Problem: Nicht haftende Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer
Ein 74-jähriger Patient ist nicht mehr in der Lage, mit seinen Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer zu kauen oder zu sprechen. Auch viele Tuben Haftcreme nützten nichts. Bei jeder Bewegung des Unterkiefers lösen sich beide Prothesen sofort. Mehrfache Unterfütterungen, welche keinerlei Erfolg zeitigten, ließen den Patienten resignieren. Wenn er in der Öffentlichkeit mit Prothesen lächelt, presst er sie mit der Zunge nach oben und unten (Abb. 1). Ansonsten erbringt nur das Zusammmenbeißen einen "Prothesenhalt" (Abb. 2).
In 2 Wochen soll sein 75. Geburtstag gefeiert werden. Diesen Ehrentag will die ganze Familie mit ihm begehen. Er aber weigert sich aufgrund seiner prothetischen Verhältnisse, den Geburtstag zu feiern. Mit viel Überredungskunst gelingt es der Familie, ihn zu einem Zahnarztbesuch zu bewegen.
Die zahnärztliche Untersuchung ergibt flache zahnlose Kieferkämme im Ober- und Unterkiefer sowie einen geringfügig reduzierten Speichelfluss. Die Totalprothesen sind insuffizient (Abb. 3). Dieser Befund wirft folgende Fragen auf:
- Wie können wir dem Patienten helfen, dass er seinen 75. Geburtstag beißfähig feiern kann?
- Welche Behandlungsmethoden stehen uns als erste Hilfe zur Verfügung?
- Wie kann der Patient anschließend definitiv versorgt werden?
Abb. 1 Der krampfhaft lächelnde Patient stabilisiert seine Prothesen mit der Zunge
Abb. 2 Die zusammengepressten Prothesen
Abb. 3 Das insuffiziente Prothesenpaar
Abb. 4 Die Oberkiefertotalprothese ist zu kurz
Abb. 5 Die mit Leukoplast abgeklebte verlängerte Prothese (links Palatinalansicht, rechts Seitenansicht)
Abb. 6 Die unterfütterte Totalprothese mit eingebautem Gummisauger
Die erprobte Lösung: Haftverstärkung durch direkte Unterfütterung und provisorische Implantate
Die im Ober- und Unterkiefer erforderlichen Behandlungsmaßnahmen werden im Folgenden Schritt für Schritt dargestellt.
Oberkiefer
Die Oberkiefertotalprothese ist im Gaumen zu kurz und muss verlängert werden (Abb. 4). Sie wird am Gaumen und im Bereich der vestibulären Prothesenränder mit Leukoplast abgeklebt. Damit lässt sich einerseits ein Ablaufen des Methacrylates in den Rachen bei der Unterfütterung und andererseits ein unbeabsichtigtes Aufpolymerisieren auf den Zahnkranz vermeiden (Abb. 5).
Die direkt unterfütterte Totalprothese wird ausgearbeitet und poliert. Anschließend wird zentral im Gaumen ein Gummisauger eingearbeitet.
Warnung: Gummisauger in Totalprothesen sind als Dauerlösung für den Prothesenhalt kontraindiziert. In der Literatur werden Fälle von Ulzerationen, Gaumenperforationen und Tumoren beschrieben (Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde von 1956).
Dies findet - wenn überhaupt - aber erst nach Jahren der Anwendung eines Saugers statt. In unserem Fall handelte es sich um eine prothetische Erste-Hilfe-Maßnahme für wenige Monate bis zur definitiven Versorgung. Der Patient wurde ausführlich aufgeklärt und bestätigte dies mit seiner Unterschrift.
Die so gestaltete Totalprothese im Oberkiefer haftete befriedigend am Prothesenlager (Abb. 6).
Unterkiefer
Neben einer direkten Unterfütterung ist die Befestigung der Unterkiefertotalprothese mit Hilfe provisorischer Implantate geplant. Provisorische Implantate wurden entwickelt, um nach der Insertion von definitiven Implantaten zusätzliche provisorische Implantate zur Befestigung eines festsitzenden Provisoriums setzen zu können. Der Dentalmarkt bietet hierfür mehrere Systeme an. In unserem Fall kam das MTI-System (MTI = Modular Transitional Implants) der Firma Dentatus zum Einsatz (Abb. 7 und 8).
Nach Auswertung eines Orthopantomogramms wird die Platzierung der provisorischen Implantate festgelegt und im Mund markiert (Abb. 9). Die blauen Punkte stellen die Implantatinsertionsstellen dar, und die schwarzen Punkte markieren das Foramen mentale beidseitig.
Nach sorgfältiger Lokalanästhesie mit Carticain (verstärkt durch das Hyaluronidasepräparat Lido Hyal A, das den Knochen durchlässiger macht) wird mit dem Normbohrer durch die desinfizierte Gingiva der Implantatkanal gebohrt.
