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Kapitel 1
Früher gab es die Welt nicht. Sie endete an den letzten Felsen der Insel. Daran glaubte Yann, bis sein Vater ihn aufs Festland mitnahm. Von den schroffen Felsen am äußersten Ende der Bretagne konnte er bei gutem Wetter den Leuchtturm der Insel sehen. Sie blieben nie länger als ein paar Stunden auf dem Festland. Bis auf die Felsen an der Pointe du Raz und dem Hafen von Audierne existierten die Landmassen mit ihren Felsen, Hügeln und Häusern nur abstrakt in seinem Schulatlas. Als Kind wollte er Ozeanforscher werden, wenn es diesen Beruf überhaupt gab. Jemand, der sich mit Fragen beschäftigte, warum eine intelligente Spezies wie der Mensch sich ausgerechnet auf dem Festland entwickelte und nicht im Meer. Mit solchen Fragen beschäftigten sich aber weder Ozeanforscher noch sonst jemand, was Yann erst erfahren sollte, als er die Insel verlassen hatte, nach dem Sturm und der Dunkelheit, die seitdem nicht mehr aufgehört hatte. Yann gefiel die Dunkelheit. Sie legte sich über die Zeit nach dem Sturm, als die Welle aus dem offenen Meer stieg und seine Mutter tötete. Als der Sturm vorüber war, bauten die Bewohner ihre Häuser wieder auf und begruben die Toten, die das Meer nicht geholt hatte. Seine Mutter blieb verschollen.
In Paris bewohnte Yann ein Zweizimmer-Appartement im Zweiten Arrondissement. Die Küste war weit genug entfernt. Er ging über keine Brücken, und er machte einen Bogen um jede Pfütze. Bei Regen verließ er das Haus nicht. Als Archäologe im Louvre konnte er arbeiten, wann er wollte. Doch das Wichtigste war: Er arbeitete alleine in seinem Büro. Niemand, der ihm Fragen stellte, und keine Frau, in die er sich hätte verlieben können. Nur fern von der Küste war er sicher. Das dachte er jedenfalls bis heute.
Von den Inselbewohnern sagte man, dass sie weder zum Festland gehörten noch zum Meer. Seit Jahrhunderten hockten sie auf einem grauen Granitfelsen und harrten aus, als warteten sie auf ein Zeichen des Aufbruchs. Fragte man einen Bewohner der Insel, warum er nicht längst die Insel verlassen habe, bekam man keine Antwort. Wer auf dieser Insel geboren wurde, der kam nirgendwo an. Die kantigen Granitfelsen, das ewige Heranschlagen der Brandung, die Stürme, die selbst die Leuchttürme zum Wanken brachten, formten den wahren Charakter der Bewohner. Wer hier geboren war, hatte es in den Adern. Das Meer färbte seine Seele. Und selbst wer nur einige Monate oder Jahre auf der Insel verbrachte, spürte, wie er sich veränderte. Der Wind und das Meer hinterließen Narben. Kein Mensch lebte freiwillig auf der Insel. - Nicht freiwillig, daran musste Yann denken, als er das Ticket gekauft hatte. Freiwillig ist keiner geboren, und keiner konnte sich aussuchen, wohin er kam, wenn er das Licht der Welt erblickte. Yanns wissenschaftlicher Verstand verbot es ihm, Fragen zu stellen wie: Wer entscheidet, ob jemand in einem Vorort von Paris, in den Favelas von La Paz oder auf einer Insel, acht Kilometer vom Festland entfernt, geboren wurde? Pflanzen hatten den evolutionären Nachteil, an dem Ort bleiben zu müssen, an dem sie Wurzeln gefasst hatten. Menschen konnten wegziehen. Doch für die Bewohner der Insel war dies nicht so einfach. Sie hatten keine Wurzeln, die sie in die Erde graben konnten. Dafür trugen sie ihre Wurzeln auf eine unerklärliche Weise mit sich herum und blieben.
Yanns Vater war tot. Die Frau am Telefon hatte sich gar nicht erst angestrengt, auch nur künstlich mitfühlend zu wirken: »Gendarmerie Nationale, ich muss Ihnen leider mitteilen .« Mit diesen Worten begann die Nachricht vom Tod seines Vaters. Der Pater der Insel, Jean Baptiste Manois, hatte die Leiche von Mathieu Schneider beim frühmorgendlichen Spaziergang in dem nach fauligen Algen riechenden Hafenbecken entdeckt.
Das Meer schäumte. Am Horizont türmten sich dunkle Wolken. Yann hatte Glück gehabt. Er war einer der letzten Passagiere, die über die schwankende Brücke auf die Fähre kamen. Ein alter Matrose in grünem Ölzeug löste die Taue von den Stahlpollern und sprang auf das rostige Deck. Die anderen Passagiere hatten sich schon in den geschützten Innenbereich der Fähre begeben. Yann blieb an Deck. Die Gischt der Wellen schlug über die Reling, als die Fähre das offene Meer erreichte. Eine Stunde dauerte die Fahrt bis zur Insel. Die Wellen türmten sich wie schwarze Berge auf. Die Dieselmotoren schoben das Schiff gegen die Wassermassen, um dann wieder in ein Tal aus schwarzgrünem Wasser zu stürzen. Die Dünung war stärker geworden, als sie die Pointe de Lervily passiert hatten. Vor ihnen lag nun der offene Atlantik. Noch war der Wellengang nicht beunruhigend für jemanden, der auf einem Stück Felsen aufgewachsen war, der an seiner höchsten Stelle gerade einmal neun Meter aus dem Wasser ragte. Wieder ging die Gischt über den Bug und hinterließ an Deck schäumendes Wasser. Ein Matrose schlitterte über Deck und rief ihm zu, sich nach innen in den geheizten Aufenthaltsraum zu begeben. Aus Sicherheitsgründen. Yann nickte ihm zu und ließ seinen Blick zum Horizont schweifen, der eine bewegte Linie im Regen war. Durch die grauen Schleier leuchtete kurz das Licht des Leuchtturms der Insel auf. Der alte Matrose wankte auf ihn zu.
