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»Wir haben die tschechoslowakische Grenze überflogen«, informierte der zweite Pilot der Royal-Air-Force-Maschine seine Passagiere. Es war ein sonniger Märztag im Jahr 1946, und Egon Erwin Kisch konnte weit unten deutlich Felder, Wälder und Straßen erkennen. [1] War dies also der Moment, von dem er im fernen Mexiko seit Jahren geträumt hatte? Nein, noch nicht ganz.
Dieser jahrelang tagtäglich und allnächtlich ersehnte Moment würde erst dann kommen, wenn er endlich wieder zu Hause war. Und zu Hause war er nur in Prag. Nirgendwo sonst. Gleichzeitig wusste Kisch, dass eine Rückkehr in »sein« Prag ja gar nicht möglich war, dass »sein« Prag nicht mehr existierte. Die mörderischen Jahre der deutschen Besatzung hatten aus seiner Heimatstadt, wo der »goldene Egonek« früher kaum einen Schritt gehen konnte, ohne von Freunden, Bekannten oder Fremden herzlich gegrüßt zu werden, eine Geisterstadt gemacht. An seine Prager Freundin Jarmila hatte Kisch im September 1945 geschrieben: »Ich habe Angst davor, wen von meinen Freunden ich in Prag noch sehen werde.« Und: »Danach zu fragen, ob Du weißt, wie meine Brüder endeten, fürchte ich mich geradezu.« [2] »Mehr Angst als Hoffnung« habe er, vertraute Kisch seinem Freund Sinaiberger vor der Rückkehr nach Prag an. [3]
Auf dem Sitz neben Kisch saß Otto Katz. Der alte Freund hatte im Laufe seines geheimnisumwitterten Lebens schon viele Namen getragen. Seit seiner Flucht aus Frankreich nannte er sich »André Simone«. Aber Otto war eigentlich immer noch derselbe elegante junge Mann, als den Kisch ihn vor Jahrzehnten kennengelernt hatte. Mit dem Unterschied, dass er, der in Prag weltberühmte Kisch, sich früher um Otto gekümmert hatte und es nun umgekehrt war. Auch Kischs Frau Gisela, genannt Gisl, die in Wien aufgewachsen war und mit ihm nun in das ihr so fremde Prag reiste, kümmerte sich um ihn. Wie sie es stets tat. Und so würde er nicht alleine sein, wenn jener Moment kommen würde, den er so herbeisehnte und gleichzeitig fürchtete.
»Noch fünfzig Minuten«, sagte Otto Katz. Kisch, der lange geschwiegen hatte, wiederholte leise: »Fünfzig Minuten.« Dann war er wieder stumm. Um drei Minuten später zu sagen: »47 Minuten.« Da mussten sie beide lachen. [4]
Und plötzlich, erinnerte sich Otto Katz später zurück, begann Kisch zu erzählen, »hastig, überstürzt, als fürchtete er, nie wieder Zeit dazu zu haben«. Kisch »sprach wie immer von seinem Leben, vom Leben seiner Zeit, deren Sprachrohr, Sprecher und Porträtist er zeit seines Lebens gewesen war. Er war immer neu und stets derselbe«. [5]
Und dann, endlich, lag sie unter ihnen, genau dort, wo sie immer schon gewesen war, geradeso als hätte sich nichts geändert: die »Stadt und Mutter in Israel« an der Moldau, wie ihre jüdischen Bewohner sie seit Jahrhunderten nannten.
»Prag«, sagte Otto. »Prag, mein Junge«, sagte Kisch. [6]
Mag sein, dass Kisch sich gewünscht hatte, im Augenblick der Heimkehr etwas Zeit für sich alleine zu haben. Und vielleicht verspürte er gleichzeitig Angst, enttäuscht zu werden, dass ihn »seine« Prager vielleicht nicht bereits erwarten, ihn nicht stürmisch begrüßen und feiern würden. Diese Angst, sollte er sie verspürt haben, erwies sich allerdings als unbegründet: Nach der Landung am Prager Flughafen wurden Kisch und seine Begleiter sofort von Freunden, Bekannten und natürlich von jenen umringt, deren ungekrönter König er war - den Reportern. Also schlüpfte Kisch sogleich in die Rolle des »rasenden Reporters« und rief: »Was macht Prag? Stehts noch?« [7] Was die Beliebtheit im Volk angeht, nahm Kisch immer noch eine Sonderstellung ein. Ruth Klinger erinnert sich:
Wenn man sich vergegenwärtigt, was für ein Haß damals in der CSR gegen alles Deutsche herrschte, muß man es besonders hoch einschätzen, dass nirgends eine kritische Äußerung darüber fiel, daß Kisch deutsch dachte und deutsch schrieb, daß es nur Übersetzungen waren, die die Auslagefenster der Buchläden füllten. [8] Außer bei Kisch kommt eine Unterhaltung in deutscher Sprache nirgends in Frage. Der Haß gegen alles, was mit deutsch zusammenhängt, ist abgrundtief. [9]
Dass der deutschsprachige Schriftsteller Kisch ganz offiziell in Prag willkommen geheißen wurde, lag auch an den Machtverhältnissen im Land: In der Koalitionsregierung hatten Kischs Genossen, die aus den Wahlen im Mai 1946 als stärkste Partei hervorgingen, bereits großen Einfluss. Die politische Pluralität wurde allerdings Schritt für Schritt immer mehr zur Fassade in einem Bühnenstück, dessen Regisseur im Kreml saß. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Edvard Benes - gegen dessen Mannschaft Kisch früher Fußball gespielt hatte - auch nach den Mai-Wahlen weiterhin Präsident war und Kischs alter Freund Jan Masaryk, der im Volk äußerst populär war, das Amt des Außenministers behalten hatte. Wahrscheinlich ließ sich auch Kisch damals noch von der scheinbaren politischen Pluralität innerhalb der Regierung der nationalen Einheit täuschen. Herz und Kopf waren bei seiner Ankunft ohnehin anderweitig beschäftigt.
