Schweitzer Fachinformationen
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Die meisten, die in ihren Träumen fallen, wachen auf, bevor sie am Boden aufkommen.
Sie nicht.
Sie träumte davon zu fliegen.
Im Bruchteil der Sekunde, bevor sie zu Boden stürzte, breitete sie die Arme weit aus und spreizte ihre Finger wie Federn, ein Vogel im Sturzflug.
Die Luft trinken.
Die Wolken küssen.
Den Horizont mit einem großen, herrlichen Schluck leer trinken.
Bis eine wütende rote Sonne sie vom Himmel brannte ...
Und nichts blieb als der Geschmack von Asche in ihrem Mund.
Danach wachte sie allein und orientierungslos auf ihrem harten Bett aus Holzpaletten auf, das auf dem Dachboden des Armenhauses von Camden stand, und notierte mit einem Bleistift das Datum neben all den anderen auf dem abblätternden Putz. Dann kauerte sie sich wieder unter ihre kratzige Decke und dachte vor dem Aufstehen an all die Dinge, die sie verpasste.
Das Frühstück bestand aus Resten der mageren Mahlzeit, die ihr am Vortag nach oben gebracht worden war. Von ihrem Blechteller fütterte sie die harten Krumen den tapferen Vögeln, die sich auf ihre Fensterbank setzten. Sie streckte ihre Hände durch die Gitterstäbe und bot ihnen Brösel an.
Wenn sie fertig waren, sah sie ihnen zu, wie sie über die Hausdächer hinwegglitten, und sie wünschte sich, auch sie könnte sich so hoch in die Luft emporschwingen. Doch sie konnte genauso wenig fliegen, wie sie auch nur einen Fuß vor die Tür des Zimmers setzen konnte. Sie war schon so lange eingesperrt, dass sie vergessen hatte, wie die Jahreszeiten schmeckten.
Die einzige Person, die sie hin und wieder zu Gesicht bekam, war der Küchenjunge. Jeden Nachmittag schlenderte er über den Hof und zog an dem knarzenden Flaschenzug, um einen Korb mit Essen zu ihr nach oben zu befördern; manchmal schickte er ihr auch eine Nachricht mit. Wenn es Zeit war, den Teller zurückzugeben, legte sie ihm gerne ein Geschenk und eine Antwort bei.
Im Frühling schickte sie ihm leere Eierschalen aus den Nestern der Hausspatzen; im Sommer Federn von den sich mausernden Tauben; im Herbst Kastanien, die sie aus den stacheligen grünen Hüllen pulte, die auf die Dachschiefern fielen; im Winter waren es weiße Knöchelchen, die von den aasfressenden Krähen sauber abgenagt worden waren.
Sie erfreute sich an seinem überraschten Gesicht, wenn er ihre Geschenke bekam. Seine winzigen Augen leuchteten unter seinem dunklen Haar und sein belustigtes Grinsen ließ sein gebräuntes Gesicht strahlen. Sein Lächeln war das Einzige, das sie je sah.
Bis zu dem Tag, an dem die Besucherin kam.
Das Knarren der Treppe und das Rasseln von Schlüsseln im Schloss kündigte ihr Kommen an.
Dann öffnete die Besitzerin des Armenhauses, Miss Cleaver, die Tür, trat ein und gab ihr das Zeichen, sich von ihrem Bett zu erheben.
Die Besucherin wischte sich eine Strähne ihres silbernen Haars aus dem Gesicht, trat hinter Miss Cleaver hervor und lief durch die Dachbodenkammer auf sie zu.
»Guten Morgen, Angela. Ich bin weit gereist, um dich kennenzulernen.«
Angela, ja, das war ihr Name. Es war lange her, dass sie ihn gehört hatte. Sie wollte den Gruß erwidern, doch als sie ihren Mund öffnete, um zu antworten, lagen ihr die Worte weder auf der Zungenspitze, noch versteckten sie sich tief in ihrem Inneren. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber manchmal, wenn sie nervös war, bekam sie einfach keinen Ton heraus. Es war Ewigkeiten her, seit sie zum letzten Mal mit jemandem gesprochen hatte, und sie wusste kaum noch, wo sie ihre Antworten abgespeichert hatte.
Die Besucherin kam näher, strich eine Falte in ihrem himmelblauen Kleid glatt und hielt neben Angelas Bett inne. Sanftes Sonnenlicht fiel durch das vergitterte Fenster hinter ihrem Kopf und ließ engelsgleiche goldene Strahlen in ihren grauen Locken aufblitzen.
»Kannst du laufen?«, fragte die Besucherin.
Anstatt zu antworten, warf Angela ihre kratzige Decke zur Seite, griff nach ihrem Stock und mühte sich auf die Beine.
Die Besucherin bot ihr ihre Hand an. »Möchtest du mich gerne auf eine kleine Reise begleiten?«
Angela zögerte. Wie oft schon hatte sie sich gewünscht, den Dachboden zu verlassen, doch jetzt, da die Freiheit zum Greifen nahe war, hatte sie Angst. Die Fremde konnte doch bestimmt nicht schlimmer sein als das Armenhaus oder Miss Cleaver? Sie machte keinen schlimmeren Eindruck, aber so ein Eindruck konnte täuschen.
Angela rieb sich die Augen und starrte die Besucherin ohne zu blinzeln an, die ihr zur Erwiderung ein schwaches Lächeln schenkte.
»Nimm meine Hand. Ich verspreche dir, dass wir an einen ganz besonderen Ort gehen werden. An einen sicheren Ort. Und wenn wir dort ankommen, werde ich dir helfen, deine Flügel zu finden. Möchtest du das gerne?«
Angela nickte. Ja, das wollte sie. Sie wollte es sogar sehr. Es war, als hätte die Besucherin direkt in ihre Träume geblickt.
