1. Kapitel
»Schilling«, meldete sie sich mit verschlafener Stimme.
»Ayse, du musst mir helfen. Ich . ich kann das nicht
alleine. Ich schaff das nicht.«
Niklas Schilling hörte, wie seiner Frau Ayse am anderen Ende der Leitung das Telefon aus der Hand glitt und polternd zu Boden fiel. Sie hob es ächzend wieder hoch.
»Was hast du gesagt? Warum .?«
Ihre Stimme erstarb in einem Murmeln.
»Ayse! Es geht nicht. Ich kann nicht. Du musst mir helfen! Es ist . ist so schrecklich!«
Abrupt ging ihre Stimme in eine schrille Tonlage über, sie sog erschrocken die Luft ein und rief:
»Niklas! Was ist los? Was ist mit dir? Bist du verletzt?«
Er starrte auf seine mit Lehm beschmierte Hose, auf seine verdreckten Schuhe und die schmutzigen Hände, die das Handy umklammerten, und zögerte mit der Antwort, als könne er so alles ungeschehen machen.
»Niklas! N I K L A S!« Ihre Stimme klang nun hysterisch. Sie hatte Angst.
Sein Hals war trocken, und er hörte sich krächzen.
»Es ist wegen Siegfried. Siegfried Poppe.« Pause. »Er
ist tot.«
Schilling konnte die Stille am anderen Ende der Leitung fast greifen, schließlich hörte er ihr leises Schluchzen.
Ruhig murmelte er: »Ich muss es ihr nun gleich sagen. Verstehst du? Gleich sagen. Bevor jemand es .«
Er brach ab, versuchte, sich zu fassen und stotterte fast: »Ich bin in 20 Minuten bei dir. Bitte, komm dann mit mir. Ich schaff' das nicht alleine.«
Ayse hatte sich inzwischen etwas gefasst, sie verstand, was er wollte, und antwortete leise: »Natürlich. Ich warte auf dich. Vor unserem Haus. Wir gehen gemeinsam zu Claudia, es sind ja nur ein paar Schritte.«
Niedergeschlagen saß er wenige Minuten später auf dem kalten Polster im Fond eines Streifenwagens, der leise in der Nacht durch das regnerische Bremen glitt. Was würde er zu Claudia sagen? Was würde Ayse fragen? Was er gemacht habe? Warum er Siegfried nicht ernst genommen hatte, als der ihn nachts zum Bahnhof gebeten hatte? Dass er ihn irgendwie als leicht neurotisch einordnete, weil es in der Welt, die Schilling kannte, keine Hinweise auf Verschwörungen und finstere Mächte gab?
Nach Poppes Anruf bei ihm in der Wall-Wache, spät am Abend, war Schilling zum Ende seiner Arbeitszeit vom Wall aus durch die Dunkelheit, bei leichtem Regen zum Bahnhof gelaufen, hatte darauf vertraut, dass die kleinen Tropfen ihn erfrischen würden.
Erst an seinem Ziel fiel ihm auf, wie nass die Straßen waren, denn bei jedem Schritt hörte er ein leises Platschen. Ein verschleierter Nachthimmel hatte sich über die Stadt gelegt wie ein Deckel aus Watte, die Passanten und das Pflaster wechselten durch die Lichter der Neon-Reklamen ständig die Farbe.
Ein erdiger Geruch durchdrang die Luft. Sein Blick war auf den diffus leuchtenden Mond geheftet, den ein doppelter Hof umgab und an dem gerade graue Schleier vorbeizogen. Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen.
Die Mischung aus Kathedrale und Schloss am Ende der Straße war der alte Bahnhof aus dem 19. Jahrhundert. Seine beleuchteten Rundbogenfenster überstrahlten in der Nacht die Backstein-Fassade mit ihrer Leuchtkraft wie die Zähne das Gesicht von Louis Armstrong. Ihr Licht schien bis zur Hochstraße, von der ihre Erbauer einst geglaubt hatten, sie würde Bremen die Aura einer modernen Großstadt verleihen, und die jetzt ein abgewracktesSymbol vergangener Vorstellungen von Mobilität war.
Die jungen Afrikaner, die an der Ecke zum Breitenweg, direkt an der Hochstraße herumstanden, hatten sich eine Art Unterstand hergestellt und einen großen Regenmantel über ihren Köpfen ausgebreitet. Nur noch wenige Imbissbuden waren geöffnet, um die Eingänge scharten sich mehrere Gestalten. Mit den pantomimischen Gebärden von Komikern, die durch Gesten Kälte und Nässe vertreiben wollen, schlugen sie die Arme um ihre Körper oder rieben ihre Hände aneinander. Wachsam schauten sie sich um, immer wieder gingen ihre Blicke in alle Richtungen. Erkannten sie in ihm einen Polizisten, der ihre Drogengeschäfte unterbinden würde? Aber das lag heute nicht in Schillings Interesse.
Um fünf vor zwölf hatte er Siegfried Poppe direkt vor dem Haupteingang treffen sollen. Er schüttelte den Kopf, als er an den Anruf dachte. Das war seltsam gewesen und hatte sich wie aus einem Verschwörungs-Thriller angehört. Fünf vor zwölf! Poppe hatte tatsächlich eine Neigung zu Verschwörungstheorien. »Aluminium-Experten« vergiften uns, hatte sein Nachbar neulich behauptet. Zu fortgeschrittener Stunde und mit viel Rotwein gelang es ihm häufig, eine Runde geladener Gäste mit Einwürfen dieser Art von ernsthaften Themen abzulenken und das Gespräch an sich zu ziehen.
