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Gottseins Gnade
Als Dr. Thaddaeus Gottsein in den Besucherraum der Haftanstalt trat, hatte er tatsächlich etwas von einer himmlischen Erscheinung. Sehr prominent stand er plötzlich da, vom Neonlicht des Getränkeautomaten umrahmt wie von einem Heiligenschein. Das Licht ließ die ergrauenden Haare leuchten, das rein gewaschene Hemd und die Turnschuhe, die so sauber waren, weil Gottsein bis vor Kurzem nur Klinikflure mit ihnen entlanggelaufen war. Lediglich sein Bart war noch nicht so lang, wie man es nach der Betrachtung entsprechender Bilder hätte erwarten können, und seine Jeans wirkte wenig göttlich. Sie wirkte auch nicht ärztlich. Was der Hauptgrund war, warum Gottsein sie trug.
Während alle Welt nach denen fahndete, die möglicherweise in Gottseins vorübergehende Ermordung involviert gewesen waren, hatte er selbst etwas ganz anderes zu finden versucht, nämlich sich selbst in einer Meditations-App. Es war sicherlich nichts falsch an seiner Tätigkeit als Arzt gewesen. Gottsein hatte viele Leute glücklich gemacht, einschließlich sich selbst, seiner Frau und ihres gemeinsamen Bankkontos, für eine Zeit. Aber wenn im Leben erst mal etwas in Schieflage gerät, wenn man zum Beispiel stirbt und dann wiederaufersteht, wie es bei Gottsein der Fall war, dann verändert dieser schiefe Winkel die Perspektive sehr umfassend. Selbst das, was vorher noch nach Ordnung aussah, wirkt mit einem Mal windschief und verzogen und muss neu ausgelotet werden. Und das tat Gottsein im Moment.
Weil er bereits geahnt hatte, wie viel Zeit solch eine Neuauslotung brauchte, hatte er sich selbst von der Arbeit freigestellt. Und seine Frau, die schon immer seine größte Unterstützung im Leben gewesen war, hatte auch diesmal gewusst, was ihr Mann am meisten brauchte, und ihn ebenfalls freigestellt. Als Gottsein nach seinem Krankenhausaufenthalt sehr zittrig die Haustür im heimischen München aufgeschlossen hatte, hatte in der Schlüsselschüssel aus Porzellan ein sorgsam beschrifteter Zettel mit einer Nachricht an ihn gelegen: »Dreckhammel verdammter, du g'hörst mit der Scheißbürst'n ausg'haun.«
Gottseins Frau hatte die Koffer und Kinder gepackt und ihn verlassen. Von allem, was es im Haus zuvor an Leben und Lebendigem gegeben hatte, hatte sie nur den Hund dagelassen. Man könnte das für umsichtig halten, denn jeder weiß ja, dass Tiere einen Instinkt für aus dem Lot geratene Situationen haben. Aber Gottseins Frau hatte den Hund dagelassen, weil sie ihn nie gewollt hatte.
Gottseins Hund war Gottseins Hund. Er hatte ihn eines Tages als Überraschung für die Familie mitgebracht, weil eine Familie in seinen Augen einen Hund brauchte und umgekehrt. Was er dabei nicht bedacht hatte, war, dass ein Hund auch jemanden braucht, der dreimal am Tag mit ihm spazieren geht und der ihn davon abhält, die Schuhe anzukauen und die Wohnzimmerkissen vollzuhaaren, und der überhaupt sehr viel putzt und sprüht, um die entsprechenden Spuren und Gerüche zu verwischen, die ein Hund eben so mit sich bringt. Ein Hund kann den optischen Eindruck vermitteln, er sei ein Meerschwein. Er kann so wenig wie ein Wolf aussehen, wie er will. Sobald er einem warm ins Gesicht hechelt, weiß man eben doch, wie es um die Verwandtschaftsverhältnisse steht.
Gottseins Hund jedenfalls sah nicht aus wie ein Meerschwein, sondern wie eine beinahe reinrassige Deutsche Dogge. Und er schiss auch so. Wenn Gottsein mit ihm spazieren ging, nahm er nun immer eine Schaufel mit und einen Plastiksack, der etwas größer war als die von der Stadt bereitgestellten Normsäckchen für Hundehaufen. Gottsein sah es als Zeichen. Sein Weg zur Läuterung war steinig, führte durch den Englischen Garten und war mit Hundekot besät.
»Der Hund darf hier aber nicht rein«, sagte der Beamte an der Tür zum Besucherraum. Also sprach Gottsein: »Sitz. Du sollst sitzen.«
Und dann betraten er und der Beamte den Besucherraum, während der Hund noch immer interessiert vor der Scheibe stand, als sei er ein Besucher in der Neugeborenenstation.
