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Fröstelnd zog Baltz die Bettdecke bis zum Kinn hoch, sogar seine Nasenspitze fühlte sich kalt an. Die Kälte und die Feuchtigkeit, die durch schmale Wandschlitze in das Hausinnere drangen, verwandelten seinen Atem in einen feinen Nebel. Er wagte es nicht, seine müden Glieder zu recken, und so blieb er noch eine ganze Weile liegen, bis er sich mit einem verhaltenen Ächzen in seiner Bettstatt aufrichtete und kopfschüttelnd die Geister der Nacht zu vertreiben versuchte.
«Schon wieder einer dieser Albträume», murmelte er vor sich hin.
Schlaftrunken wandte sich seine Frau Apollonia ihm zu. Sie beschwichtigte ihn mit belegter Stimme und versprach, ihm gleich einen warmen Brei zuzubereiten. Sie schlug die Decke beiseite, schwang die Beine über den Bettrand, entzün?dete die Talglampe und ging zur Waschschüssel. Das kühle Wasser auf ihrem Gesicht machte sie munter. Nachlässig flocht sie ihr ergrautes Haar zu einem dünnen Zopf, dann schlüpfte sie in ihr schlichtes, aus braunem Leinen gewobenes Kleid und verknotete die Schürze hinter ihrem Rücken. Sie nahm die Lampe in die Hand und stieg hinab in die Unterstube, um den Ofen einzuheizen.
Apollonia hatte ein heiteres Gemüt. Anfangs hatte es sie nicht gekümmert, dass sie als Frau des Scharfrichters Mengis ein Leben außerhalb Luzerns Stadtmauern führen musste. Sie hatte immer alle Hände voll zu tun gehabt, es galt den Haushalt zu besorgen und die Söhne aufzuziehen. Seit einigen Jah?ren war ihr Leben beschaulicher geworden, sie fühlte sich bis?weilen etwas einsam und hatte Mühe mit der Abgeschiedenheit ihres Heims. Da waren zwar die zwei Knechte ihres Mannes, die mit knurrenden Mägen an ihren Tisch kamen und die sie zu verköstigen hatte. Doch konnte dies ihren Hunger nach Geselligkeit nicht stillen. Wenigstens gab es ab und zu Besuche von Leuten aus der Stadt, die um Medizin gegen ihre Leiden baten. Als Scharfrichter hatte sich Baltz zwangsläufig ein umfassendes Wissen in der Anatomie und der Heilkunde angeeignet, denn es gehörte nicht nur zu seinen Aufgaben, zu foltern, sondern auch die zugefügten Wunden zu kurieren. Die Besuche, die im Laufe der Zeit zugenommen hatten, waren eine willkommene Abwechslung für sie und boten ihr die Gelegenheit, das eine oder andere Schwätzchen zu halten und ihre Neugierde zu stillen.
Als Apollonia in die Stube kam, hob Ueli, der neben dem erkalteten Ofen lag, seinen massigen Hundekopf und schaute ihr dabei zu, wie sie geschickt das Feuer entfachte.
Anschließend machte sie sich daran, ihrem Mann und dessen Knechten die erste Mahlzeit des Tages zuzubereiten. Ab und zu hielt sie inne und fuhr sich mit der Hand über das mit feinen Falten übersäte Gesicht, dabei beobachtete sie das Blubbern der Blasen auf dem Haferbrei. Apollonia fühlte sich heute müde und niedergeschlagen, sie machte sich Sorgen um Baltz. Sein unruhiger Schlaf brachte auch ihr keine nächtliche Erholung mehr, hatte er doch stets diese Albträume, aus denen er bisweilen sogar mit einem angsterfüllten Schrei hochfuhr. Wenn er doch nur mit ihr darüber sprechen würde! Doch sie wusste ja, dass er seine Sorgen für sich behielt, schon immer war er ein schweigsamer Mann gewesen, der sich lieber auf die Lippen biss, als seinen Kummer mit ihr zu teilen.
Als Baltz steifbeinig die Stiege herunterkam, erhob sich Ueli neben dem Ofen, der allmählich wohlige Wärme verströmte, und trottete schwanzwedelnd zu seinem Meister. Ueli war Baltz' dritter Hund. Eigentlich hatten ihm diese Kreaturen nie besonders viel bedeutet. Doch vor etlichen Jahren war ihm ein junges, braun geschecktes Hündchen während des angeordneten Hundeschlagens in die Arme gelaufen, indes seine Artgenossen die Flucht vor den keulenschwingenden Knechten und ihm ergriffen hatten. Baltz hatte Mitleid gehabt, als er in die hilfesuchenden Augen des zutraulichen Hündchens geschaut hatte, und bei sich gedacht: Was soll's, es wird schon keine Seuche in sich tragen, und meinen Kindern wird es guttun. Sie können mit dem Hündchen im Garten herumtollen und den schaurigen Anblick des Hinrichtungsplatzes für ein paar Augenblicke vergessen.
Baltz tätschelte Ueli den Kopf und murmelte zärtlich ein paar Worte, verstummte jedoch sogleich, als die Knechte Jakob und Peter die Stube betraten, sich an den Tisch setzten und zum Haferbrei, der im Kessel über dem Feuer köchelte, hinüberschielten.
