18.
Wieder wache ich wie gerädert auf, wieder dieser furchtbare Traum. Ich dachte, es würde besser, wenn die Brillanten aus dem Haus sind. Aber wenn Karin solche Geschichten erzählt, darf ich mich nicht wundern. Vielleicht sollte ich Ritas Vorschlag aufnehmen und einen Zettel an die Tür machen: Brillis sind weg. Ich lache mühsam. Was habe ich aber auch für entsetzliche Sachen geträumt! Von einem schwarzen Gespenst, von einer betrunkenen Frau Ahrens. Ich erinnere mich nicht mehr an die Einzelheiten, aber ich habe allmählich genug von diesen Albträumen. Es ist einerseits faszinierend, was dem Gehirn alles einfällt, aber ich gestehe, wenigstens nachts wäre mir ein etwas sachlicherer Verstand lieber. Schwarzes Gespenst, liebe Güte, geht's noch?
Nanu? Die Sicherheitskette ist vorgelegt? Wann habe ich das denn gemacht? Wahrscheinlich automatisch gestern Abend, weil ich solche Angst vor dem Christoph hatte. Waltraud, so geht das los mit der Vergesslichkeit.
Das Telefon. So früh?
»Hallo Waltraud, hier Ilse, ich habe dich nicht geweckt, hoffe ich. Aber es ist wichtig. Ich weiß ja nicht, wann du heute aus dem Haus gehst.« Oh? Wir haben uns erst gestern gesehen. Was kann.
»Ich habe Paul von deinem Fund erzählt. Ich denke, das ist auch in deinem Interesse, schließlich ist ein weiterer kluger Kopf nicht zu verachten. Ich weiß, dass Rita und du dieses Versteck suchen wollt.«
»He, dann weißt du mehr als ich!«, unterbreche ich sie empört. Da lacht sie. Lacht sie mich aus?
»Paul bestätigt, was Karin gestern vermutet hat, dass an der Rampe im Gebüsch ein Depot für Junkies ist«, übergeht sie stur meinen Einwand. Es führt zu nichts, sie beschwindeln zu wollen. »Moment, woher weiß er das?«
»Ach, dummer Zufall, egal. Da liegt allerlei Zeug herum, alte Transportgeräte für Boote und was weiß ich. Zum Teil verrostet. Ob das extra eingezäunt ist, weiß ich nicht, dabei komme ich oft genug dran vorbei. Wer achtet schon darauf. Geschenkt.« Sie macht eine kleine Pause, wahrscheinlich macht sie jetzt eine entsprechende Handbewegung, fährt schnell fort, ehe ich etwas sagen kann: »Gut möglich, dass man leichter über die Rampe herankommt. Aber das müsste man sich vor Ort ansehen. Genau das, liebe Waltraud, solltet ihr aber nicht tun. Nicht! Verstehst du? Denn wenn Dealer ihre Drogen verstecken, mögen sie das nicht, wenn alte Damen ihnen ins Geschäft pfuschen.«
»Ilse, das waren Diamanten und keine Drogen. Das ist doch eine ganz andere Sache.«
»Heroin kostet auch kein Taschengeld. Könnte dieser junge Mann demnach kein Döspaddel gewesen sein, sondern ein Drogenabhängiger? Oder eher ein Dealer, der auf Stoff aus war? Vielleicht hat er den Beutel zufällig gefunden«, gibt sie zu bedenken.
