KAPITEL 2
GALAXIENHAUFEN AUF DER LICHTWAAGE
Die meisten Galaxien befinden sich in Gruppen unterschied-licher Größe, die wiederum Teil eines riesigen kosmischen Netzes sind. Sie bewegen sich in ihren Gemeinschaften wie Bienen in einem Schwarm - allerdings ebenfalls viel zu schnell. Ohne die Schwerkraft von Dunkler Materie würden sie auseinanderfliegen. Mit Gravitationslinsen lässt sich die Masse der Dunklen Materie in Galaxienhaufen bestimmen.
Galaxienhaufen sind die größten gravitativ gebundenen Struk-turen im Universum. Unsere Milchstraße gehört zusammen mit der Andromeda- und der Dreiecksgalaxie (M 33) sowie etwa 50 weiteren Galaxien zur Lokalen Gruppe. Diese wiederum ist Teil des Virgo-Superhaufens, dessen Zentrum der etwa 59 Millionen Lichtjahre entfernte Virgo-Haufen mit bis zu 2000 Galaxien bildet. Bedeutsam für die Dunkle-Materie-Forschung wurde der rund 350 Millionen Lichtjahre entfernte, aus mehr als 1000 Mitgliedern bestehende Coma-Galaxienhaufen.
Abb. 2.1: Der Coma-Galaxienhaufen, aufgenommen mit dem Weltraumteleskop Hubble
© NASA, ESA, and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA). Acknowledgment: D. Carter (Liverpool John Moores University) and the Coma HST ACS Treasury Team
GALAXIEN WIE IM BIENENSCHWARM
Zu Beginn der 1930er-Jahre erlebte die Kosmologie einen gewaltigen Umbruch. Edwin Hubble hatte entdeckt, dass sich fast alle Galaxien von uns fortbewegen und ihre Geschwindigkeit mit zunehmender Entfernung anwächst. Diese Entdeckung passte sehr gut zu den theoretischen Ergebnissen, welche die Mathematiker Alexander Friedmann und Georges Lemaître aus der Analyse der Allgemeinen Relativitätstheorie erhalten hatten. Demnach kann das Universum in seiner Ausdehnung nicht statisch sein, wie Albert Einstein meinte. Es muss sich zusammenziehen oder ausdehnen. Hubbles "Galaxienflucht" war ganz offenbar die sichtbare Folge der Expansion des Raumes. Es folgten erbitterte Diskussionen über diese Ergebnisse, insbesondere mit Albert Einstein. Im Jahr 1931 zog Lemaître aus Hubbles Beobachtungen den Schluss, dass sich das Universum ausdehnt und infolgedessen aus einem "Uratom" entstanden sein muss. Ein Jahr später gab sich Einstein geschlagen und akzeptierte die Theorie des expandierenden Kosmos (mehr dazu in Kapitel 3).
In dieser heißen Phase betrat ein Astronom die Bühne, der aus heutiger Sicht die damals handfestesten Indizien für fehlende Materie im Universum fand und den Begriff "Dunkle Materie" nachhaltig prägte: Fritz Zwicky. Zwicky war eine schillernde Persönlichkeit, ein ständiger Born neuer Ideen, unabhängig im Denken, aber menschlich mitunter nicht immer einfach. Er kam 1898 in Varna, Bulgarien, zur Welt, wohin sein schweizerischer Vater ausgewandert war. Mit sechs Jahren schickten ihn die Eltern in die Schweiz, wo er als Überflieger seine Lehrer und Mitschüler schwer beeindruckte. Die Matura bestand er mit dem besten Zeugnis seit Bestehen des Gymnasiums. Ständig war es ihm langweilig, weil ihm der Unterricht zu langsam vonstattenging. Während des Studiums an der ETH Zürich, wo er auch Albert Einstein begegnete, war es nicht viel anders. Schließlich promovierte er dort in theoretischer Festkörperphysik. Der Besuch des Präsidenten der Rockefeller Foundation am Institut wurde für ihn zum Schlüsselerlebnis. Offenbar erkannte dieser Zwickys Talent und bot ihm ein Stipendium an. Ohne zu zögern, griff Zwicky zu und ging ans California Institute of Technology (Caltech), wo er beim Nobelpreisträger Robert Millikan über kosmische Strahlung forschte. Vor allem aber begeisterte ihn Edwin Hubbles Entdeckung der Galaxienflucht, die ihn in den Bann der Astronomie zog.
Anfang der 1930er-Jahre beobachtete Zwicky mit dem 2,5-Meter-Teleskop auf dem Mount Wilson Galaxien. Dabei fiel ihm auf, dass diese nicht beliebig im Weltall verstreut sind, sondern sich die allermeisten in Gruppen, sogenannten Galaxienhaufen oder Clustern, zusammenfinden. Deren Geschwindigkeiten zu ermitteln, wie Hubble es getan hatte, war indes mühsam: "Die Schwierigkeit, die Spektren sehr entfernter Nebel zu fotografieren, liegt in der Notwendigkeit außerordentlich langer Expositionszeiten. In der Tat war es notwendig, Fotoplatten bis zu 50 Stunden und mehr zu exponieren [.]." Auf diese Weise fand er heraus, dass sich die Haufen von unserer Milchstraße fortbewegen, wobei die Geschwindigkeiten, entsprechend Hubbles Gesetz, mit zunehmender Entfernung ansteigen.
