I
Frau-Kinder-Mann?«, fragt eine Roboterstimme aus dem Hörer, aber das darauffolgende Kichern klingt sehr menschlich. Es wirkt sogar ganz aufmunternd, und ich begreife langsam, dass ich wieder einer unterbezahlten Minijobberin den Tag gerettet habe. Sie hat den Witz meines Lebens verstanden.
»Ja, hier ist Doris Kindermann, was gibt es denn?«, blaffe ich zurück, und das junge Ding am anderen Ende der Leitung erschrickt nur kurz, bevor sie mir mit abgehackter Stimme verkündet: »Frau Kindermann, herzlichen Glückwunsch, die Two-be-Two-Media AG hat Ihre Nummer aus zehntausend Hauptgewinnen … nä, warten Sie mal, Entschuldigung, ich bin in der Zeile verrutscht, also: Sie wollen doch ein Auto gewinnen, oder, Frau-Kinder-Mann?«
»Nein«, antworte ich, denn obwohl ich mich keineswegs als wunschlos glücklich bezeichnen möchte, will ich weder Autos, Frauen, Kinder oder Männer gewinnen. Nicht um halb acht am Samstagmorgen. Ich würde viel lieber etwas verlieren, meine Beherrschung zum Beispiel. Aber das Mädchen am anderen Ende der Leitung, das wahrscheinlich in einem sehr tristen Großraumbüro in Neubrandenburg sitzt und am gestrigen Abend ausnahmsweise auf die Einnahme eines halben Dutzend Wodkamischgetränke verzichtet hat, nur um pünktlich und nüchtern bei ihrer Frühschicht zu erscheinen, gibt mir keine Chance dazu:
»Warum denn nicht?«, fragt das Mädchen kläglich, und in echter, tiefer Enttäuschung hakt es nach: »Warum wollen Sie denn bloß kein Auto gewinnen?«
Ich seufze. Man kann mich leicht einwickeln, wenn ich noch fast schlafe:
»Ich brauche kein Auto, da, wo ich wohne«, behaupte ich und hoffe, sehr weise geklungen zu haben. Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein:
»Echt nicht? Glaub ich nicht. Krass. Wo wohnen Sie denn? Hier geht ohne Auto gar nichts, das kannste mir aber glauben, ich meine, Sie können das mal glauben, hier gibt es echt gar nichts. Ich will ein Auto, und dann weg hier.«
Die Telefonkraft der Two-be-Two-Media AG schnieft hörbar, und ich sehe mich reflexartig nach einem Papiertaschentuch um. Da auch mir nach ein paar Sekunden einfällt, dass die Technik noch nicht soweit ist, dass ich ein Tempo in die ehemalige Ostzone rüberfaxen könnte, schaue ich alternativ nach meinen Kippen, finde sie unter dem Nachttischchen und zünde mir eine an.
Untermalt wird diese Aktion vom Jammern des Mädchens, das ich zwischenzeitlich »Loreen« getauft habe. Erstens passt der Name zu ihrer Stimme, zweitens duzt sie mich nun so konsequent weiter, dass ich mir auch keinen Nachnamen für sie ausdenken muss.
Loreen berichtet: »Ey, weißte, hier ist alles echt doof, ne, und ich will hier weg. Letztes Jahr wollte ich auch schon weg, da habe ich mich bei DSDS bewerben wollen, aber da kam ich gar nicht hin mit dem blöden Bus, der fuhr nur bis Angermünde, und da hat es voll geregnet, mein Make-up war fratze, und so wollte ich da schon mal gar nicht hin, weil, du musst da schon auch geil aussehen, wegen Gesamtpaket und so, klar.«
Ich ziehe an meiner Kippe und bestätige: »Hmmm, ist klar.«
Klar, Loreen hat verstanden, wie es in der Welt läuft, und obwohl ich sie noch nicht so gut kenne, spüre ich, dass ihre Talente bei der Two-be-Two-Media AG verkümmern werden.
Aber es ist auch ganz klar, dass mir schon vor dem ersten Kaffee jemand, der mir eigentlich nur meine Kontodaten aus den Rippen leiern sollte, seine Lebensgeschichte erzählt. Unaufgefordert, am Telefon. Soweit ist es also gekommen. Ich sehe nicht nur aus wie eine typische Sozialarbeiterin, ich klinge schon so. Mag daran liegen, dass ich eine bin, aber gerade im Moment denke ich wieder daran, umzusatteln.
Vielleicht können die jemanden wie mich beim FBI gebrauchen. Doris Kindermann, sanfte und ganzheitliche Verhörmethoden, garantiert ohne Tierversuche, jetzt auch telefonisch. Loreen holt mich aus meinen Tagträumen zurück: »Falls das mit dem Superstar nicht klappt – meinst du, ich habe das Zeug zum Model?«, fragt sie, ganz ernsthaft, und ich schließe die Augen. Dieser zugegebenermaßen nicht völlig vorurteilsfreie Visualisierungsversuch meiner Gesprächspartnerin will mich ganz eindeutig »Nein, auf keinen Fall!« in den Hörer rufen lassen, aber obwohl ich noch gar nicht im Dienst bin, kann ich nicht aus meiner Haut. Also sage ich, in therapeutischster Stimmlage: »Loreen, ich bin sicher, du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst.«
»Wer ist Loreen?«, fragt Loreen irritiert, dann scheint sie ein Geistesblitz zu durchzucken, und sie schwenkt unerwartet wieder ins Semiprofessionelle über:
»Jedenfalls, es geht ja um Ihre Daten, ich meine, um Ihren Gewinn, Ihr Auto, Ihre Chance! Wo darf ich denn das Sonderlos hinschicken, Frau Kindermann?«
Ich lege auf.