Peter ging dem Scharfrichter erst seit ein paar Jahren zur Hand. Er war ein junger Bursche, lang wie eine Bohnenstange, der bucklige Rücken ließ ihn unterwürfig erscheinen. Sein einfältiges Wesen konnte einem bisweilen lästig werden oder auch amüsieren. Meist war er recht wortkarg, anstatt sich an einem Gespräch zu beteiligen, kaute er lieber auf seinen dreckigen Fingernägeln herum. Apollonia hatte es schon längst aufgegeben, ihm diese Unsitte abzugewöhnen. Peter war für die Wasenmeisterei, die auch zu dem Aufgabenbereich des Scharfrichters gehörte, zuständig. Er musste verendete Pferde, Rinder, Säue und allerlei kleinere Tierkadaver einsammeln und anschließend auf dem Wasenplatz verlochen. Schon oft hatte es Baltz bereut, dass er dem unzuverlässigen Peter diese Aufgabe übertragen hatte. Eine wichtige Tätigkeit und eine einträgliche noch dazu, denn der Besitzer des toten Tieres durfte dessen Haut behalten, hatte aber dem Schinder einen Gulden zu bezahlen.
Knecht Jakob stand schon lange im Dienst des Meisters. Er war fast gleich alt wie Baltz und durfte es nach all den Jahren etwas gemächlicher angehen. Stets lag ein ernster und würdevoller Ausdruck in seinem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht. Er war dem Meister treu ergeben, und Baltz wusste, dass er sich vollumfänglich auf ihn verlassen konnte. In der Heilkunde war er eine große Hilfe, denn er kannte sich mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Kräutern bestens aus und wusste um die - oftmals verborgenen - Plätze, an denen die Gewächse zu finden waren.
Heute mussten beide Knechte ihren Meister in den Wasserturm begleiten, drei Verhöre standen an.
Nachdem sie gemeinsam gegessen hatten, machte sich Baltz für den Arbeitstag bereit und zog sich die Amtstracht an. Wenn er in seinem auffälligen blau-weißen Rock mit Hosen durch die Gassen Luzerns lief, erkannte man seine hochgewachsene, hagere Statur schon von Weitem. Kaum jemand getraute sich, in sein schmales Gesicht zu blicken, wo über hohen Wangenknochen blaugraue, einstweilen melancholisch dreinblickende Augen schimmerten. Seine Nase war markant, die Lippen schmal und spröde. Sein ursprünglich aschblondes, nun weitestgehend ergrautes Haar trug er kurz geschoren. Am auffälligsten an ihm waren jedoch seine großen Hände. Vierzig Jahre Arbeit ließen seine langen Finger gichtig werden. Seine Hände waren ihm sehr wichtig, er verwandte viel Zeit darauf, sie ausgiebig zu pflegen, und trug nicht nur bei der Arbeit lederne Handschuhe.
Baltz war tief in Gedanken versunken, während er sich sorgfältig ankleidete, der Albtraum von letzter Nacht verfolgte ihn noch immer. So konnte es nicht weitergehen. Bedrückende Träume, die seinen Schlaf störten, heftige Anfälle von Kopfschmerzen und immer wieder diese aufwallende Schwermut, die sich nur schwer abschütteln ließ. Er hatte schon längst versucht, sich mit gängigen Mitteln Abhilfe zu verschaffen, vergebens. Deshalb hatte er begonnen, sich sein breites medizinisches Wissen zunutze zu machen, und experimentierte mit sorgsam ausgewählten Komponenten.
Doch vielleicht waren Salben und Tinkturen nicht die einzigen Mittel, die Linderung versprachen? Sein Kopf war oftmals voller Worte, die ungesagt blieben. Er redete nicht gerne, fürchtete sich davor, ungeschickt zu sein, das Falsche zu sagen und missverstanden zu werden. Selbst seinem Weib gegenüber schwieg er lieber, als sich mitzuteilen. Vielleicht wäre es klug, die Worte in die Freiheit zu entlassen? Baltz wägte ab. Es bestünde die Möglichkeit, das Gedachte auf Papier zu bannen, wenn er schon nicht seine Zunge lösen konnte. Er brummte zufrieden. Ja, er würde seine Gedanken fortan schriftlich festhalten. Energisch warf er sich den Umhang über und trat in den kalten Januarmorgen hinaus.
Eine niedrige Mauer umschloss das Scharfrichterhaus, ein zweigeschossiges Holzhaus mit Satteldach, das in der Biegung der Reuss stand, die Fassade auf den Fluss gerichtet. Vom Fenster der Schlafkammer aus sah man die Museggmauer und die umliegenden Weinberge auf der anderen Seite der Reuss. An klaren Tagen konnte Baltz sogar den geharnischten Krieger mit Fähnchen und Schwert auf dem Erkertürmchen des Männliturms erkennen.
Heute zog ein zarter Nebelschleier vom Fluss her gegen die Stadt. Baltz nahm einen tiefen Atemzug und verweilte still, betrachtete seinen geliebten Garten, der sich hinter und neben seinem Haus erstreckte. Er verfügte über einen ansehnlichen Bestand an Äpfel, Zwetschgen und Birnbäumen. Ein kleines Haselnussbäumchen wuchs direkt neben der Scheune, in der sein Pferd und sein Karren untergebracht waren. Im hinteren Teil des Gartens, ganz in der Nähe des leicht erhöhten hölzernen Rundpodests, das für die Enthauptungen vorgesehen war, stand eine alte Eiche. Im Schatten ihrer dicken, ausladenden Äste verbrachte Baltz so viel Zeit, wie er nur konnte; sitzend auf einer schlichten...
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