Abb. 7 Das MTI-System im Set
Abb. 8 Die Einzelteile des MTI-Systems
Abb. 9 Die Implantatpositionen sind blau und die Foramina mentales schwarz markiert
Abb. 10 Die erste transgingivale Bohrung
Abb. 11 Die erste transgingivale Bohrung mit pumpenden Bewegungen
Abb. 12 Mit dem Handschlüssel wird begonnen, das provisorische Implantat einzudrehen
Abb. 13 Das provisorische Implantat ist vollständig eingedreht
Abb. 14 Die Ausrichtschablone wird aufgesteckt
Abb. 15 Das Implantat wird mit dem Schlitz parallel zur Kieferkammlinie ausgerichtet
Dies geschieht mit Gefühl und langsamen Auf- und Abwärtsbewegungen ohne großen Druck (Abb. 10 und 11).
Anschließend werden die provisorischen Implantate eingedreht, und mit einer Schablone wird der Schlitz im Oberteil des Implantates parallel zur Kieferkammlinie ausgerichtet (Abb. 12 bis 15). Dann erfolgen die Bohrung der weiteren Kanäle (Abb. 16) und das maschinelle Setzen der provisorischen Implantate bei langsamer Drehzahl (Abb. 17).
Abb. 16 Die zweite Bohrung an der markierten Position
Abb. 17 Das weitere maschinelle Einbringen der provisorischen Implantate
Abb. 18 Mit dem Handschlüssel werden die provisorischen Implantate parallel gebogen
Abb. 19 Kontrolle der Ausrichtung von labial
Abb. 20 Kontrolle der Ausrichtung von okklusal
Abb. 21 Nochmalige Kontrolle aller provisorischen Implantate mit den Ausrichtschablonen
Mit dem Einbringschlüssel werden nun alle gesetzten Implantate parallel ausgerichtet (Abb. 18) und von labial sowie okklusal kontrolliert (Abb. 19 und 20). Nach nochmaliger Kontrolle der Ausrichtung in einer Linie parallel zum Kieferkamm mit Hilfe von Schablonen (Abb. 21) wird ein gebogener Steg in die Schlitze der Implantate einprobiert (Abb. 22). Da die provisorischen Implantate nicht ganz in gleicher Höhe sitzen, wird der gebogene Steg ausgeschliffen, um waagerecht in die Schlitze versenkt werden zu können (Abb. 23 und 24).
Abb. 22 Erste Einprobe des vorgebogenen Steges
Abb. 23 Zweite Einprobe mit eingeschliffenen Nuten
Abb. 24 Der Steg passt
Abb. 25 Kontrolle des Steges von okklusal
Abb. 26 Aufstecken der Stegführungshülsen
Abb. 27 Aufgesteckte Stegführungshülsen von labial. Zervikal sind die roten Schutzringe der unter sich gehenden Bereiche erkennbar
Von oben (Abb. 25) werden Stegführungen aus weißem Kunststoff aufgesteckt (Abb. 26 und 27) und mittels lichthärtendem Kleber mit dem Steg verbunden (Abb. 28). Die vorhandene Unterkieferprothese wird passend ausgeschliffen und adaptiert (Abb. 29 bis 31).
Abschließend wird die Unterkiefertotalprothese mit selbsthärtendem Methacrylat unterfüttert und der aufgesteckte Steg einpolymerisiert. Dabei sind die unter sich gehenden Bereiche am Implantat mit roten Gummiringen abgedeckt (vgl. Abb. 27). Die Abbildungen 32 bis 34 zeigen die Stegführungen von der Unterseite bzw. die geschlossene Prothese von der Oberseite nach erfolgter Aushärtung, Ausarbeitung und Politur. Die Unterkiefertotalprothese hat festen Halt (Abb. 35).
Abb. 28 Aufkleben der Stegführungshülsen mit lichthärtendem Kleber
Abb. 29 Die Unterkiefertotalprothese
Abb. 30 Ausschleifen des Stegbereiches
Abb. 31 Einprobe der ausgeschliffenen Prothese im Mund
Abb. 32 Die Prothese mit einpolymerisiertem Steg (Ansicht von basal)
Abb. 33 In der Basalansicht sind die Stegführungen deutlich erkennbar
Abb. 34 Die ausgearbeitete und polierte Unterkiefertotalprothese
Abb. 35 Der Halt ist gewährleistet
Abb. 36 Das Ziel ist erreicht - Ober- und Unterkiefertotalprothesen halten
Die geschilderten Behandlungsmaßnahmen haben zu einem festen Halt der Ober- und der Unterkiefertotalprothese geführt. Der Patient kann essen und sprechen - es kann Geburtstag gefeiert werden (Abb. 36)! Als definitive Versorgung ist geplant: im Oberkiefer eine Modellgussprothese (Steg auf vier Implantaten) und im Unterkiefer ebenfalls eine Modellgussprothese (vier Teleskope auf vier Implantaten).
Materialliste
1. Klebeband Leukoplast (Fa. Beiersdorf, Hamburg).
2. Compound grün oder braun (Fa. Kerr, Karlsruhe).
3. Selbsthärtender Prothesenkunststoff Paladur rosa (Fa. Heraeus Kulzer, Wehrheim).
4. MTI-System (Fa. Dentatus, Hägersten, Schweden; Vertrieb in Deutschland: Fa. Gert Loser, Leverkusen).
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