Abb. 2.2: Nie um eine Idee verlegen: Fritz Zwicky am California Institute of Technology
© Courtesy of the Archives, California Institute of Technology
Die allgemeine Haufengeschwindigkeit wurde aus dem Durchschnitt der Geschwindigkeiten aller Mitglieder ermittelt. Tatsächlich bewegen sich innerhalb eines solchen Verbands nicht alle Galaxien einheitlich, sondern schwirren wie Bienen in einem Schwarm umher. Zwicky stellte sehr große Streuungen der Einzelgeschwindigkeiten fest. Ein Beispiel ist der Coma-Haufen, in dem die Astronomen damals rund 800 Galaxien zählten. Er bewegt sich mit einer mittleren Geschwindigkeit von 7500 Kilometer pro Sekunde von uns fort, die Einzelwerte weichen aber bis zu 2000 Kilometer pro Sekunde hiervon ab. Das war schon ein recht chaotischer Galaxienschwarm.
Zwicky nahm jedoch an, dass der Haufen stabil (stationär) ist. Das gesamte Gravitationsfeld aller Galaxien hält den Verband demnach zusammen, er fällt weder in sich zusammen noch fliegt er auseinander. In diesem Fall lässt sich sehr leicht ausrechnen, wie groß die gesamte Schwerkraft sein muss, damit sie die umherschwirrenden Galaxien binden kann. Für physikalisch Fortgeschrittene: Es gilt dann der Virialsatz, wonach im einfachsten Fall im zeitlichen Mittel die kinetische Energie der Galaxien gleich der halben potenziellen Energie ist.Um sich dies zu veranschaulichen, kann man sich das Gravitationsfeld wie einen Topf vorstellen, der umso tiefer ist, je stärker das Feld ist. Darin rollen nun die Galaxien wie Murmeln umher. Sind sie sehr schnell und der Topf ist eher ein flacher Teller (geringe Schwerkraft, wenig Materie), so werden die Kugeln im Laufe der Zeit alle aus ihm herausgekullert sein. Er muss genügend tief sein - sprich genügend Materie beinhalten -, damit er die Murmeln auf Dauer halten kann.
Diese Überlegung führte Zwicky zu einem überraschenden Ergebnis, das er 1933 in der Fachzeitschrift Helvetica Physica Acta veröffentlichte: Während er für die Galaxien eine Gesamtmasse von 8·1011 Sonnenmassen schätzte, ergab die Rechnung nach dem Virialsatz 3,2·1014 Sonnenmassen. Oder anders gesagt: Gäbe es nur die Materie der sichtbaren Galaxien, so wäre deren Gravitationsfeld viel zu schwach, um die Sternsysteme aneinander zu binden. In unserem Bild hieße das, der Schwerkrafttopf wäre nicht tief genug. Der Haufen würde in etwa einer Milliarde Jahren auseinanderfliegen. Dieser Zeitraum erscheint vielleicht als sehr lang - tatsächlich bedeutet er aber nur einen Bruchteil des Weltalters, das man damals auf zehn bis 20 Milliarden Jahre schätzte.
"Um, wie beobachtet, einen mittleren Doppler-Effekt von 1000 Kilometer pro Sekunde oder mehr zu erhalten, müsste also die mittlere Dichte im Coma-System mindestens 400-mal größer sein als die aufgrund von Beobachtungen an leuchtender Materie abgeleitete. Falls sich dies bewahrheiten sollte, würde sich also das überraschende Resultat ergeben, dass dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie." An dieser Stelle fügte Zwicky eine Fußnote mit einer kosmologischen Schlussfolgerung an: Er bemerkte, dass diese enorme Masse "größenordnungsmäßig in Übereinstimmung mit der [...] von Einstein und de Sitter" veröffentlichten Vorstellung war, dass die mittlere Materiedichte im Universum den kritischen Wert überschreite, das Weltall also in sich geschlossen sei und in ferner Zukunft wieder in sich zusammenstürzen werde.
Die Galaxien sollten also lediglich einen verschwindend geringen Anteil an der Gesamtmaterie des Universums ausmachen? Diese Behauptung war so überraschend, dass man nach anderen Erklärungen suchte. Eine Möglichkeit bestand darin anzunehmen, dass die Galaxienhaufen nicht stabil seien. Dann hätten die Astronomen eine Momentaufnahme des Universums vor Augen, in der diese Sternsysteme gerade zufällig in Gruppen zusammenstehen, sich aber in Zukunft wieder auflösen würden. Dies schien sehr unwahrscheinlich, denn warum sollten ausgerechnet jetzt diese Ansammlungen existieren?
Ein zweiter Grund sprach dagegen. Löste sich beispielweise der Coma-Haufen auf, so wäre "das Resultat dieser Expansion", so Zwicky, "am Ende 800 Einzelnebel, welche Eigengeschwindigkeiten von der ursprünglichen Größenordnung (1000 bis 2000 Kilometer pro Sekunde) aufweisen würden." Die damals bekannten Einzelgalaxien wichen aber nicht weiter als etwa 200 Kilometer pro Sekunde von der nach dem Hubble-Gesetz berechneten Geschwindigkeit ab. Auch andere Versuche, die hohe Geschwindigkeit der Galaxien in den Haufen zu erklären, waren unbefriedigend. Der unglaublich hohe Anteil an Dunkler Materie blieb als "nicht geklärtes Problem" zurück.
Wenige Jahre nach Zwickys rätselhafter Beobachtung kam Sinclair Smith am Mount-Wilson-Observatorium für den Virgo-Galaxienhaufen zu einem ähnlichen Ergebnis. Aus den gemessenen Einzelgeschwindigkeiten der Galaxien bis zu 1500 Kilometer pro Sekunde errechnete er eine Gesamtmasse von 2·1014 Sonnenmassen, die 500 sichtbaren Galaxien brachten aufgrund ihrer Helligkeit jedoch nicht einmal ein Prozent dessen auf die Waage. Dieses eklatante Missverhältnis geht zum Teil...