Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Seit Johanne denken kann, gehören sie und ihre Familie in dem kleinen Dorf bei Bremen nicht richtig dazu. Weil ihre Großmutter Luzie Krusenbusch sich damals, mitten im Zweiten Weltkrieg, in den falschen Mann verliebt hat, in den weizenblonden Zwangsarbeiter Jurek, Johannes Großvater. Als sie fast hundertjährig stirbt, öffnet Johanne Luzies » heiligen Koffer« und geht der Liebe, dem Schmerz und dem, was während des Krieges geschah, auf den Grund .Helga Bürster erzählt wunderbar leicht und dabei doch tief bewegend davon, wie das Schweigen eine Familie überschattet. Sie erzählt von vier Generationen starker Frauen - und davon, dass es für Versöhnung nie zu spät ist.
Helene und Norbert kamen aus Kassel. Sie mussten sofort aufgebrochen sein, denn sie standen pünktlich um acht vor der Tür, Helene blass und ohne das übliche Make-up, Norbert besorgt. Er flatterte um sie herum, wie es seine Art war.
»Aber Lenchen, ist dir kalt?«
Thea fühlte sich sofort verantwortlich. Sie verschwand in ihre Schlafkammer und kam mit der alten Strickjacke zurück, die sie über der Schürze trug, wenn sie Unkraut jätete oder im Dorfladen einkaufen ging. Die war schon abgewetzt und an den Ellenbogen ausgebeult, weil Thea alle ihre Kleidungsstücke trug, bis sie in Fetzen hingen. Helene kannte die Jacke, kniff die Lippen zusammen und zog sie trotzdem über. Thea schenkte ihr Kaffee ein. Dann saßen sie am Tisch, rührten in den Tassen und wussten sich nichts zu sagen, bis Helene auffiel, dass jemand fehlte. Sie wandte sich an Johanne, wie immer klang es vorwurfsvoll.
»Hast du Leo nicht Bescheid gesagt?«
»Der kommt nach Feierabend.«
»Und Silje?«
»Die steigt gerade in den Zug. Willst du Luzie sehen?«
»Nein.«
Das darauffolgende Schweigen wurde zäh, bis Norbert die gängigen Floskeln ins Spiel brachte, mit denen man sich über die Unsagbarkeit des Todes hinweghalf. Das brachte Erleichterung und ihnen fiel wieder etwas zum Sagen ein.
Wo sie jetzt ist, geht es ihr besser, sie hat es hinter sich, ein gesegnetes Alter, da müssen wir erst mal hinkommen, sie hatte nichts mehr vom Leben, jaja, ist ja auch .
Helene, die schon ab Paderborn mit Frühstück gerechnet hatte, wurde langsam unruhig. Sie ließ Thea wissen, dass sie hungrig war, und die Schwester, üblicherweise großzügig, was die Bewirtung der Familie betraf, schämte sich für ihr Versäumnis. Sie wollte schon aufspringen. Brötchen holen, Butter und Marmelade auf den Tisch stellen, sich für ihre Nachlässigkeit entschuldigen, da drückte Johanne ihren Arm.
»Lass man. Ich mach das.«
Johanne holte die angebrochene Tüte Waffelröllchen, die noch übrig geblieben war vom letzten gemeinsamen Nachmittagskaffee mit Luzie. Die Röllchen hielten sich. Da war nichts dran auszusetzen. Thea genügte das nicht.
»Ich geh zum Bäcker.«
»Mama! Nebenan liegt Luzie, noch nicht einmal kalt, wer hat da Hunger?«
»Wir haben eine lange Fahrt hinter uns«, warf Helene ein.
»Und wir ein langes Sterben!«, entgegnete Johanne.
»Nun vertragt euch. Wollte sowieso mal an die frische Luft.«
Es hatte keinen Sinn, dagegen anzugehen. Johanne folgte Thea in den Flur. Sie wollte sich nicht Helenes und Norberts aktuelle Urlaubspläne anhören, während Thea zum Bäcker ging. Die wären jetzt dran. Sie ließ sie in der Küche und ging zu Luzie.
Den Stuhl, auf dem sie und Thea die letzten Tage abwechselnd gewacht hatten, zog sie neben das Bett. Es war ein bequemer Lehnstuhl, in dem man gut eine Nacht verbringen konnte. Sie setzte sich und atmete durch. Kurz hoffte sie, dass Luzie es ihr nachmachte und dass sie Helene und Norbert in die Kasseler Berge zurückschicken konnten. Doch Luzie blieb tot. Ihr Gesicht hatte schon die Farbe von altem Schnee. Oder von Hostien. Johanne legte ihren Kopf auf die Bettdecke neben Luzie, die mehr und mehr verblasste. Es war so still hier. Sie nickte ein, bis nebenan die Haustür ins Schloss fiel und jemand durch den Flur ging. Thea mit den Brötchen. Es folgte das übliche Geschirrgeklapper. Sie blieb, wo sie war. Nach einer Weile klopfte jemand an die Tür und öffnete sie einen Spalt breit.