Manchmal beugte er sich über den Tisch; seine Augen waren wie dunkle Steine, die sich daraufhin verschleierten; mit leiser, verschwörerischer Stimme warf er ohne jeglichen Zusammenhang ein: »Es geht mich eigentlich nichts an, aber habt ihr schon mal von Blackrock gehört? Die machen uns fertig - lauern nur auf eine Gelegenheit, die deutsche Wirtschaft dicht zu machen. Wenn die noch zusammen mit der NSA . dann sind wir geliefert. Ehrlich.«
So ging es meist munter weiter. Die Welt sei böse, Regierungen korrupt, Konzerne gierig und machthungrig, wir würden nur noch belogen von den USA, der CIA, von Geheimbünden. Im Dunkeln verborgene, einflussreiche Männer steuerten die Welt. Manchmal, von der Seuche solcher Theorien angesteckt, ergänzten dies seine Besucher mit zusätzlichen Details, die gedanklich kleben blieben und sich anhäuften mit Zinseszinsen. Claudia, seiner Frau, war das nicht weiter peinlich. In Kindererziehung erfahren, wusste sie, dass es aus taktischen Erwägungen besser war, nicht auf seine Themen einzugehen. Wenn man ihm nämlich in seinen Argumenten folgte, führte das in der Regel zu einem uninteressanten Abend für alle, wie Schilling aus leidvoller Erfahrung wusste, weil Siegfried seine Weisheiten unentwegt den ganzen Abend herumtrompetete.
Nun aber hatte er zu später Stunde überraschenderweise Schilling angerufen, was er zuvor nie getan hatte, schon gar nicht am Wall, im Polizeihaus. Schilling war überrascht gewesen, dass Poppe überhaupt seine Nummer hatte. Aber seine Stimme hatte schon seltsam geklungen, so gehetzt, nervös, ängstlich, erschien es Schilling im Nachhinein.
Jedenfalls war Schilling aus Gewohnheit etwas früher zu der Verabredung erschienen und näherte sich durch die Bahnhofstraße langsam dem Bahnhofsvorplatz. Unpünktlichkeit hasste er nicht nur, sie bereitete ihm ein körperliches Unbehagen, so wie Vegetarier vor einem Salat zurückschrecken, wenn sie feststellen, dass der Koch das Aroma der Sauce so verstärkt hat, das sie an gebratenen Speck erinnert.
Hinter der Hochstraße bemühten sich linksseitig einige kümmerliche und, entsprechend der Jahreszeit, kahle Bäume vergeblich, die banalen Fassaden von Bürohäusern aus den 1960er-Jahren zu kaschieren. Rechts verbarg ein heruntergekommener Bauzaun die riesige Grube einer großen Baustelle. Aus für die Allgemeinheit nicht nachvollziehbaren Gründen war sie schon seit längerer Zeit stillgelegt. In Fetzen herunterhängende Poster, umherliegende Getränkedosen und Verpackungsmüll vor dem Zaun schienen den Eingang zu einem zeitgenössischen Purgatorium Dantes zu verbergen.
Er überquerte die Straßenbahnschienen. Die Eingangshalle des Bahnhofs entließ nur noch vereinzelt Passanten auf den Vorplatz. Hier würde er Poppe leicht finden können; deshalb hatte dieser wohl auch den Treffpunkt vorgeschlagen. Schilling stellte sich so hin, dass er die Ausgänge gut im Blick hatte.
Im Licht der Straßenbeleuchtung wirkte die Fassade flach. Anders als am Tage, wo das Gebäude immer neue Formen entwickelte - wie ein sich drehender Körper, der dem Betrachter stetig neue, überraschende Perspektiven präsentierte, wodurch das Gebäude fast lebte.
»Ich werde brisante Dokumente dabei haben«, hatte Poppe am Telefon gesagt. »Die hier im Bauamt aufzubewahren, ist mir zu unsicher. Aber zu Hause auch.« Schilling hatte ungläubig reagiert. Siegfried Poppe hatte ihm aber versichert, eine Aufbewahrung in seinem Büro sei zu riskant, deshalb habe er extra ein Schließfach im Bahnhof gemietet. Das sei sicher, und jetzt werde er die Papiere holen. Ob Niklas ihm helfen könne, die sicher nach Hause zu transportieren? Und morgen, morgen würde er . Poppe hatte abgebrochen, als habe er zu viel gesagt.
Verschwörungstheorien hin, Verschwörungstheorien her. Schilling hatte zugesagt, nicht länger nachgefragt und schrieb das auf sein Konto Gutwilligkeit. Schließlich waren ihre Frauen sehr gute Freundinnen, und außerdem musste er sich gerade auf den Fall der stummen Erzieherin konzentrieren, der keine Freude bereitete.
Für Freunde macht man sowas, hatte er noch gedacht.
Noch fünf Minuten. Er rückte seine Krawatte gerade und strich über seinen Regenmantel, um ihn zu glätten. Von hinten näherten sich zwei junge Männer, gingen langsam zum Eingang und unterhielten sich dabei. Unter dem Vordach hatten Obdachlose unter seltsamen Gebilden aus feuchter Pappe und alten Bettdecken Schutz vor der Nässe gesucht und waren in dem Gewühl kaum erkennbar. Über ein wüstes Durcheinander umgekippter Fahrräder hinweg konnte er wartende Taxifahrer sehen, die sich in einer kleinen Gruppe unterhielten. Hier und da tauchten Passanten aus der Dunkelheit auf, um kurze Zeit später wieder darin zu verschwinden. Weit entfernte Geräusche durchdrangen zögernd, aber stetig die Luft: Auspufflärm, quietschende Straßenbahnräder, ankommende und abfahrende Züge, undefinierbarer Lärm.
Kein Poppe in Sicht. Die Nässe trübte sein Vergnügen,diese nächtliche Szene zu beobachten. Warten, wenn...