Welga
Inhaltsverzeichnis Eine nordische Legende.
Hörst du, wie die Möwe über dem wogenden und aufgeregten Meere klagt?
In nebliger Ferne, gen Westen verlieren sich die dunklen Wasser; in nebliger Ferne gen Norden entschwindet der felsige Strand. Es ist kalt und windig. Der dumpfe Lärm der Meereswogen, bald schwächer bald stärker - wie das Raunen des Kiefernwaldes, wenn anschwellend über seine Wipfel der Sturm geht - tönt tief und gewaltig aufseufzend unter dem Schrei der Möwen . Siehst du wie einsam und obdachlos sie kreist und weiß schimmert im trüben Herbstnebel und sich wiegt im Winde auf ihren elastischen Schwingen?
Das prophezeit Unwetter. Nachts zieht das Gewitter herauf. Der Tag wird düsterer und düsterer schon seit dem frühen Morgen. Hier auf diesem ungastlichen nordischen Meere, auf seinen öden Inseln und Ufern herrscht das ganze Jahr Ungewitter. Jetzt aber ist es Herbst und im Herbst ist der Norden noch trauriger. Das Meer bäumt sich düster auf und nimmt eine dunkle Eisenfarbe an. Von der Ferne erscheint sein Spiegel höher als der Strand und entschwindet tosend in die unermeßliche, neblige Weite gen Westen, während der Wind immer toller von Sonnenuntergang her die Wogen heranpeitscht und weit hinaus der Möwen Schrei trägt.
Kri-e! tönt es klagend und schrill durch den Wind.
Am Morgen flog sie in unruhigem Bogen über die Brandung. Das Meer umtoste den ganzen Strand unter wallenden Wirbeln, hier wühlte es, in vollem Laufe den Strand stürmend, unter ganzen Wasserstürzen wirbelnden Schaumes mit donnerndem Getöse den Kies auf, dort zersprühte es wie kochender Schnee zischend auf den Steinen und leckte mit breiten Zungen den Strand, glitt aber sofort zurück wie Glas. Die neue wirbelnde Woge unterstützend, zerstob es in der Ferne an den Steinen und sprang empor in die Luft - und weit hinaus erdröhnte der ganze Strand von dem Wellenansturm .
Die Möwe warf sich kreischend in die Wogen, strich geschmeidig hin durch ihre Täler, wurde durch eine neue Welle bis auf den Kamm gehoben und ganz übersprüht von Schaum schwang sie sich hinauf. Der freie Wind trug sie tief hin über das Meer.
Dann war es als würde sie müde. Ein Ungewitterabend sinkt herab und die Möwe wiegt sich schon machtlos im Winde und entschwindet immer weiter, weiß im Nebel schimmernd, vom Strande hinaus ins Meer .
Hörst du, wie klagend ihr Freudeschrei klingt?
Kaum, kaum noch ist sie in der Dämmerung zu sehn.
Hastig sinkt die düstere, sturmschwere Nacht herab; häufiger und häufiger, bald hier, bald dort, schimmern im Meere die grauen Wogenkämme.
Das Tosen der Brandung wächst. Der eiskalte Wind türmt die Wellen und reißt sie herab und trägt die Gischt und den scharfen Duft des Meeres in die Luft.
Kri-e, tönt es irgendwoher aus der tiefen Ferne.
Das ist die vereinsamte Möwe, die sich hin und her wirft .
Höre mir zu, ich will dir unter dem Getöse des wütenden, nordischen Meeres eine alte nordische Legende erzählen.
I.
Lange ist es her, vor undenklichen Zeiten.
Am kalten, nordischen Meere lebte die junge und starke Welga. Gen Sonnenuntergang waren Wasser, gen Osten nur ein sandiger Strand, der nahe hinter dem Dorfe eins wurde mit dem Himmel. Was dort gen Osten war, wußte nicht und wollte Welga nicht wissen. Sie wanderte nie gen Osten. Auch ihr Vater nicht und nicht die Mutter, nicht die ältere Schwester Sneggar. Nur das Meer kannten sie.
Am Meere verlebte Welga ihre Kindheit. Schnell war sie vergangen voll heiterer Lust! Im Winter, wenn das Meer bis zum Himmelsrande selbst seine schwarzen Wogen türmte und der Strand mit weißem Schnee sich deckte, schlief Welga in weichen Eiderdaunen und beim Erwachen sah sie das lustige Herdfeuer in der dunklen, niedrigen Hütte vor sich. Im Sommer, wenn die Sonne scheint, ein warmer Wind weht und leise die Wellen des Meeres plätschern, suchte Welga im Sande nach Eiern des Regenpfeifers und Sturmseglers oder sie lief zur Brandung, legte sich nieder am Strande das Haupt zum Meere gewandt, während die Wellen von oben sie tosend umsprühten . So vertrieb sie sich die Zeit im Sommer, und immer waren mit ihr Irwald und Sneggar. Die dicke Sneggar lachte und sang oft, aber sie konnte nicht so jauchzend schrein und so kühn ins wogende Meer sich werfen wie Welga. Irwald jedoch konnte es, er war gewandt und stets voll jugendlicher Lust.
»Irwald! warum bist du nicht mein Bruder?« sagte Welga zu ihm. »Warum hab ich keinen Bruder, den ich so liebe wie dich, Irwald? Ich hätte nicht nach dir mich den ganzen Winter zu sehnen brauchen.«
Er schaute sie an, lächelte und stürzte plötzlich zum Meere. »Schau, schau, ein Taucher!« schrie er ihr zu. »Wollen wir ihn fangen?«
Und wie der Wind jagten sie einander nach, verschwanden dort, wo in den Höhlen am Strande laut die Stimme wiederhallt, wo die hohen Felsen sich türmen und das schwere Wasser tosend sich bäumt und zwischen ihnen durchgleitet, zischt und brandet, und zurücksinkend in Strahlen von den flachen Steinen herunterrieselt. Dort reizten sie die Wogen, indem sie nahe heranliefen und dann schliefen sie, waren sie müde geworden, einen tiefen, glücklichen Schlaf .