»Gibt Frühstück.«
»Keinen Hunger. Danke.«
Thea kehrte in die Küche zurück und ließ die Tür offen. Johanne hörte Helene etwas sagen, Norbert auch, dann wieder Helene. Es ging um skandinavische Städte. Oslo, Stockholm, Helsinki. Thea, die nie aus dem Dorf herausgekommen war, hörte zu. Jedenfalls sagte sie nichts. Johanne stand auf und nahm den Kamm, der auf dem Nachttisch lag. Sie begann, die Großmutter zu kämmen. Während sie das tat, fiel ihr der alte Kosename ein. Sie sprach ihn aus.
»Lula.«
Als sie sich noch im Küchenschrank verstecken konnte, hatte Johanne den Namen für die Großmutter erfunden, weil das harte Z nicht über ihre Zunge wollte. Oma konnte sie zwar sagen, aber so hieß schon die Urgroßmutter, die damals noch lebte.
Lula.
Überlebtes Kleinkindgebrabbel war das, ein halbes Jahrhundert alt. Damals hatte sie zwischen Töpfen und dem alten Marmeladeneimer gehockt, in dem die Holzwäscheklammern lagen, die so schön sauber rochen. Von hier aus konnte sie überblicken, ob ein Gespenst zu Besuch kam. Sie musste die Schranktür nur einen Spalt weit offen lassen. Vor den Gespenstern musste sie sich hüten. Vor dem Schornsteinfeger mit der eingedrückten Stirn. Oder dem Onkel von oben. Er hatte ein volles und ein leeres Hosenbein und schlug mit seiner Krücke. Oder dem Nachbarn, der sie beim Hoppe-Reiter-Spielen durchschüttelte wie einen leeren Mehlsack. Sie hatte sich dabei schon ein paar Mal auf die Zunge gebissen. Oma und Opa, die Urgroßeltern, die waren auch Gespenster. Beide krumm wie Haken. Sie spukten gemeinsam am Küchentisch, tranken vom selbstgemachten Brombeerwein, der Opa schnupfte Tabak und die Männer aus der Nachbarschaft rauchten. Sie raunten sich dabei die allerschrecklichsten Geschichten zu, von zerfetzten Leibern mit heraushängendem Gedärm, bis Lula kam und sie verscheuchte, weil sie den Tisch brauchte, um darauf ein Huhn zu rupfen oder Wäsche zu bügeln.
Lula war immer müde von der schweren Arbeit. Nebenbei musste sie sich um ihre Gespenstereltern kümmern. Wenn sie das Kind auf ihren Schoß holte, dann nur, um mit der Haarnadel Ohrenschmalz aus Johannes Gehörgängen zu pulen und den Kopf nach Läusen abzusuchen. Sie harkte unbarmherzig mit dem Nissenkamm durch Johannes dichtes schwarzes Haar. Das hatte sie von der Großmutter geerbt. Es tat weh, war aber andererseits auch schön, weil es Lulas Art von Zärtlichkeit war.
Zweimal am Tag ruhte Lula. Man durfte sie dann nicht stören. Ruhezeit war nach dem Mittagessen, wenn sie den Kopf zum Dösen auf den Tisch legte, und am Morgen, wenn sie sich kämmte. Morgens war Lula noch nicht müde und es kam vor, dass sie lieb war. Dann traute sich Johanne aus ihrem Versteck, setzte sich auf die Küchenbank und fragte:
»Lula schick maken?«
»Kaam her, mien Schietbüdel, ick geev di ok een Kamm.«
Lulas Haar fiel ihr bis zur Hüfte. Es fühlte sich an wie Maulwurfsfell und sah auch so aus. Sie hatte trotz ihres Alters nur wenige graue Strähnen. Wenn Johanne den Kamm hineinforkte, wie sie es von der Großmutter kannte, hielt Lula still, bis sie sagte:
»Bün fardig, Lula.«
»Dank di, mien Schietbüdel.«
Den Rest machte Lula selbst und Johanne sah ihr dabei zu. Es faszinierte sie, wie ihre Großmutter mit sicheren und im Nacken blind geführten Handgriffen aus den frisch gekämmten Haaren einen Dutt knotete, der so fest saß, dass sie damit einen Kartoffelacker abernten und anschließend ein Schwein schlachten konnte, ohne dass sich ein einziges Haar löste.
»Johanne?«
Sie ließ den Kamm auf das Kopfkissen fallen. Helene hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie stand in der Tür und traute sich nicht herein. Sie hatte ein großes Talent für den unpassenden Augenblick, aber es war ihr gutes Recht, die Mutter jederzeit zu sehen. Thea hatte sie wohl überredet.
»Komm ruhig rein, Helene.«
»Also, eigentlich wollte ich nur .«
»Wovor hast du Angst?«
»Ich hab keine Angst! Ich möchte sie nur so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.«
»Kanntest du sie denn?«
Johanne fragte das ohne Hintergedanken, aber Helene nahm die Frage persönlich. Sie traf einen wunden Punkt.
»Wirfst du mir jetzt vor, dass ich damals weggegangen bin?«
»Quatsch!«
»Ich bin gekommen, um dich zu holen. Wir müssen über die Beerdigung reden.«
Johanne folgte ihr nur widerwillig. Sie fürchtete sich vor dem Gespräch, denn so was endete bei den Mazurs selten gut. Kaum saßen sie zusammen am Küchentisch, legte die Tante auch schon los.
»Wir müssen jetzt mal Tacheles reden. Mutter hatte sicherlich keine Rücklagen für die Beerdigung?« ...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.