»Komischer Zufall, Ilse, wieso sollten Diamantenräuber ein Versteck von Dealern benutzen? Die kommen sich ja in die Quere. Kann doch nicht gut gehen.«
»Ich habe es nicht zu Ende gedacht, Waltraud, gut möglich, dass jemand zweigleisig fährt. So, wie du den jungen Mann beschrieben hast, fällt mir eher ein Junkie ein als ein Gauner, der Brillis in Millionenhöhe versteckt.«
»Du sagtest gerade zu recht, dass auch Heroin teuer ist.«
»Ich will nicht mit dir um Worte feilschen, Waltraud. Ich will dich warnen. Begreifst du das nicht? Schnüffelt
da nicht herum, verdammt! Ob Diamantenhändler oder Dealer, das sind beides Menschensorten, die man sich nicht zum Feind macht. Stell dich nicht blöde.«
»Ihr könnt mitkommen, dann sind wir zu viert, dann tut uns niemand was.«
Ilse schnaubt wütend ins Telefon. »Hast du noch alle Tassen im Karton? Ich habe keine Lust, mir eins über den Schädel ziehen zu lassen, und Paul auch nicht. Warum willst du überhaupt dieses Versteck suchen? Reicht es nicht, dass wir um seine Existenz wissen?« Sie wird laut, hui! »Was denkst du, was du findest? Noch einen Beutel? Die Adresse des Besitzers? Herrjemine! Ich weiß, du bist gleich beleidigt, aber das muss ich dir wirklich um die Ohren hauen: Du bist manchmal auf eine Weise dumm, dass es mich schmerzt. Tut mir Leid, Waltraud, wenn ich den Holzhammer gebrauchen muss, weil du subtilere Bemerkungen nicht verstehen willst.«
Ich schnappe nach Luft. Dumm? Ich?
Eine leise Stimme in meinem Kopf lacht höhnisch. Wo sie recht hat, hat sie recht, Waltraud.
»Manchmal bist du ein Dickschädel, ich muss Ilse tatsächlich in diesem Punkt zustimmen«, nickt Rita, als ich ihr beim morgendlichen Gassigehen von Ilses Warnung berichte. Aber ehe ich wirklich einschnappen kann, grinst sie mich an. »Weißt du, Waltraud, wir gehen jeden zweiten Tag am Stadion vorbei. Mindestens. Ich nehme darum an, wenn uns jemand beobachten sollte, was ich nicht einmal sicher annehme, aber sagen wir, es wäre so, dann fällt es doch mehr auf, wenn wir gerade diese Gegend meiden und nicht mehr hingehen. Verstehst du, was ich meine?«
Ich grinse zurück. »Damit hast nun wiederum du recht«, bestätige ich. »Aber bitte, lass uns vorsichtig sein. Nicht im Gebüsch rumrennen oder neugierig herumglotzen.«
Rita guckt beleidigt. »Bin ich mall?«, fragt sie kurz angebunden.
Schweigend gehen wir ein paar Schritte. Versöhnlich bietet sie an: »Wenn die Kaffeebude aufhat, holen wir uns einen, ich lade dich ein. Wir setzen uns auf die Bänke am Wasser. Das ist völlig normal, wie du weißt. Da sitzen immer Leute, auch, wenn der Ausschank zu hat. Zum Glück regnet es nicht, sonst wären wir allerdings etwas auffällig.« Sie lacht fröhlich.
»Ich habe mein kleines Kissen mit, Rita, so kriege ich keinen kalten Po.« Ich klopfe bestätigend auf meine Umhängetasche.
Stumm schlägt auch Rita auf ihre Tasche, nickt. Ich lache laut los: »Wie im Western, wo die Cowboys feierlich auf ihre Colts klopfen. Jetzt müssen wir bloß noch diesen Gang üben.« Breitbeinig stelze ich ein paar Meter voran. Huch, ist das mühsam. Wir lachen und lachen. Ist es die Aufregung? Wie Kinder, die wissen, dass sie gerade eine Riesendummheit planen.
Aber wieso eigentlich? Wieso sollen wir uns verdächtig machen, wenn wir tun, was wir seit Jahren tun, nämlich mit den Hunden spazieren gehen?
Obwohl es kalt ist, hat die Bude auf und ist sogar ganz gut besucht, ist eben Sonnabend. Bremer sitzen immer draußen, wenn es nicht regnet, selbst im tiefen Winter. Wie Rita sagte, ist es völlig unverfänglich, dass wir uns auf eine Bank setzen, sodass wir die Rampe im Blick haben und unseren Kaffee schlürfen.
