Schweitzer Fachinformationen
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Ein Tag im April, Altaussee
»Bei uns geht koana nit zu Fuß.«
Berenikes Blick wanderte von der nassen Fahrbahn zur grünen Karosserie eines Geländewagens, der knapp vor ihr gebremst hatte. Verschwommen erkannte sie die fragend aufgerissenen Augen von Max.
Was für ein Tag.
Sie hatte allein gefrühstückt, das Auto war nicht angesprungen, ausgerechnet heute. Nicht nur, dass ihre Schwester zu Besuch war und sie den Wagen brauchte, sie hatte auch endlich den lang erwarteten Massagetermin bei Anniko. Sylvie hatte ihr die angebliche Wunderheilerin kurz vor ihrem Tod noch empfohlen. Berenike hatte sich notgedrungen zu Fuß auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht. Der Regen prasselte mit urzeitlicher Kraft auf das Ausseerland nieder, als sollte die Evolution ein zweites Mal stattfinden, nur diesmal umgekehrt, eine Rückentwicklung vom Säugetier zurück zum Wasserlurch.
Von den Bergen waren nur Umrisse zu erkennen, Loser, Trisselwand, alles grau in grau. Gegen den Regen gestemmt, setzte Berenike einen Fuß vor den anderen. Dachte an ihre Schwester und ihre Probleme, an ihren eigenen Teesalon, wo es auch nicht berauschend lief. Nur an einen dachte sie nicht, wagte es nicht, an ihn zu denken. Sie fühlte sich allein, allein mitten in dieser feuchten, tristen Welt, als wäre niemand außer ihr übrig geblieben. Erst durch ein Hupen fuhr sie hoch, das gleichmäßige Fallen der Regentropfen musste sie in Trance versetzt haben. Die Luft dampfte nach der Wärme der letzten Tage.
»Was machst du hier, schöne Frau?«, fragte Max, der Wirt vom Grünen Kakadu, der aus seinem Wagen gesprungen war und sie jetzt fest an den Oberarmen fasste. »Alles okay bei dir?«
Okay? Nichts war okay, schon seit Längerem nicht. Aber wie sollte sie das ausgerechnet Max erklären? Sie wischte sich über das Gesicht und die Augen. »Entschuldige, ich hab nicht aufgepasst«, murmelte sie und versuchte, mit einer Kopfbewegung die an ihrer Stirn klebenden Haarsträhnen wegzuschütteln. Erfolglos.
»Ist wirklich alles okay bei dir?«, fragte Max eindringlicher.
»Lieb von dir, aber es geht schon, danke.«
»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«
»Ach .«
»Komm, steig ein, bevor ich auch noch pudelnass bin.« Mit der lässigen Eleganz eines Kutschers bei Hof hielt er ihr die Tür auf der Beifahrerseite auf. Sie setzte sich, er schloss galant die Tür und stieg selbst ein. »Na, dann fahrn mer ma', Euer Gnaden«, lachte er sie an und fuhr entschlossen los.
»Angenehm, ins Trockene zu kommen. Danke, Max!« Sie strich sich mit beiden Händen über die Augen und blinzelte. »Stell dir vor, ich hab einen Massagetermin in Ischl und meine alte Karre hat mich in Stich gelassen.«
»Wundert dich das wirklich? Das ist doch immer so. Wo ist das in Ischl?«
»Es genügt, wenn du mich bei der Bushaltestelle absetzt«, sagte sie und sah nach draußen. Düsternis überall.
»Kommt nicht infrage. Ich muss sowieso selbst in die Stadt, ein Geschenk besorgen. Ich fahr dich gern hin.«
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Ich fahr dich.« Sein freundlicher, aber bestimmter Tonfall duldete keine Widerrede. Er warf ihr einen nicht zu deutenden Seitenblick zu. Also gab sie ihm die Adresse mitten im Zentrum der alten Kaiserstadt.
Max fuhr routiniert, erzählte dabei Belanglosigkeiten über Gäste im Wirtshaus, dass er eine neue Biersorte in die Karte aufnehmen wollte. Dabei warf er ihr hin und wieder einen fast sorgenvollen Blick zu, sah aber immer schnell weg, wenn sie seinen Blick erwiderte. Fast hätte sie sich ablenken lassen von ihrem Kummer, aber eben nur fast.
»Du gehst zu einer Massage?«, fragte er.
»Ja, weißt eh, mein ewiges Kreuzweh. Ich muss was dagegen tun.«
Max nickte. »Man wird nicht jünger. In dem Beruf überhaupt. In der Gastronomie ist man halt ständig auf den Beinen.«
»Wem sagst du das.«
Vor einem grauen Neubau unweit der Kaiservilla stoppte Max.
Berenike bedankte sich. »Das war wirklich nett, du warst mein Retter.«
»Aber immer«, erwiderte er. Regen trommelte auf das Autodach, die Scheiben beschlugen, als sie noch einen Moment sitzen blieb. Sie schwiegen. Es war wie früher, als Teenager, spät oder besser früh am Morgen, nach einer durchtanzten Nacht, wenn für einen Moment lang alles möglich war. Sie wusste, sie hatte Max von Anfang an gefallen, seit sie von Wien hierher gezogen war. Er ihr auch, aber mehr war nie gewesen. Sie hätte die entstandene warmherzige Freundschaft auch nicht mehr eintauschen wollen. Er war der Bruder, den sie nie gehabt hatte, der Bruder, den sie jetzt hätte brauchen können.
Leise verabschiedete sie sich und stieg aus.
