Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG
Alex drehte sich auf dem Fensterplatz zur Seite, und sein Atem bildete Wölkchen auf der Scheibe. So was wie ein Gewitter wäre angebracht, dachte er. Blitze und rollender Donner. Stattdessen war alles ruhig. Es wurde Nacht; die Dunkelheit schob sich von Osten her auf Tokio zu, und die dicht gedrängten Gebäude verschwanden im Schatten. Er sah Smogschleier im grellen Neonlicht der Leuchtreklamen von Shibuya und Shinjuku. Der Verkehr floss wie durch Adern, und die Scheinwerfer flimmerten wie Sterne, die sich in einem Bach spiegelten. Die Flugbegleiterinnen gingen mit starrem Lächeln durch den Mittelgang und machten ihre letzten Sicherheitskontrollen, und die Fahrwerkshydraulik ließ den Boden unter ihren Füßen beben. Alex spürte seine steifen Glieder und kämpfte mit seiner ganzen Willenskraft gegen die Angst, die ihn beschlich. Er wusste, es gab kein Zurück.
Das Flugzeug legte sich auf die linke Seite und begann seinen Sinkflug. Der Boden stieg ihnen gleichmäßig entgegen. Alex suchte nach seinem Apartmentblock in der weiten Ebene voll grauer und schwarzer Gebäude, die formlos unter ihm vorüberzogen. Er wusste, seine Gegend lag im Norden, aber es gab keine Landmarken, an denen er sich hätte orientieren können, sondern nur Unmassen von Dächern und schmalen Straßen. Weiter im Süden musste die Schule liegen, an der er unterrichtete, und die Galerie, wo Naoko arbeitete, aber die Stadt war ihm immer noch nicht vertraut. Die wellige Landschaft geriet immer mehr aus dem Zusammenhang, je länger er suchte.
Die Maschine setzte sanft auf der Landebahn von Narita auf und rollte zu einem freien Platz am Nord-Terminal. Alle blieben gehorsam auf ihren Plätzen sitzen, bis das Anschnallzeichen erlosch. Dann standen alle Passagiere gleichzeitig auf, zerrten hastig ihr Handgepäck aus den Fächern und drängten sich im Gang. Alex blieb sitzen. Er hatte es nicht eilig.
Als der Gang fast leer war, stand er auf, zog die kleine lederne Reisetasche aus dem Gepäckfach über dem Sitz und ging nach vorn zum Ausgang. Er bedankte sich bei der Stewardess und trat hinaus in die Fahrgastbrücke. Die dünnen Blechwände ratterten im Wind. In Bangkok war er nicht sicher gewesen, ob er seine Tasche einchecken oder mit in die Kabine nehmen sollte. Auf der Taxifahrt zum Flughafen hatte er sich immer wieder umentschieden. Schließlich hatte er gedacht, es würde verdächtig aussehen, eine so kleine Tasche aufzugeben. Also hatte er sie behalten und war damit eingestiegen.
Er folgte den anderen Passagieren ins Hauptterminal und durch den grell erleuchteten Korridor zur Gepäckabholung. Er hatte schon im Voraus entschieden, dass es am besten wäre, dort herumzutrödeln, am Gepäckband zu stehen und den Eindruck zu erwecken, er warte mit allen anderen. Wenn er als Erster an der Passkontrolle erschiene, würde er nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er brauchte den Schutz der Menge - der Geschäftsleute, die von ihren ausschweifenden Wochenenden in Patpong zurückkamen, der westlichen Backpacker und Studenten im Sabbatjahr, der jungen Thailänderinnen, die ihre Jobs als Hostessen in den Bars von Roppongi antreten würden. Er sah eine indonesische Familie, deren Frauen allesamt gepflegte schwarze Hijabs trugen. Ihnen sollte er lieber nicht allzu nah kommen, beschloss er.
Die ersten Gepäckstücke kippten auf das Band, spärlich erst, aber dann kam eine Flut von Koffern und Reisetaschen. Die Eigentümer hoben sie herunter und stapelten sie auf ihre Gepäckwagen. Alex schloss sich ihnen an und folgte den Hinweisschildern zum Ausgang. Er trat auf das Laufband, das die Passagiere durch einen langen Korridor beförderte, und wartete. Sein Blick war in mittlere Ferne gerichtet, sein Gesichtsausruck neutral und unbekümmert. Das Laufband wurde durch verborgene Kameras überwacht; unsichtbare Flughafenmitarbeiter achteten auf Anzeichen von Unruhe und auf ungewöhnliche Körpersprache, die auf böswillige Absichten hindeuten könnte. Alex wusste, was für ein Gesicht er machen musste, damit die Japaner es nicht deuten konnten. In den sieben Monaten, die er in Tokio verbracht hatte, war er oft in Situationen gewesen, in denen es entscheidend darauf angekommen war.
Er sah sauber und gepflegt aus in Jeans, Chucks und einem karierten Button-down-Hemd, frisch gewaschen im Hotel in Thailand. Sein kurzes blondes Haar war aus dem jugendlichen, leicht gebräunten Gesicht nach hinten gekämmt. Wie alt und erschöpft er sich tief im Innern fühlte, sah man ihm äußerlich nicht an. Verglichen mit den anderen westlichen Passagieren erschien er konservativ. Viele der anderen sahen struppig und verwildert aus, als kämen sie geradewegs aus den Beach-Bars von Pattaya oder Phuket. Sie trugen immer noch ihre bunten Shorts und Sandalen, und einige waren barfuß unterwegs. Die japanischen Geschäftsleute standen zusammen in der abgestandenen Schwüle, eingesperrt in ihre dunklen Anzüge und Krawatten, und berichteten einander schuldbewusst flüsternd von ihren Erfolgen. Alex hatte gelernt, sich im Zaum zu halten; er machte den Eindruck, den er machen wollte: behaglich und entspannt. Ein alltäglicher junger Englischlehrer, der aus seinem Urlaub auf einer Ferieninsel zurückkam.