»Hier draußen ist es zu gefährlich. Eine größere Welle, und es fegt Sie von Bord. Die Leute glauben, dass die Wellen einem großen Schiff nichts antun können. Das Gefährliche an Wellen ist aber, dass sie nicht regelmäßig sind. Manchmal schieben sich drei oder vier Wellen übereinander, sie türmen sich zu riesigen Bergen auf, die mit einem Schlag zweihundert Meter lange Frachtschiffe versenken können.«
»Wenn man das Gesetz der Wellen kennen würde, dann würde man alles auf der Welt verstehen«, fuhr der Matrose fort. »Wir leben jahrelang in dem Glauben, dass das Regelmäßige uns umgibt und schützt. Als ob das Leben eine gleichmäßige Dünung wäre, und dann schaukelt sich etwas aus dem Gewohnten hervor. Und von einem Augenblick auf den anderen wird aus einem ganz normalen Leben ein Albtraum. Da überlegt jemand, ob er sich einen roten Wagen kaufen soll oder ob er heiratet oder nicht, und ein paar Stunden später findet man seine Leiche im Wasser. Irgendetwas bricht aus den gleichmäßigen Wellen heraus. Und mit einem Mal türmt sich ein Wellenberg auf, eine schwarzgrüne Wand. Niemand sieht das voraus. Ich bin mir sicher, dass der Mann, der von der Fähre gesprungen ist, auch nicht wusste, warum er sich umgebracht hat. Er war Arzt.«
»Woher wissen Sie, dass er auf der Fähre war?«
»Er stand auf unserer Passagierliste. Die Polizei sagt, der Mann sei von der Fähre gesprungen und die Strömung habe ihn in den Hafen der Insel geschwemmt. Das Meer schluckt nicht jeden Toten.«
»Nichts bringt mich dazu, über Bord zu springen, und keine Welle bekommt mich von Deck.«
Das Schiff sackte nach vorn in ein Wellental. Für einen Moment sah Yann den weißen Schaum auf dem schwarzen Wasser. Lichtreflexe von den Scheinwerfern. Yann hielt sich am Geländer der Eisentreppe fest. So stürmisch hatte er die See noch nie gesehen. Seine Mutter und sein Vater, beide starben im Meer. Vor dreißig Jahren sank das Segelboot, auf dem seine Mutter war, und jetzt war sein Vater auch im Meer gestorben. Die Wassermassen um die Fähre schienen ihm plötzlich unendlich. In jeder Minute starben Lebewesen in diesem Meer, andere wurden darin geboren. Seine Eltern waren nicht mehr als ein sterbender Wal oder eine tote Krabbe. Das Meer kümmerte sich nicht um die Toten. Die Vorstellung von der Gleichgültigkeit des Meeres beruhigte ihn.
Hatte sich sein Vater das Leben genommen? Warum hatte man ihm nichts davon gesagt? Die Polizistin hatte etwas von einem Unfall gesagt. Yann konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Vater sich das Leben genommen hatte. Er musste an die Riesenwellen denken, die aus dem Nichts kamen, alles zerstörten und ebenso unheimlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren.
Das Wasser hatte um diese Jahreszeit nicht einmal acht Grad. Sein Vater hatte über die Jahre unzählige Totenscheine ertrunkener Touristen und Fischer ausgestellt. Nur die Fischer wussten, dass eine Wassertemperatur von zehn oder zwölf Grad eine Todeszone war. Wer über Bord ging, war tot. Surfer und Badetouristen kannten die Gefahr nicht oder unterschätzten sie. Sie starben durch die Kälte, bevor die Strömung sie erfasste. Ein Erwachsener, erklärte ihm sein Vater, als er den Totenschein eines Touristen aus Deutschland ausstellte, schaffte es bei einer Wassertemperatur von zehn Grad Celsius gerade einmal sechs Sekunden lang, die Luft anzuhalten. Der Kältereiz auf der Haut ließ Herzfrequenz und Blutdruck extrem ansteigen. Viele Menschen starben schon beim Eintritt ins Wasser an Herzversagen. Ohne Neoprenanzug und Tauchermaske hatte man im kalten Atlantik zu dieser Jahreszeit keine Überlebenschance.
Der Matrose klammerte sich an die Befestigungsseile der Rettungsbojen, die unter dem Treppenaufstieg angebracht waren.
»Wenn das Schiff seitlich rollt«, rief er durch das Getöse aufprallender Wassermassen, »dann ist dies ein schlechtes Zeichen. Gleich wird der Kapitän mehr Fahrt machen, um das Schiff zu stabilisieren.«
Yann hielt sich fest und beobachtete die zerfurchte See. Der Matrose sagte, dass dies das Wetter der Selbstmörder sei. »Besser, Sie gehen rein.« Der Regen peitschte quer über das Deck. Der Leuchtturm der Insel kam näher. Aus dem warmen Innenraum drangen Stimmen. Der Matrose setzte sich neben ihn. Yann bot ihm eine Zigarette an. Der Matrose zog mit zittrigen Fingern eine Zigarette aus der Schachtel. Yann hielt ihm die Hände so hin, dass der Wind die Flamme seines Feuerzeugs nicht ausblies.
»Dies ist erst der Anfang des Sturms«, sagte der Matrose, »es...
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