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An diesem späten Abend roch die Stadt nach Erde. Alles war feucht, und die Scheinwerfer der Autos wiesen mit ihren hellen Fingern den Weg. Die Reifen zischten leise auf dem nassen Asphalt, die wenigen Fußgänger versteckten sich unter ihren Schirmen, Hüten und Mützen und beugten ihre Köpfe, um dem Regen auszuweichen.
Der Regen, der seit Tagen aus dunklen Wolken fiel, ließ die Wallanlagen im Herzen Bremens verlassen erscheinen und verwandelte die Nebenwege in schlammige Pfade mit flachen Pfützen. Die Fassaden der nahen Häuser waren gerade noch zu erkennen, aber verschwanden immer wieder hinter dem Regenvorhang. Nur wenige Fenster waren bereits erleuchtet und bildeten seltsame Orientierungspunkte in dem Durcheinander der grauen Schatten.
Dies alles war kein Grund für Michael Zinke, auf seinen täglichen Fitness-Gang zu verzichten. Unruhig griff er in die Manteltasche und kontrollierte zum wiederholten Male, ob er seine kleine Nikon dabei hatte. Fotografieren war seine Leidenschaft, und er dokumentierte jeden Tag seine Spaziergänge. Vielleicht hätte er heute Glück und fände ein interessantes Motiv. Die Rosselenker-Skulptur zum Beispiel nach der kleinen Brücke, der Spaßvögel eine neuen, bizarren Verkleidung verpasst hatten, oder irgendeinen, sich auf einem Foto sozialromantisch ausmachenden Obdachlosen auf einer Parkbank? Aber heute war das Wetter vielleicht dafür zu schlecht. Na ja, mal sehen. Manchmal gelang es ihm trotzdem, interessante Fotos zu machen, um sie später in seinem Blog zu veröffentlichen.
Der Weg vom Wandrahm führte ihn auf die kleine Brücke, die den Fedelhören mit der Innenstadt verband, und er blieb kurz stehen. Er würde gleich zügig von der Straße herunter zum unteren Pfad der Wallanlagen laufen, am Ostertorsteinweg ein kleines Bier trinken, um auf dem oberen Weg wieder zurückzugehen.
Eine Joggerin, eine Frau in hellem Anzug und leuchtend grünen Schuhen, lief plötzlich ein Dutzend Meter von ihm entfernt wie in einem Werbespot am Wasser Richtung Kunsthalle entlang. Das dunkle Haar war mit einem Band zusammengebunden, und sie bewegte sich elegant, fast schwebend. Bald verschluckte die Dunkelheit sie, so dass er die Frau schnell aus den Augen verlor. Würde er die Frau vielleicht später in der Kneipe treffen? Unwahrscheinlich, entschied er und ging weiter.
Nach kurzer Zeit hatte er den schmalen Pfad direkt am Graben erreicht. Zinke hatte trotz der Kälte zu schwitzen begonnen, ein Tribut, das der regendichte Mantel bei diesem Wetter von ihm forderte.
So dicht am Wasser hatte die Feuchtigkeit alles verändert, und er seufzte. Heute waren wohl keine Fotos drin. Es war zu dunkel, der Regen verschluckte alle Konturen, und man würde trotz Blitz wenig auf den Bildern erkennen können. Na, vielleicht doch. Er erinnerte sich an Fotos von McCurry. Der hätte vielleicht doch eine interessante Komposition aus diesem Schlamassel gemacht.
Wieder fühlte er nach der Nikon, zog sie aus der Tasche, hielt die Hand darüber und blickte in das Display, aber als er nach dem Abzweig wieder freie Sicht hatte, sah er die Joggerin in einiger Entfernung quer auf dem schmalen Weg liegen. Während er auf sie zulief, griff er bereits zu seinem Handy, um Hilfe zu holen. War sie gestürzt, ohnmächtig geworden, oder hatte sie vielleicht Krämpfe?
Da lag sie, vollkommen regungslos, in verdrehter Haltung auf dem Weg. Uwe Zinke kniete sich neben sie, als aus dem Nichts etwas seinen Hinterkopf traf. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
Als das Handy brummte - in seiner Privatzeit stellte er es immer lautlos -, lag Schilling mit einem Buch im Licht einer gemütlichen Lampe auf dem Rücken im Bett. Er wusste, dass er gleich den Anruf annehmen müsste, und damit die friedliche Stille des Morgens beenden würde, deshalb las er schnell einen Absatz in Ibsens »Volksfeind« zu Ende. Das Handy brummte weiter vor sich hin, schließlich legte er widerstrebend Rosas Lesezeichen mit den gemalten Pferdeköpfen in das Buch. Vorsichtig ging er ins Nebenzimmer, um seine Frau Ayse nicht aufzuwecken. Es war Dienstag am frühen morgen, er hatte gehofft, gut ausschlafen und anschließend ein halbes Brötchen essen zu können.
Er nahm an, dass Inge Dunker oder Dora Harms am Telefon war, beide Frühaufsteher, die morgens unausstehlich fit waren. Aber vielleicht musste er doch nicht so früh weg, darum sagte er leise in das Handy: »Einen Moment, bitte«. Er ging ins Schlafzimmer, holte sein Buch, während sich seine Gedanken auf einen heißen Becher Kaffee konzentrierten.
»Guten Morgen! Niklas Schilling.«
Sein Kollege Georg Klamp von der Wall-Wache meldete sich. Ein Leichenfund gleich gegenüber, im Stadtgraben, erfordere seine Anwesenheit.