Das Laufband erreichte das Ende des Terminals, wo eine Rolltreppe in die Ankunftshalle hinunterführte. Die Wegweisertafeln über den Köpfen der Passagiere leiteten die Reisenden zu den verschiedenen Passkontrollschaltern, japanische Staatsangehörige nach links, alle andern nach rechts. Alex wandte sich nach rechts und stellte sich in die mäandernde Warteschlange, die sich langsam voranbewegte. Er empfand ein schwereloses Gefühl der Unausweichlichkeit, als wäre er körperlos. Er umklammerte die gerollten Ledergriffe seiner Reisetasche fest und wartete.
An der Spitze der Schlange blieb er mit den Zehen vor der roten Linie stehen, angespannt wie ein Turmspringer im Schwimmbad. Er blickte unbeirrt geradeaus und trat an den uniformierten Beamten heran, als der ihm winkte. Er stellte seine Tasche ab und reichte seinen Pass hinüber. Der Beamte scannte das biometrische Foto und blätterte, bis er das Botschaftsvisum fand, das hinten eingeklebt war. Seine Zungenspitze kam hervor und befeuchtete seine Lippen, als er las.
»Ihr Visum läuft demnächst ab«, stellte er fest.
Alex überlegte schnell. »Ich weiß. Ich habe bereits eine Verlängerung beantragt.«
»Das ist ein Problem. Es ist nicht gestattet, Japan mit einem Visum zu verlassen, das weniger als sechs Wochen gültig ist.«
Der Beamte schwieg einen Moment lang, betrachtete das Für und Wider der Situation und rief dann seinen Vorgesetzten. Alex spürte, wie das Blut in seinen Ohren zu pochen begann.
»Sie heißen?«, fragte der Vorgesetzte und warf einen Blick auf die Ausweisseite des Passes.
»Alex Malloy.«
»Alter?«
»Sechsundzwanzig.«
»Sie wohnen in Tokio?«
»Ja. In Koenji.«
»Ihre Adresse?«
»3-1-3 Fujimicho, Zimmer neun.«
»Wo arbeiten Sie, Mr Malloy?«
»An der Excelsior School in der Shinjuku Dori.«
»Warum kommen Sie heute allein zurück?«
Alex zögerte. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte er.
Der Vorgesetzte deutete auf den Computer vor ihm. Das Display war für Alex unsichtbar.
»Sie haben für den heutigen Flug zwei Plätze gebucht, einen auf Ihren Namen und einen auf den Namen Naoko Yamamoto. Warum ist sie nicht mitgekommen?«
»Wir . wir haben uns gestritten. Sie hat beschlossen, allein zurückzufliegen.«
»Worüber haben Sie gestritten?«
Alex überlegte kurz, was er antworten sollte. »Über das Wetter«, sagte er schließlich.
Der Vorgesetzte warf einen Blick an Alex vorbei auf die lange Warteschlange, die sich bis zur hinteren Wand der Halle staute. Die nächste Maschine war gelandet, und die Passagiere strömten über die Rolltreppen am anderen Ende herunter. Er klappte den Pass zu und reichte ihn über die Theke.
»Beim nächsten Mal lassen Sie sich den Wiedereinreisestempel geben, bevor Sie abfliegen.«
Alex zwang sich, seine Erleichterung nicht sichtbar werden zu lassen. Er nickte zum Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, schob den Pass in die Gesäßtasche und hob seine Reisetasche auf. Dann ging er auf die Tische der Zollabfertigung zu, die zwischen den Fluggästen und der Außenwelt standen. Durch die Glastüren des Ausgangs sah er die Barriere, hinter der erwartungsvolle Familien neben gelangweilten Chauffeuren standen, die geduldig Papptafeln mit handgeschriebenen Namen hochhielten.
Er schaute an der Reihe der Zolltische entlang, suchte den mit der kürzesten Schlange und entschied sich für den letzten. Vier Zollbeamte durchsuchten dort einen Koffer, der offen auf dem Tisch lag. Ein australisches Ehepaar schaute verlegen zu, wie Kleider und Unterwäsche inspiziert wurden. Die Zöllner winkten neue Passagiere durch, die sich hier anstellten, weil sie nicht wollten, dass die Menge, die sich zum Ausgang schob, ins Stocken geriet. Alex mischte sich unter die Leute und ging an dem Tisch vorbei.
Er war noch zehn Meter vom Ausgang entfernt, und kühle Luft strich über seine Haut, als der Hundeführer hinter ihm vorbeikam. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Deutsche Schäferhund einen neugierigen Blick in seine Richtung warf und prüfend schnüffelte. Die feuchte Nase am Ende der langen Schnauze zuckte. Alex blieb in Bewegung. Draußen vor dem Ausgang umarmten Leute ihre Lieben und gingen dann durch die Ankunftshalle zum Bahnsteig des Expresszugs, der sie in die Stadt bringen würde. Alex ging mit zügigen Schritten auf sie zu, die Tasche in der Hand, den Kopf erhoben, den Blick fest auf die Außenwelt gerichtet. Der...
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