Schweitzer Fachinformationen
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Am ersten Tag auf der Straße geschah nichts weiter, als dass ich ging und ging und mir im erstbesten Dorfladen hinter Berlin ein Nähset kaufte, das warf ich weg. Ich behielt nur die Schere, weil sie so leicht war, darauf kam es an. Sie war so winzig, dass sie mir immer wieder von den Fingerkuppen rutschte, aber mit etwas Mühe und Übung gelang es, passende Streifen vom Pflaster zu schneiden, um die Druckstellen am rechten Fuß zu polstern, bevor Blasen daraus wurden. Es war immer der rechte Fuß, nie der linke, dabei blieb es bis Moskau.
Der Tag, der so kalkig begonnen hatte, war heiß geworden und schwül, das Dorf Werder lag eben hinter mir. Mit ostelbischen Dorfnamen ist es wie mit den Berliner Proletarierbetten der zwanziger Jahre, doppelt und dreifach belegt. Malchow. Wustrow. Glienicke. Werder gebärdete sich wie ein Dorf im Dreißigjährigen Krieg, es hielt den Atem an, als ich durchzog, und tat hinter den mannshohen gelben Backsteinmauern seiner geschlossenen Höfe, als sei es nicht da, und seine Feldsteinkirche nahm Deckung unter den alten Kastanien. In ihrem Schatten hatte ich ein paar Minuten gesessen, dann war Werder wieder allein mit seinen kommunistischen Dorfstraßen, die nach Karl Marx und Ernst Thälmann hießen, und seinen zärtlichen Sandwegen und seiner sirrenden, flirrenden Mittsommerstille, die etwas Brütendes, Dämonisches hatte.
Ein Radfahrer holte mich ein und wollte plaudern. Bis Müncheberg und zurück, das sei seine Tour. Ich murmelte etwas von einer längeren Wanderung und ließ ihn stehen. Schon in den Wochen vor dem Abmarsch war der Widerwille, darauf angesprochen zu werden, stark gewesen. Ich würde es tun, aber was hätte ich sagen sollen? Ich ging schnell durch die stillen Dörfer, nahm Feldwege wie diesen, mied Menschen und ihre Blicke.
Der gerade Weg ostwärts war jetzt der lange, schattenlose Sandweg durchs Rote Luch, eine tausend mikroskopische Leben und Tode brütende Senke. Es arbeitete und arbeitete. Rotorenflügel in der Luft, unten im Gras gefräßige braune, schwarze, metallicgrünblaue Panzer, ganze Armeen kleiner Leiber am Werk. Die Senke schwirrte und pochte, und ich blieb stehen, um das reine Mittagsrauschen nicht durch das Nebengeräusch meiner Schritte zu stören. Nach einer Weile hörte ich einen Puls heraus, er hatte die bebende Monotonie moderner Tanzmusik. Aufebben, abebben, wieder hoch pegeln. Das Luch kochte und tanzte. Rinnsale liefen in rascher Folge an mir herab, die Wellen der Luchmusik waren nun deutlich zu hören, ich wunderte mich, dass ich den kosmischen Sound zuvor nie so klar vernommen hatte und näherte mich der Idee, dass das Rote Luch gleichzeitig sendete und empfing, eine riesige Satellitenschüssel, eingestellt auf die Frequenzen dort draußen. Das war nicht so abwegig, wenn man aus Berlin kam, wo auf dem einzigen Berg der Stadt, einem Trümmerberg, noch immer die gewaltigen Kuppeln der Anlage standen, mit der in der Zeit des Kalten Krieges der Osten abgehorcht wurde wie ein lungenkrankes Kind. Und immer wieder waren verrückte Propheten in Berlin aufgetaucht und hatten die Existenz geheimer Sender verkündet, die uns alle steuerten und folterten. Ich dachte an den Sendermann, der vor vielen Jahren mit hohen, schwankenden Antennen auf dem Kopf durch die Stadt gelaufen war. Hier hätte er sich seine Peilposition suchen sollen, hier wäre er gesund geworden, hier im Roten Luch. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie vor meinen Füßen ein kleines Heer großer roter Ameisen ein Pfauenauge zerlegte. Die bepuderten Segel bebten, als ob es gleich losfliegen wollte, aber das war nur die Folge der Heftigkeit, mit der die roten Schlachter den Schmetterling tranchierten, er lebte nicht mehr.
Ich stieß auf die alte Reichsstraße 1 bei «Anjas Rasthaus», und die Welt sah wieder aus wie im Fernsehen. Ich bestellte Brot, Schafskäse und viel Wasser und warf den Rucksack auf einen Stuhl, er war mir schwer geworden, zu schwer, ich musste etwas tun, bevor ich über die Oder ging. Ich hatte gemeint, nur das Nötigste gepackt zu haben, nun wusste ich, dass ich mit sehr viel weniger würde auskommen müssen.
Gegen Abend ging ich auf das letzte große Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges zu, die Seelower Höhen. Hinter Münchehof lag wie ein Wegzeichen der Pergamentballon eines sonnengetrockneten toten Frosches, vor Jahnfelde ein Fuchs, sein Kopf war zerfetzt. Von den Rapshügeln vor Diedersdorf trieben Staubwolken heran und färbten mich gelb, eine Formation gewaltiger roter Mähdrescher rückte langsam gegen eine Gewitterfront vor, während der Himmel schwärzer und schwärzer wurde. Ich erreichte Seelow in dem Augenblick, als es losbrach, glücklicherweise war das Hotel eines der ersten Häuser auf meiner Seite der Stadt.