Die Masseurin Anniko Luger arbeitete über einem zu dieser Tageszeit noch geschlossenen Souvenirgeschäft, dessen Schaufenster mit kitschigen Sisi-Souvenir-Tellern und Tassen mit Hirsch-Dekor vollgestellt war. Die Praxis stand dazu im vollen Kontrast. Die Wände waren in einem dunklen Violettton gestrichen, der nur auf den ersten Blick angenehm wirkte. Keine Bilder, kein Kitsch. Eine einzelne Kerze flackerte am Fenster gegen das Halbdunkel draußen an, ein Zimmerbrunnen plätscherte aufdringlich unaufdringlich mit dem Regen um die Wette. Berenike setzte sich. Die Müdigkeit fiel wie ein Federpolster über sie, da wurde sie schon in den Behandlungsraum gerufen.
Dort wirkte es noch düsterer. Die Wände waren auch hier violett, alle Vorhänge vor den Fenstern zugezogen, Kerzen leuchteten in Ecken und Winkeln. Eine große Frau mit schmalem, fast hagerem Gesicht, mandelförmigen Augen und langen, schwarzen Haaren trat auf Berenike zu. Der Blick aus ihren dunklen Augen wirkte brennend. Ihre Hand war knochig und rau, als sie sie Berenike zur Begrüßung gab.
»Was führt Sie zu mir, Frau Roither?«, fragte sie dann, nicht unfreundlich, aber distanziert.
Berenike schilderte die Rückenschmerzen, die sie seit Wochen plagten. Schmerzen, die andere Schmerzen fast überlagerten. Aber eben nur fast.
Anniko deutete auf eine schmale Liege, die mit einem schwarzen Leintuch bespannt war. »Legen Sie sich hier hin, auf den Bauch bitte. Entspannen Sie sich. Dort hinter dem Paravent«, sie zeigte in die dunkelste Ecke, »können Sie sich ausziehen. Ich bin gleich zurück.«
Während Berenike tat wie geheißen und sich in der engen Nische aus ihren feuchten Klamotten schälte, ertönte das Klicken einer Musikanlage, die eingeschaltet wurde. Zu mystischen Instrumentalklängen ließ sie sich schließlich auf die Liege gleiten. Gar nicht so einfach, so steif, wie sich ihr Kreuz anfühlte. Endlich lag sie erwartungsvoll da. Die Musik zog sie in ihren Bann. Die Gedanken drifteten ab. Schritte knirschten über Parkett, Hände legten sich sanft auf ihren Rücken. »Wo tut es am meisten weh?«, fragte die Masseurin mit ihrer tiefen Stimme.
Am meisten? Berenike stieß ein Lachen hervor. Einfacher wäre es, zu sagen, wo nichts wehtat.
»Hier? Oder mehr hier?« Die Hände der Masseurin wurden wärmer, je länger sie über ihren Rücken wanderten.
»Aua!« Plötzlich konnte sie einen Aufschrei nicht unterdrücken. »Hier tut es sehr weh.« Komisch, wie der Schmerz sie vor sich her treiben konnte, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Wie er den eigenen Willen auflöste, für alles, was außerhalb dieses Schmerzes lag. Aller Wille bestand darin, den Schmerz zu beenden, egal wie.
Die Masseurin murmelte etwas wie: »Svadhisthana«, und dann noch einiges Unverständliche. »Zwischen dem zweiten und dritten Chakra, das heißt im Kreuz«, sagte sie schließlich lauter. »Verstehe. Gut, dann wollen wir mal.«
Die Masseurin arbeitete nun schweigend, die Musik wurde schneller, ruhiges Trommeln steigerte sich zu einem Wirbel. Das heiße Wachs der Kerze roch intensiv und mischte sich mit einem herben, aber nicht unangenehmen Duft, der vermutlich vom Massageöl kam. Sylvie hatte recht gehabt, das tat wirklich gut, obwohl es gleichzeitig schmerzte.
Anniko knetete Muskeln, strich über Knochen, dass sie davonlaufen wollte. Das Klopfen der Regentropfen vermischte sich mit den Trommelschlägen, wurde zu Schritten, die sie verfolgten, in immer schnellerem Rhythmus, sie weiter und weiter trieben, an einem dunklen Ort, von dem es keinen Ausweg gab.
»So, setzen Sie sich jetzt bitte auf, aber vorsichtig.«
Ein schriller Ton ließ Berenike hochfahren. War das ein Schrei gewesen? Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde sie aus etwas wie einer Trance gerissen. Sie blinzelte, während sie sich aufrichtete, fasste sich an die Kehle, bekam keine Luft. Der Raum war unverändert, nichts Ungewöhnliches weit und breit. Trotzdem war Berenike sicher, einen Schrei gehört zu haben, einen Schrei, der zwischen den Mauern eines düsteren Verlieses widerhallte, aus dem es kein Entkommen gab.
Anniko stand abwartend hinter ihr, streckte helfend eine Hand aus. Berenike richtete sich auf. Schmerz fuhr ihr vom Kreuz bis in den Kopf mitten ins Herz. Sie rieb sich über die Augen, zwinkerte Tränen weg.
»Hab ich Ihnen wehgetan?«, fragte Anniko und beugte sich besorgt zu ihr vor.
»Nein, nein, es geht schon.«
Berenike lauschte. Keine Schreie. Die Musik war auch zu Ende.
»Wenn was stört«, sagte Anniko langsam hinter ihr und legte dabei sanft ihre Hände auf Berenikes Nacken, »wenn etwas nicht richtig ist, wenn etwas fehlt, dann muss man sich damit auseinandersetzen.« Sie strich sehr sanft über Berenikes Nacken, berührte die Stelle, die...
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