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Der November war in Georgien schon immer der Demonstrationsmonat. Damals - wahrscheinlich wegen der kürzer werdenden, depressiven, stromlosen Tage - keimte immer der Wunsch auf, dass sich etwas ändern müsse: Zum Beispiel die Regierung. Aber eine Regierung, die fast dreißig Jahre lang Eduard Schewardnadses Kopf, Körper und Stimme hatte, würde sich vermutlich noch längere Zeit nicht ändern. Er war jetzt ein zäh redender und von leichtem Parkinson beeinträchtigter alter Mann und wirkte so, als ob ihn die aktuellen Novemberdemonstrationen nicht besonders beunruhigten. Zumal das alles nicht wirkte wie Demonstrationen - wie blinde Katzen rotteten sich die Mieter verdunkelter Häuser spontan auf den Hauptstraßen zusammen und sperrten bestenfalls kleinere Straßen.
Auf georgische Demonstrationen ging man selten aufgrund von sozialen Problemen, und wenn man hinging, sagen wir, um gegen Arbeitslosigkeit zu protestieren, würde garantiert nach einer Stunde der Rücktritt des zum Unglückssymbol gewordenen Präsidenten gefordert.
Das war auch jetzt so: In der Nähe meiner Wohnung, auf einer großen Straße, hatten Menschen wegen fehlender Stromversorgung die Straße gesperrt. Der Protest galt einem von vielen ekelhaften Phänomenen der 90er - dem Stromzeitplan, der, ungeachtet seiner Definition, keinerlei Regeln unterlag. Jeder erwähnte den irgendwo veröffentlichten mythischen Zeitplan, dieses hässliche Wort, aber keiner wusste mit Sicherheit, wann und wie lange es Strom hätte geben müssen. Wenn es welchen gab, dann zu einem nutzlosen und sadistischen Zeitpunkt, wenn alle schliefen: zum Beispiel um fünf Uhr morgens. Dementsprechend erwachte das Leben des einundzwanzigsten Jahrhunderts früh: Es wurde Wäsche gewaschen, Geschirr gespült, der ersehnte Fernseher ging an, mit einer Einblendung auf dem Bildschirm »Die Rundfunkübertragung wird um acht Uhr morgens fortgesetzt« (interessant zu wissen, für wen!), ganz langsam wurde das unter knackenden Geräuschen zurückkehrende Wasser in der Dusche warm, und die großen milchweißen Computer füllten sich mit Lebensenergie. Es gab jetzt tatsächlich öfter Strom als noch vor ein paar Jahren, als es absolut gar keinen gab, doch so plötzlich wie er kam, ging er auch wieder, deswegen lag allen ein und dasselbe auf den Lippen: »Es ist schon das Jahr 2001 und wir sitzen immer noch im Dunkeln.« Der Grund für diese Worte, den Ärger und die ausgesprochen-unausgesprochene Wut war allgemein und konkret Eduard Schewardnadse, den die nach Stromzeitplänen lebenden Leute als Ursache ihres täglichen Unglücks betrachteten.
Eduard Schewardnadse wurde überall und ständig beschimpft, er war der Erste, der gehasst wurde, und der Letzte, den man reell ersetzen wollte. Seiner Beschimpfung folgte unbedingt die fatale Frage: »Wenn nicht er, wer dann?« Eduard Schewardnadse gelang es genau dank dieser Frage, dreißig Jahre lang an der Macht zu bleiben. »Schewardnadse ist ein langsames Sterben und ein Sumpf, aber es gibt keine Alternative zu ihm.« In dieser Phrase steckte das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, aber auch der Stabilität. Mit dem neuen Jahrhundert kam auch ein Gefühl, mit dem niemand das Ende des vergangenen Jahrhunderts charakterisieren würde: ein nahezu aus dem Nichts gekommener Optimismus. Vielleicht doch nicht ganz aus dem Nichts, falls jemand die aus der Leblosigkeit der Neunzigerjahre erstandenen, mit Plastikstühlen und -tischen ausgestatteten Cafés und andere Symbole der Zivilisation, zum Beispiel McDonald's oder ein, zwei private und vergleichsweise solide Banken, als Erfolgsargument heranziehen würde. Die Eröffnung des ersten McDonald's überzeugte viele, dass Veränderungen möglich waren. Der Katholikos-Patriarch und Eduard Schewardnadse eröffneten zusammen das neue Schnellrestaurant. Der Präsident kostete mit der für ihn charakteristischen Geschmeidigkeit einen gewaltigen Big Mac, das Staatsfernsehen nannte die Eröffnung des Fast-Food-Objekts den »nächsten Sieg nach dem Fall der Berliner Mauer: Georgien wird zum modernen Land«.
Der Präsident wurde tatsächlich von Zeitungen und Fernsehsendern heftig kritisiert, aber deren Geschrei wurde übertönt vom ununterbrochenen Feiern der georgischen Popkultur, für deren Existenz das staatliche Fernsehen sorgte. Wenn im Fernsehen gefeiert wurde, hieß das, es war auch im gerontokratischen Georgien Feierstimmung. Laut Aussage des Präsidenten »mussten sich die Leute von viel Unglück erholen«.
Geschaffen wurde die Illusion der Existenz einer Kultur durch Dutzende staatliche Theater (wo allerdings keine Löhne ausbezahlt werden konnten), zwei Orchester (deren Musiker ihre Partituren manchmal mit Kerzen beleuchteten), einige gekünstelt unterhaltsame Restaurants (in denen man live halb toten Musikern zuhören konnte), fünf altsowjetische und nicht reformierbare Literaturzeitschriften und eine Oper mit psychisch, physisch und gesanglich instabilen Vokalisten.