Doch wie sollte diese Dame, die aussah, als hätte sie sich kein einziges Mal in ihrem Leben um irgendetwas bemühen, auch nur einen Finger rühren müssen, ihr, einem zerbrechlichen Waisenmädchen, das Fliegen beibringen?
Um das herauszufinden, musste sie alles riskieren.
Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick durch den staubigen Raum schweifen, dann griff sie nach der Hand der Besucherin und hielt sie fest in der ihren.
Hast du jemals deinem Herzschlag gelauscht und dich gefragt, wie es eigentlich tickt?
Lily Hartman hatte genau das getan. Und zwar viele Male.
Äußerlich war sie ein ganz gewöhnliches junges Mädchen mit flammend rotem Haar, rosigen Wangen und Augen in der Farbe des tiefen grünen Ozeans. Doch innerlich unterschied sie sich so von anderen Menschen, wie sich Kreide von Käse unterscheidet, oder Zahnrädchen von Knochen.
Das rührte daher, dass Lily das Cogheart hatte - das Ewige Herz, das aus einem Uhrwerk bestand. Ein mechanischer Apparat mit Federn und Zahnrädchen, der sich in ihrem Brustkorb befand. Seit sie vor einem Jahr erfahren hatte, dass sie das Ewige Herz besaß, hatte sich Lily viele Gedanken über die einzigartigen Eigenschaften des Ewigen Herzens gemacht.
Allem Anschein nach war es unzerstörbar - ein Perpetuum mobile. Lily wusste nicht genau, was das sein sollte, aber Papa hatte Anspielungen gemacht, dass es bedeutete, sie - oder zumindest das Herz - würde immer weiter existieren. Mit der Vorstellung eines ewigen Lebens konnte sich Lily nicht so recht anfreunden. Der Gedanke daran, alle zu überdauern, die sie jemals gekannt und geliebt hatte, war nicht sonderlich verlockend. Er vermittelte Lily das Gefühl, kein natürlicher Mensch, sondern eher die Laune eines Erfinders zu sein ...
Zumindest betrachtete sie sich als solche, wenn sie über derlei Dinge grübelte - auch wenn sie versuchte, dies zu vermeiden, da es so viel anderes gab, worüber man nachdenken konnte. Heute zum Beispiel war der dreiundzwanzigste September und ihr vierzehnter Geburtstag.
Lily war froh darüber, dass ihr unglückliches dreizehntes Lebensjahr nun der Vergangenheit angehörte. Es war eine Zeit voller Schwierigkeiten gewesen, eine Zeit voller gefährlicher Situationen, die sie ohne die Hilfe ihrer Freunde nie überstanden hätte. Dass dieses Jahr jetzt vorüber war, war definitiv ein Grund zum Feiern.
Das Problem war nur, dass niemand feierte.
Weder ihr bester Freund Robert noch Malkin, ihr Mechantier-Fuchs, noch Papa noch die Mechan-Köchin und Haushälterin Mrs Rust. Noch nicht einmal Captain Springer, Mr Wingnut oder Miss Tock - die restlichen Uhrwerkdiener, der Gut-Brackenbridge-Brigade. Kein Einziger von ihnen!
Das fühlte sich geradezu kriminell ungerecht an und schlichtweg skandalös! Und das Schlimmste daran war, dass Papa ihr Geburtstagsfest auf morgen vertagt hatte, genauso gut hätte er es gleich ganz abblasen können.
Stattdessen sollte es später am Abend eine große Zusammenkunft im Speisesaal geben, die nicht etwa stattfand, um ihren vierzehnten Geburtstag zu feiern - wie man hätte erwarten können -, sondern um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Gilde der Mechanisten Papa für seine Forschungsarbeit an Mechanern und Mechantieren so etwas wie einen Preis für sein Lebenswerk verlieh ... oder so ähnlich.
Ehrlich gesagt, so ganz genau wusste es Lily nicht, da sie in dem Moment aufgehört hatte zuzuhören, als er gesagt hatte, dass ihre Geburtstagsfeier wegen der Preisverleihung nicht stattfinden könne. Natürlich hatte er sich bei ihr entschuldigt, aber der Termin stand fest. War schon vor Langem fix gemacht worden. In Stein gemeißelt. Und konnte deshalb nicht verschoben werden.
Daher also hatte Lily den ganzen Tag Trübsal geblasen.
Das Schwierige dabei war nur, einen geeigneten Platz zum Trübsalblasen zu finden, da man im gesamten Haus mit den verklirrten Vorbereitungen für Papas »besonderen Termin« beschäftigt war.
Um zehn nach fünf hatte Lily schließlich einen Platz auf der Treppe gefunden. Sie hatte sich sogar umgezogen und trug jetzt ihr hellrotes Abendkleid - ihr Lieblingskleid, weil es das Einzige war, das Taschen hatte, und weil sie sich darin von der düsteren Tapete im Korridor abhob. (So würde der gesamte Haushalt ihre schlechte Laune vielleicht doch noch bemerken und was für eine Märtyrerin sie doch war.)
Doch bislang schenkte ihr niemand Beachtung.
Durch die geöffneten Türen des Speisesaals beobachtete sie, wie sich Papa in seinem weißen Seidenhemd und seinem eleganten schwarzen Frack nervös durch sein zurückgekämmtes Haar fuhr. Er gab Mr Wingnut, einem der Mechaner, noch ein paar letzte Anweisungen...
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