Während das Gewitter tobte, verbrachten drei Männer drei einsame Abende an drei Tischen des Hotelrestaurants. Einer sah wie ein englischer Tierfilmer aus in seiner Cordweste, er bestellte ein Kännchen Tee nach dem andern und korrigierte, als säße er im abendlichen Monsunguss allein in seinem Tierfilmerzelt, sein Skript, von dem er kaum aufblickte. Er war der Stoiker in den Kolonien. Der, welcher überlebt. Der andere war der Lou-Reed-Look-Alike-Man auf der Durchreise. Er hielt die Stille im englischen Tierfilmerzelt nicht aus. Er war der, den die Tropen kirre machen und in Versuchung führen und am Ende fressen. Die Irrlichter hinter seiner rot getönten Brille suchten einen Kumpel gegen die Melancholie des Monsuns, und passte man eine Sekunde nicht auf, schlug er Pontonbrücken von Tisch zu Tisch.
Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich nahm die Taschenlampe und ging zum Soldatenfriedhof. Ich brauchte sie nicht, die Steine von Seelow lagen gut lesbar im Vollmond, sie lasen sich wie die mürbe gegriffenen Kärtchen in den langen Schubkästen der Bibliothek einer geisteswissenschaftlichen Fakultät, sagen wir in Marburg an der Lahn. Der Mayer. Der Conrad. Valentin. Schiller. Deutsch. Süß. Jung. Sie fehlten alle. Ich versuchte mir vorzustellen, was für ein Land es geworden wäre, bei dem sie alle dabei wären und nicht Namen in Stein. Ein umständehalber nicht nachgelassenes Werk, eine ausgebliebene, was auch immer umwälzende Revolution. Der deutsche Pop war auch da, der ältere, abgebrochene. Der Schmeling. Der Albers. Einer hieß Gutekunst. Normalerweise eine Martinwalsererfindung, Leberecht Gutekunst oder so, aber zum Grübeln über Deutschland war nicht die Zeit. Die Steine summten sich ein und schunkelten schon, der ganze Friedhof pfiff jetzt die bekannte Melodie: Where have all the Mayers gone? The Deutsch. The Süß. The Jungs. Die Jungs von 1945 waren nicht einmal zwanzig gewesen, es war eine Schlacht der Achtzehnjährigen, von der Schulbank weg. Die meisten wurden in Granattrichtern verscharrt, nicht aus nazistischer Boshaftigkeit oder pazifistischer Abschreckung, sondern weil die Schlacht wüst war und schnell und grausam und es anders nicht ging. Am häufigsten fand sich auf den Steinen von Seelow der Name Unbekannt.
Ich war müde, meine Laune war übel. Ich ging und ging und kaute und kaute diese Namen und diese Geschichten und ging im Kreis durch eng beschriebenes Land. Ich dachte an ein Land, in dem man tage- und wochenlang keinen Menschen trifft. Ich holte mir ein Bier und setzte mich auf ein Grab, es war ein Unbekannt. Ich musste lachen. Unbekannt war hier gar nichts. Ich kannte alles, ich wusste immer genau, wo ich ging und stand, und wenn ich es einmal nicht wusste, war ganz sicher jemand in der Nähe, der es gut mit mir meinte und es mir sagte.
Vorhin im Seelower Kriegsmuseum hatte man mir erklärt, dass ich den halben Tag die Allee der Gehenkten gegangen sei und morgen weiter gehen würde. Die ganze lange Chaussee von Müncheberg bis Küstrin an der Oder hieß so im Frühjahr '45, unter vier Augen, versteht sich, Sie wissen schon, die SS. Ja, ich wusste schon. Seltsame Früchte hatten von den Bäumen gehangen, deren Schatten ich suchte. Die SS war ganz verrückt gewesen nach der Delikatesse. Während links und rechts der Heerstraße Männer fielen wie die Fliegen, weil eine wilde und nicht völlig unberechtigte Angst vor den Russen sie zum Letzten trieb, schienen die SS-Männer, welche die Bäume zwischen der Oder und Müncheberg dekorierten, nicht so sehr Lust zu verspüren, sich an die Front zu werfen als Mordlust am eigenen Volk. Deserteur war man schnell, und gefackelt wurde nicht lange. Rauf auf den Lastwagen, und Halt dort unter der Linde, ja die da, die nehmen wir, und Schlinge um den Hals, und gib Gas. Wieder einer. Die SS ergab sich hier draußen derselben beleidigten Rachsucht wie der gemütskranke Bräutigam in Berlin. Wenn schon alles aus ist, dann wollen wir der Braut doch noch einmal zeigen, wen sie nicht verdient hat. Wessen sich das deutsche Volk am Ende als unwürdig erwies. Was wir, die es erwählten aus dem Morast seines germanischen Mittelmaßes, von seinem Verrat am Führer halten.
Ich hatte das Gefühl, jemand setzte sich neben mich, ich sah nicht hin, ich wusste schon, wer. Wie schnell er mich eingeholt hatte, gleich am ersten Abend, und es würde jetzt immer so sein, sein Weg war meiner, und mein Weg war der Weg Napoleons und der Heeresgruppe Mitte, und der letzte wiederum war seiner gewesen. Ich ging nach Moskau, und der Landser ging mit, um mir ein wenig auf die Nerven zu fallen mit seinen Einflüsterungen von Granattrichtern und Gehenkten. Ich musste ihn nun fragen, wer er denn sei, und ihn bitten, mehr von seinen Geschichten zu erzählen, die historische Höflichkeit erforderte das. Ich kenne dich, murmelte ich, du bist der Gymnasiast aus München, der mit dem «Faust» in der Tasche seiner Uniform. Ich kenne dich aus dem Seelower Museum, sie sammeln dort Fälle wie deinen in grauen,...
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