Warum verrauschte so schnell die Kindheit Welgas? . Doch blieb Welga auch später noch lange Zeit voll heiterer Fröhlichkeit. Immer ungeduldiger verbrachte sie die langen Winter in der unter Schnee begrabenen Hütte. Sie wurde vierzehn Jahre alt und Irwald sechzehn und oft fuhr er aufs Meer zum Fischen hinaus. Wie freute sich aber Welga, kehrte er zurück!
»Mein lieber Irwald,« sagte sie zu ihm, »ich möchte weinen, weil du so lange fort warst und möchte lachen, weil ich dich jetzt wiederseh'!«
Aber auch Sneggar wuchs heran und Irwald begann Welga zu vergessen. Er saß oft neben Sneggar und schaute in ihr lustiges Gesicht. Welga folgte ihnen in der Ferne. Sie wollte nicht in Gegenwart der Schwester mit Irwald sprechen, wenn er aber den Strand entlang nach Hause ging, holte Welga ihn ein und begleitete ihn bis zur Schwelle.
»Lieber Irwald,« sagte sie zu ihm, »warum saßt du so lange neben Sneggar? Warum stört der Kummer meine Freude?«
Und Welga begann allein am Strande des Meeres laute, lustige Lieder unter Tränen zu singen. Und wenn Gespielinnen ihr begegneten, verstummte sie und ihr Gesicht ward düster und stolz.
II.
Welgas väterliche Hütte stand einsam, fern vom Fischerdorfe, am steinigen Strande, der von hartem Sand bedeckt war. Zur Flutzeit stieg das Meer bis zur Schwelle des Hauses und die Sturmflut schlug sogar bis an das mit den Häuten des Tauchers umwickelte Fenster. Dann brach Sneggar das lustige Lied ab, legte voll Schrecken die Arbeit nieder und ging vom Fenster fort. Die alte Mutter Welgas flüsterte Beschwörungssprüche und horchte voll Angst auf das Heulen des Windes. Aber Welga fürchtete den Sturm nicht. Mit dem Vater zusammen trat sie auf die nasse Schwelle der Hütte, wickelte die Netze im Winde zusammen, lief ins Wasser hinein und das kalte Wasser umspülte steigend und sinkend ihre nackten Füße, umsprühte sie mit zischender, grauer Gischt und umflocht sie mit blaßgrünem Meergras. Sie zerriß es mit den Füßen und atmete in starken, vollen Zügen den frischen, feuchten Wind, hob ihm den Kopf entgegen, und der Sturm wühlte in ihrem dunkelblonden Haar. So stand sie jung und schlank und ihr Gesicht war kühn und hell, während ihre azurblauen Augen, den Sturm durchbohrend, in die Ferne schauten. Aber nur die Vögel des heiligen Petrus schwebten dort über den kreischenden Schwärmen und liefen mit gebreiteten Fittichen über das Wasser auf den höchsten Kämmen der sich türmenden und zerrinnenden Wasserberge .
Wonach schaute denn Welga aus? Die Mädchen hießen sie die Traurige und die Böse, weil sie nie grundlos lachte und nie mit der Schwester bei der Arbeit sang. Aber nie bis zum fünfzehnten Lebensjahr war Welga traurig und böse. Ihr Herz war voll Lust und Kühnheit wie ein junger Vogel und Welga freute sich des Meeres und des Sturmes, der Sonne und der Erde, ihrer Mädchenfreiheit. Nur war sie ohne Irwald sehr traurig, da sie so gern ihm sagen wollte, wie schön es ist auf der Welt zu leben . Und Irwald war schon lange auf dem Meere. Welga wurde es müde, an den Strand zu gehen und nach den Wellen zu schauen; sie möchte über das Meer hinausschreien, daß sie es müde ist, Irwald zu erwarten, daß er Sneggar nicht lieben darf, wenn Welga ohne ihn nicht leben kann .
Und da der warme Wind von Sonnenuntergang her wehte und die Sonne ins Meer tauchte, kam Welga zur Schwester und sagte ihr: »Liebe Sneggar, willst du, so erzähle ich dir, wie lind der Sommerwind ist, wie leise das Meer atmet und wie weh es mir ohne Irwald ist?«
»Ich will nicht,« antwortete Sneggar, müßig und ruhig auf der Schwelle sitzend.
Welga wandte sich ab und ging von ihr fort. Sie setzte sich am Strande nieder, gesenkten Hauptes, und lauschte lange wie das linde Wasser in der Dämmerung rauschte. Tränen fielen in warmen Tropfen auf ihre Hände.
Plötzlich nahte Irwald im Boot. Sie schrie auf, während er auflachte und ihr befahl, die Fische und Netze ans Land zu bringen. Gehorsam und lange arbeitete sie mit ihm, wobei sie verlegen ihn ausfragte, wohin er gefahren. Als aber der große, blasse Mond über dem Meere aufstieg, ließ sie sich müde im leeren Boote nieder und seufzte unter dem nächtlichen Winde.
»Irwald,« sagte sie, »weißt du, ich habe so lange geweint ohne dich. Ich ging über den Strand und mein Herz klopfte in unruhiger Sehnsucht. Als du aber kamst, ward mir so leicht und wohl und...