»Wir alle«, so schrieb Kisch im April an Hugo Sinaiberger, »wurden hier sehr warm empfangen, die Zeitungen brachten ganzseitige Artikel, und wo immer wir auch auftauchen, gibt es Ovationen.« [10] Im Gespräch mit einem Reporter versuchte Kisch Worte für den bedrückenden Schatten zu finden, der auf seiner Rückkehr nach Prag lag:
Ich habe viele Tote getroffen. Sie stehen vor jedem Haus, sehen aus jedem Fenster. Es sind alte Freunde, Verwandte, Bekannte, die mich anblicken. Sie sind durch den Nazismus gestorben. Es ist ein trauriges Gefühl, auf einen Friedhof zurückzukehren. [11]
Dass Prag ein »Friedhof« geworden sei - dies war offensichtlich nicht das, was der Reporter hören wollte. Wo blieb denn das Positive? Er hakte also nach, wünschte sich von Kisch wohl etwas mehr Begeisterung, wollte den Kommunisten Kisch interviewen, der in ein befreites Land zurückkehrte, das auf dem Wege in die Zukunft, in eine »fortschrittliche« Epoche schien. Und so schwächte Kisch seine düstere Aussage ab, indem er eine leicht spöttische Bemerkung über das »direkt berauschende Tempo« der Stadt machte. [12] Sicher begriff er sehr wohl, dass er als jüdischer Überlebender die verordnete fröhliche Wiederaufbaustimmung im Land stören würde, wenn er zu offen darüber Auskunft gab, wie es in seinem Innern aussah. In seinen Briefen an alte Freunde musste Kisch keine politischen Rücksichten nehmen und deutete das Wechselbad der Emotionen angesichts von frohen Momenten des Wiedersehens und grausamen Nachrichten an:
In Prag trifft sich nun alles, was jahrzehntelang in der Welt zerstreut war, die wenigen, die überlebt haben, oder wenigstens ihre Söhne und Verwandten . Gestern waren wir bei einer Frau Würzburger eingeladen, die mit Elly in Terezin gewohnt hat und auch die Nacht ihres Selbstmordes mit ihr verbrachte. [13] [.] Was soll ich Dir schreiben? In Prag leben wohl nur mehr wenige von Deinen Bekannten [.]. Leila, die Freundin von Hermann Ungar und später von Camill Hoffmann, der auch im Gas geendet hat, geht jetzt aus Prag nach Amerika. Die schöne Anka Vikova ist als Geisel für Heydrich hingerichtet worden. Von meinen Brüdern sind Paul und Arnold in den Tod geschickt worden. Kaspar, der Arzt, und die zwei Kinder von Arnold leben in London. [14]
Und manchmal überwältigte ihn die Sehnsucht nach den ermordeten Freunden und Verwandten, nach seinem Prag: »Ich fühle mich fast selbst wie einer jener Toten. Und vielleicht bin ich ja nur zurückgekommen, um zu sterben.« [15]
Ein müder Egonek am Grab des Großvaters Jonas Enoch Kisch
Von den nahezu 80 000 durch die Deutschen nach Theresienstadt deportierten tschechischen Juden hatten nur rund 3000 überlebt. [16] Die meisten der 10 000 nun in Prag wohnenden Juden - vor der Besetzung lebten dort rund 55 000 - kamen aus der Slowakei. [17]
Sofort nach seiner Rückkehr »meldete« sich Kisch bei der Prager jüdischen Gemeinde. Seiner Freundin Ruth Klinger erzählte er:
Früher habe ich mich um diesen...
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