Man ging davon aus, dass es auf jeden Fall schon Strom gab, zumindest in staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, aber genau dann, als es am Ende hieß, der Strom werde in Georgien nur einem strengen Zeitplan entsprechend ausgeschaltet, ging der Strom trotzdem beim Jubiläum des Präsidenten im Operntheater aus, zudem genau in dem Moment, als der berühmte Tenor - selbst schon im Jubilarsalter - das hohe D in Manricos Cabaletta bekommen musste. Der Präsident verließ unerkannt in absoluter Dunkelheit den Saal, außer ihm hatte jedoch niemand Lust zu gehen, da es hieß, der Strom sei in ganz Tbilissi weg, zudem herrschte draußen noch viel größere Dunkelheit und Kälte als in der Oper. Deshalb warteten diejenigen, die geblieben waren, weitere drei Stunden auf den Strom. Der große Tenor saß auf der Vorderbühne, legte sich das Schwert auf die Knie und plauderte mit den Zuschauern im Parkett: »Schewardnadse hat sich davongestohlen, Maestro!« - »Wie bitte? Hier kriegt man nichts mit. Ob er nun kommt oder geht .«
»Auf allen Kanälen werde ich mit Dreck beworfen«, beschwerte sich der Präsident, »schaut das Staatsfernsehen an, selbst dort beschimpfen sie mich regelmäßig, aber als Demokrat muss man das ertragen und den Kummer herunterschlucken.«
Seine fortlaufende Kritik war im neuen Privatfernsehen zu hören, dessen Zielgruppe um einiges jünger war als der existierende Kollektiv-Schewardnadse - der gesammelte Anti-Schewardnadse, eine neue Generation, die der immer noch aktiven, regierungs- und machtverliebten, aggressiven Großvätergeneration des Präsidenten gegenüberstand. Licht (neue Generation) vs. Stromausfall (Großväter).
Es ist eigenartig, was die Stromlosigkeit betraf, hatte es mich auf die Seite der Glücklichen verschlagen, zu jenen, die in einem Block wohnten, in dem es fast immer Strom gab, beziehungsweise wo das einundzwanzigste Jahrhundert Einzug gehalten hatte. Es wurde gemunkelt, wir seien mittels tief in der Erde vergrabener Elektroleitungen mit einer geheimen Militärbasis verbunden, und wegen jener unsichtbaren Basis bekämen wir außerhalb des unsinnigen Zeitplans Strom. Meine Nachbarn witzelten jedoch, wir seien ans Paradiesnetz angeschlossen, weil unser sechzehnstöckiger Block in geografischer Nähe zu einem weiteren großen Angstauslöser meiner Kindheit lag - den stetig wachsenden Friedhöfen von Wake und Saburtalo. »Wenn der Strom auch in unserem Block ausfällt, wird es so dunkel, dass wir das phosphorfarbene Leuchten der Leichen sehen können. Wenn die verwesen, fangen die nämlich an zu leuchten«, sagte ein unter mir wohnender Junge undefinierbaren Alters (einer von der Sorte, die es in jedem Hof oder Block gibt - ein Typ, der dauernd unglaubliche und glaubhafte Geschichten über Verstorbene, Särge, schwanzlose Eidechsen und Umweltkatastrophen auf Lager hatte).
Sei es aufgrund des Stromausfalls oder anderer Faktoren, jedenfalls vermehrten sich die Gräber dermaßen schnell, dass ich manchmal kaum in den eigenen Hausflur hineinkam. Während der Beerdigungen standen fremde Leute an unserem Fahrstuhl, und wir mussten, ob wir wollten oder nicht, an den Beerdigungen teilnehmen. Vor Verwirrung gab ich manchmal völlig unbekannten Leuten die Hand, um in den Fahrstuhl zu kommen, immer mit Angst im Nacken dafür betend, dass der Strom wenigstens nicht vor Erreichen des sechsten Stocks ausfiele. Das Beten hatte ich ja als Kind vor dem Fernseher sitzend gelernt (ich flehte Gott an, uns mehr als einen Trickfilm zu zeigen, denn im sowjetischen Fernsehen war die Ausstrahlung von Animationsfilmen beschränkt), in den Fahrstühlen der 90er- und 2000er-Jahre übte ich mich in Willenskraft, denn jederzeit konnte der Strom ausfallen oder eine Ratte in den Fahrstuhl schlüpfen oder ein Exhibitionist, was noch schlimmer als eine Ratte gewesen wäre.
Nicht nur das Fahrstuhlfahren (oder eher das -steckenbleiben) war ein klaustrophobischer Albtraum, sondern auch die Nächte nach der Beerdigung von fremden Menschen: Die Leute begruben ihren Verstorbenen direkt in der Nähe des Blocks, der Grabstein war normalerweise von meinem Fenster aus sehr gut zu sehen, sie streuten Blumen oder legten Kränze ab und gingen nach einer Stunde friedlich auseinander, wir aber, oder eher ich - mit meinem Fenster und meinem Schlafzimmer - legte mich mit einem furchtbaren Gefühl ins Bett, dass der Friedhof wieder um einen Verstorbenen reicher war und dieser jetzt irgendwie uns gehörte.
Mein Lebensinhalt war das »Loft«, ein Literatur-Theater-Klub auf dem Rustaweli, der trotz seines Namens im Keller lag, und ein Studio im Privatfernsehen, wo ich unter Pseudonym Szenen für eine Politsatire-Sendung schrieb. Sobald in der Stadt der Strom ausging, wurden im »Loft« öffentliche Lesungen von...
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