»Gut, dass Sie mich gleich anrufen, Herr Klamp. Wo genau?«, fragte Schilling. »Am Ende des Grabens«, erwiderte Klamp. »Ungefähr beim Designmuseum.«
»Ich brauche nur ein paar Minuten und komme gleich«, reagierte der Hauptkommissar schnell. »Sagen Sie, wer hat heute noch Dienst?«
Er hörte ein Rascheln. Der Polizist blätterte in irgendwelchen Unterlagen. »Inge Dunker.«
»Rufen Sie bitte Kommissarin Dunker an, und benachrichtigen Sie bitte Herrn Dr. Bornemann. Sagen Sie den Polizisten unten am Wall, sie sollen den Tatort weiträumig absperren, den Platz nicht betreten und niemanden durchlassen. Und schicken Sie mir bitte einen Streifenwagen, sagen wir in zehn Minuten.«
Er hatte Ayse doch geweckt, sie hatte ihn aufstehen hören. Schläfrig stand sie im Türrahmen und fragte: »Was ist los?«
»Da ist eine Leiche im Stadtgraben. Tut mir leid, ich muss sofort dahin. Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiß.« Sie lief die Treppe hinunter, während er ins Bad ging.
Der Tod kommt auch für die Polizei selten wie gerufen, philosophierte er unter der Dusche, Wir denken immer, sein Zeitpunkt sei unbestimmt, wir stellen uns diese Stunde in weiter Ferne vor. So ist es leider nicht, denn er wandelt mit uns mit.
Unten hatte Ayse währenddessen Kaffee gekocht, außerdem ein Brot eingepackt. Er setzte sich hin und überzeugte sich davon, dass seine Uhr pünktlich ging. Dann goss er sich hastig noch eine Tasse Kaffee ein. Er nippte gerade daran, als es klingelte. Ayse zuliebe steckte er das Brot ein, überlegte aber bereits, wie er es wieder loswerden könnte, ohne sie zu verärgern.
Mit blinkenden Lichtern und heulender Sirene wurde er in die Innenstadt gebracht. Stets vermisste er bei solchen Notfällen seine morgendliche Fahrradtour zum Polizeihaus am Wall, was ihn besser als der stärkste Kaffee wach machte.
Auf dem Osterdeich stand der Verkehr, so dass Schillings Fahrer sich an den vielen Autos vorbeiwinden musste, bis er schließlich die Wallanlagen erreichte. Auf der Wiese vor der Kunsthalle blinkten die Lichter mehrerer Streifenwagen. Schilling bat den Fahrer, den Rasen zu verschonen, deshalb parkte dieser auf dem Gehweg.
Die Luft war dick und feucht, satt vom Duft des nahenden Herbstes. Die Blätter waren mit Tropfen gesprenkelt, die Feuchtigkeit fiel in dicken Tropfen von den Pflanzen herab, und der grüne Überfluss verwandelte sich überall in Verfall und Modder. Einige Radfahrer zischten hinter ihm in ihren unförmigen Regencapes vorbei,
Er passierte die blinkenden Blaulichter, hastig zusammengestellten Absperrgitter, Zuschauer, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und die Hälse reckten, um einen Blick auf die Szene zu werfen, die sie an TV-Serien erinnerte. Am Tatort angekommen, hob Schilling das Flatterband hoch, schlüpfte darunter hindurch und erreichte den Wagen der Einsatzleitung.
Erleichtert quälte sich ein Polizist aus dem Auto, um ihn zu begrüßen. Schilling beauftragte zuerst die Streifenpolizisten, das Gelände noch weiträumiger abzusperren. Trotz der frühen Morgenstunde suchten Gaffer einen Platz so nahe wie möglich am Tatort, damit sie diese Sensation zumindest fotografieren konnten, weniger in der Hoffnung, wirklich etwas sehen zu können, sondern eher, um bei Gesprächen so wirksam zur Geltung zu kommen, wie wenn man sitzen bleibt, während andere aufstehen.
Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, als er an der zweiten Absperrung vorbeiging. Eine Beamtin führte ihn zum Stadtgraben, wo ein Polizist beruhigend auf eine blass aussehende, ältere Frau einsprach.
»Hat sie die Leiche gefunden?«, fragte Schilling den Beamten.
»Nein. Sie hat nur einen Spaziergänger gefunden. Der lag bewusstlos hier auf diesem Weg und ist jetzt im Krankenhaus wegen Unterkühlung. Als die Frau die Polizei geholt hat, haben die Streifenbeamten die Leiche im Graben entdeckt.«
»Inge Dunker soll sie und den Spaziergänger vernehmen.«
Schilling erinnerte sich an einen ähnlichen Fall, und ihm grauste vor diesem Tatort, vor allem bei diesem Wetter. Er würde trotz seiner Regenjacke nass werden, weil die Feuchtigkeit langsam in sie hineinkriechen und erst spät wieder verschwinden würde.
Viel zu holen ist da wahrscheinlich sowieso nicht, fiel ihm schließlich ein. Der Stadtgraben war seit hunderten von Jahren eine Art Müllkippe. Er war voller alter Scherben, Konservendosen, Fahrrädern und Plastikmüll. Für Archäologen ein Paradies, für Kriminalisten ein Alptraum.
Die Leute von der Spurensicherung hatten vier Scheinwerfer aufgestellt, die Dutzende unterschiedlicher Fußabdrücke in der feuchten Erde beleuchteten, die sie fotografierten, damit sie später ihre Gipsabdrücke richtig zuordnen konnten. Ein Taucher stand in seinem orangefarbenen Anzug bis zu den Hüften im Wasser, um die Leiche vollständig aus dem Ufergestrüpp zu ziehen. Sie würden vorsichtig sein müssen, damit sie den Körper nicht verletzten. Viel konnte Schilling nicht erkennen. Dunkle...