenn sie zum Rasten anhalten. Dazu muss der Wächter mit dem Fuß einen Stein festhalten: Wenn er einschläft, wird er ihn fallen lassen, und die anderen Kraniche merken dann, dass er seine Pflicht vernachlässigt hat.
Wir müssen weitere 1.000 Jahre warten, um genauere Kenntnisse zu erhalten, zumindest über den Vogelzug. Bis nämlich der Stauferkönig Friedrich II. in seinem De arte venandi cum avibus - einer Abhandlung über die Falknerei mit über 500 Illustrationen - etwa 80 Vogelarten, das Verhalten der Schwärme, die zeitlichen Abläufe der Wanderung und einige Besonderheiten des Gefieders und des Fluges beschreibt.
Die ersten Fragen der Wissenschaft zum Phänomen der Wanderungen gibt es jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts. Angefangen mit der wichtigsten: Warum unternehmen die Wandertiere eine so lange und gefährliche Reise? Wäre es nicht besser für sie, immer am gleichen Ort zu bleiben?
Die meisten wandernden Tierarten leben an Orten mit wechselnden Jahreszeiten. Und sehr oft bringt es der Wechsel der Jahreszeiten und der Produktionszyklen mit sich, dass die günstigen, auch im Winter nahrungsreichen Gegenden nicht die besten sind, um sich fortzupflanzen. Der beste Ort, um sich zu ernähren, ist also nicht unbedingt der beste, um die neue Generation zur Welt zu bringen, und umgekehrt. So sind die Wandertiere zum Ziehen gezwungen, um extremer Hitze oder Kälte zu entfliehen und um ideale Bedingungen für die Fortpflanzung und genügend Nahrung für sich selbst und den Nachwuchs zu finden.
Für die Zugvögel, die im Frühling in Europa eintreffen, ergeben sich zwei große Vorteile. Zum einen finden sie in dieser Zeit in unseren Breiten eine Fülle von Blüten, Früchten und Insekten. Zum anderen werden die Tage länger: Sie haben also mehr Stunden Tageslicht zur Verfügung, um Nahrung zu sammeln. Das heißt, sie können in kurzer Zeit mehr Nahrung finden und dadurch vielleicht sogar mehr als eine Brut aufziehen. Würden sie dagegen in Afrika bleiben, hätten sie diesen ganzen Überfluss nicht. Wenn in Europa der Sommer zu Ende geht und der Winter naht, ziehen sie es vor, nach Afrika zurückzukehren, wo sie einen neuen "Frühling" vorfinden. Dasselbe gilt für viele andere Arten, die in andere Kontinente ziehen.
Man reist also, weil die Vorteile, die sich aus der Ankunft am Zielort ergeben, den Aufwand rechtfertigen: Man könnte...
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