Und fühle mich sofort schlecht. Wieder einmal völlig verantwortungslos gehandelt, ein Vertrauensverhältnis schändlich missbraucht, einen jungen Menschen schwer enttäuscht. Und zwei Kippen vor dem Frühstück geraucht. So sollte kein Tag beginnen, aus dem noch ein guter werden soll.
Vielleicht kann ich das irgendwie wieder hinbiegen. Ich tippe auf den Tasten meines Telefons herum, um Loreen zurückzurufen. Das funktioniert nicht, da die Two-be-Two-Media AG natürlich mit unterdrückter Nummer bei ihren Opfern anruft. Wie dumm von denen. Ich gehe in die Küche, stelle erfreut fest, dass ich tatsächlich noch über eine kleine Kaffeereserve verfüge und setze Wasser auf. Müde starre ich in den Topf und beschließe, eine Runde »Wär’ ich Millionär« zu spielen, bis das Wasser kocht.
Wär’ ich Millionär, überlege ich, würde ich als Erstes herausfinden, wo die Two-be-Two-Media AG ihr Büro hat, und dort würde ich ein Auto hinbestellen. Nichts Großes, eher einen praktischen Kleinwagen, mit dem Loreen einfach einparken kann. Aber mit einer riesigen rosafarbenen Schleife drumherum und einer Karte, wo nur draufsteht: »Für Loreen, lebe deinen Traum!«
Ja, es hat einen Grund, warum meine finanziellen Mittel begrenzt sind. Bei meinem Glück würde irgendeine Kollegin von Loreen tatsächlich Loreen heißen, und die würde sich den Twingo unter den Nagel reißen und direkt verscheuern. Der Traum der echten Loreen wäre nämlich der, sich eine großflächige Tätowierung auf den Rücken meißeln zu lassen, wahrscheinlich das Thor-Steinar-Logo.
Aber es gibt auch Beruhigendes von mir zu berichten: Ganz gleich, wie krank meine Fantasien auch sein mögen, ich hänge ihnen nur so lange nach, bis der Kaffee fertig ist. Meistens.
Mein Telefon klingelt erneut, und ich renne zurück ins Schlafzimmer.
»Loreen?«, keuche ich in den Hörer, und eine verdutzte Stimme antwortet mir:
»Äh, Loreen. Hier ist die Katja, könnte ich die Doki sprechen, also die Doris?«
»Am Apparat«, gebe ich zu, obwohl ich gerade gar keine Lust habe, mit Katja zu telefonieren. Katja ruft nämlich nur an, wenn der Weltuntergang bevorsteht, eine Veranstaltung, die in ihrer Wahrnehmung im Schnitt dreimal pro Woche stattfindet. So auch jetzt: »Boah, Doki, gut dass ich dich erreiche, ey, mein Auto ist kaputt. Totalschaden, da geht nichts mehr!«
»Oh Gott, was ist passiert? Bist du okay?«, frage ich so aufgeregt wie möglich, weil ich weiß, dass Katja es liebt, wenn ich bei ihren Dramen so lange mitspiele, bis sie genug davon hat.
»Nee, bei mir ist alles in Ordnung, der Andi saß ja nur da drin, als es passiert ist.«
Andi ist Katjas Freund. Jedenfalls leben sie seit acht Jahren zusammen, und alle fragen sich: Warum? Aufgrund der hohen Dichte an »Andis« in unserem Freundeskreis ist mittlerweile jeder dazu übergegangen, Katjas Andi nur noch als »Katjas Andi« zu bezeichnen. Sogar in seinem Beisein. Nur Katja nennt ihren Andi wahlweise »Dummbatz« oder in einem zusammenhängenden Satz auch gerne nur »der Andi«.
»Geht’s deinem Andi denn gut?«, frage ich höflich nach und sehe bildlich vor mir, wie Katja an ihrer albernen Frisierkommode sitzt und ärgerlich abwinkt, als würde sie eine Fliege verscheuchen:
»Ach der, ja, der hat sich noch aufgeregt, dass die Karre nicht ansprang, weil er ja sooo dringend zu seiner wichtigen Arbeit musste …«
Ich unterbreche: »Katja, du sagtest was von Totalschaden, was ist denn nun mit deinem Wagen?«
Katja schnalzt ungeduldig mit der Zunge: »Also, für mich ist das ein Totalschaden, wenn ein Auto nicht mehr fährt, oder? Ich meine, Autos sollten fahren, oder?«
Ich stimme zu und stelle mir vor, wie meine Freundin Katja und die falsche Loreen ausschweifende, wenn auch wenig fachkundige Gespräche über Kraftfahrzeuge miteinander führen würden. Aber aus irgendeinem Grunde wollen beide lieber mit mir telefonieren.
»Also, was tun wir?«, fragt Katja mich nun, »ich meine, wegen heute Abend?«
»Hä?«, sage ich, um Zeit zu schinden, und das bringt Katja in Höchstform.
»Hallo, Doki, heute Abend, das Konzert, im »Deee Aitsch«! Wie soll ich denn dahin kommen, mit der Bahn vielleicht?«
»Zum Beispiel«, rege ich an und verziehe das Gesicht. Ich hasse es, wenn jemand, und besonders Katja, unsere Kneipe »Deee Aitsch« nennt. Sie heißt immer noch »Dead Horst«, meinetwegen auch »Horst«, oder für mich ganz einfach: Zuhause.
»Doki, ich hasse Bahn fahren. Das dauert ewig, und die letzte Bahn fährt schon um eins zurück, da habe ich gar keine Lust drauf!«, mault Katja, und ich weiß, was von mir erwartet wird. Zähne zusammenbeißen und die Frage aller Fragen...