Nur, wie soll es jetzt weitergehen?, frage ich mich plötzlich und komme mir furchtbar dämlich vor. Durch Herumsitzen und Kaffeetrinken erfahren wir nichts Neues. Aber gerade, weil es ziemlich voll ist, können wir unmöglich im Gebüsch herumstromern. Nicht einmal die Hunde tun uns den Gefallen und rennen herum, wo sie nicht sollen. Sie liegen brav unter unserer Bank und schnaufen zufrieden. Ich will gerade eine entsprechende Bemerkung machen, da stößt Rita mich an und flüstert: »Guck mal unauffällig nach links rüber. Die kennen wir doch!« Tatsächlich! Holger stapft mit breiten Schritten den Weg entlang, erinnert mich an meinen Versuch des Cowboyganges. Aber das Grinsen verkneife ich mir, denn neben ihm geht. Frau Ahrens. Meine Nachbarin. Ach nee.
Ach was, wir sind in Bremen, jeder kennt jeden, weiß man doch. Diese Segler gehen alle miteinander um, das bedeutet nichts.
Er sieht zu uns herüber, erkennt uns und zeigt uns den Stinkefinger! Ja, da hört sich doch alles auf! Das geht aber zu weit.
Da flucht jemand hinter mir am Tisch: »Verdammter Bastard!« Was er noch sagt, verstehe ich nicht, klingt wie Englisch. Ich drehe mich langsam um, als wollte ich die Weser betrachten. Zwei Männer, ein Schwarzer, ein auffallend kleiner Weißer sitzen, vor ihrem Bier, sehen angespannt zu Holger und Frau Ahrens hinüber. War der Stinkefinger womöglich für die gedacht?
Ehe ich auffalle, drehe ich mich wieder um. »Blöde, dass wir nebeneinander sitzen, so entgeht uns, was hinter uns ist«, raune ich Rita zu.
Sie hat den Zwischenfall nicht bemerkt und fragt: »Was meinst du, was soll hinter uns sein?«
»Psst! Nicht so laut!« Im normalen Ton sage ich: »Ich setze mich dir gegenüber hin, da kriege ich die Sonne ins Gesicht.« Mit diesen Worten wechsele ich den Platz. So habe ich die Bank mit den beiden Männern im Blick, beobachte auch, wie dieser Holger mit der Ahrens an der Bude ansteht.
Für die beiden Biertrinker sind wir Luft, ich sehe es an ihrem Blick. Ich schätze sie auf Ende 20, Anfang 30. In dem Alter achtet man nicht auf Menschen jenseits der 50. Die Ahrens lacht gerade laut, stößt Holger in die Seite. Hoppla, das ist mehr als eine Zufallsbekanntschaft, scheint mir. »Was siehst du?«, flüstert Rita. »Ich kann mich nicht auch umsetzen, sonst können wir gleich einen Tanz aufführen, verstehst du? Ach verflixt, warum haben wir uns nicht in die Mitte vom Platz gesetzt? Die Bänke hier sind strategisch äußerst ungünstig. Ach nee aber auch.«
»Die kennen sich, die beiden, sie lacht mit ihm.«
»Mehr nicht? Waltraud, das soll in den besten Familien vorkommen. Du sagtest mal, dass sie ein Boot hat. Wenn die im selben Verein sind, klar, kennen die sich. Das muss nicht viel heißen.«
»Stimmt«, gebe ich widerwillig zu. Da fällt mir der Traum von heute Nacht wieder ein. »Das muss ich dir erzählen, Rita«, beginne ich und klaube hervor, was mir noch im Kopf ist.
Rita kichert los. »Was du dir zusammenträumst, Waltraud, also wirklich, Frau Ahrens besoffen in der Waschküche, nee aber auch. Zum Glück...