Gottsein setzte sich vor Mari an den Tisch wie einer, der es gewohnt war, sich vor einen Patienten zu setzen. Er lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam, und fast erwartete Mari, dass er gleich eine Patientenakte zücken würde. Dass er fragen würde: Was fehlt uns denn? Oder: Wie geht es uns denn heute? Doch stattdessen sagte Gottsein: »Da sind wir also.« Die Banalitäten, mit denen die Menschen ihre Gespräche eröffneten, machten auch vor Bildungsschichten keinen Halt.
Mari lächelte ebenso unverbindlich interessiert wie der Hund draußen vor der Scheibe. Sie hegte keinen Groll gegen den Doktor. Sie hatte Gottsein umgebracht und dann wiederbelebt, was mehr war, als man im Durchschnitt gegen und für jemanden unternahm. Die eine Tat glich die andere aus.
»Wie geht es uns denn heute?«, fragte sie, um ihm den Einstieg zu erleichtern. Und dann erzählte Gottsein. Er erzählte nicht nur, wie es ihm heute ging, sondern auch, wie es ihm in den letzten Wochen gegangen war und in den Monaten und Jahren davor, in den »Frevlerjahren«, wie er sich ausdrückte, und damit meinte er nicht nur seine unterdrückten pädophilen Neigungen, sondern auch den falschen Ehrgeiz bei der Arbeit und die verpasste Zeit mit seiner Familie. Er redete von dieser Zeit tatsächlich so, als stamme sie aus einem anderen Leben. Als habe Mari ihn bei der Reanimation nicht nur wieder-, sondern gleich neubelebt.
»So eine zweite Chance bekommt nicht jeder«, sagte er immer wieder, und dass Mari ihn auf einen neuen Weg gebracht habe. Einen Weg nämlich, dessen Rand nicht nur von ein Pfund schweren Hundehaufen gesäumt war, sondern auch von Religionen.
Gottsein war, nach menschlichen Maßstäben, immer ein recht rationaler Mann gewesen. Einer, der Religion für eine Erfindung gehalten hatte, die nach und nach von der Gegenwart eingeholt und verdrängt sein würde, höchstens noch aufrechterhalten von hoffnungslosen Nostalgikern - in etwa so, wie es mit Schallplatten oder VHS-Videokassetten oder dem Schuhlöffel passiert war.
Aber wie sollte einer, der selbst von den Toten auferstanden war, sich jetzt noch gegen Jesus wehren? Und wenn diese Sache mit Jesus stimmte, wie konnte man sich dann sicher sein, dass nicht auch das mit Gott und Allah und Brahma, Vishnu und Shiva und vielleicht sogar Zeus und den fünf Geschwistern von Zeus und den zehn göttlichen Kindern von Zeus stimmte? Nach ausführlicher Beschäftigung mit den verschiedensten Glaubensrichtungen, nach Besuchen von Kirchen, Tempeln und Moscheen war Gottsein zu dem Schluss gekommen, dass man nicht wissen konnte, welche Religion die einzig wahre war. Und dass man, um keinen Fehler zu begehen, allen Göttern und Propheten eine Chance geben müsse. Natürlich gab es da ein paar Lehren, die sich ausschlossen. Das christliche Gebot, man dürfe keine anderen Götter neben Gott haben, war zum Beispiel so ein Problem. Aber wenn man diese Misshelligkeiten rausrechnete, gab es immer noch genügend Gebote und Bestimmungen, nach denen sich leben ließ. Gottsein war polyreligiös geworden, das hieß, seine Verrücktheit hatte sich verschoben. Als Nächstes wollte er übrigens nach Nigeria reisen, um sich dort mit dem Glauben afrikanischer Naturreligionen zu befassen.
»Nach Nigeria?«, fragte Mari.
»Genau.«
»Haben Sie sich das gut überlegt?«
»Es gibt da eine sehr interessante Religion, die sich Juju-Glauben nennt.«
»Und über die können Sie im Internet nicht vielleicht einfacher Informationen finden?«
Gottsein lächelte. »Natürlich muss man rechts, links ein wenig aufpassen«, sagte er, als handele es sich bei Nigeria um einen Zebrastreifen, »aber statistisch gesehen passieren die meisten Unfälle ja auch gar nicht auf Reisen, sondern im eigenen Haushalt.«
Mari hielt es generell für einen erfreulichen Ansatz, dass ein Mensch auf die Idee kam, sein verzerrtes Weltbild durch Statistiken zu objektivieren. Noch erfreulicher wäre es allerdings gewesen, wenn die Statistik zur Sachlage gepasst hätte. Dass Gottsein in Nigeria nicht beim Putzen verunglücken würde, bedeutete schließlich nicht, dass es der bestmögliche Ort für seine persönliche Sicherheitslage war. Ganz abgesehen davon, dass ein Zusammenstoß mit Boko Haram mit höherer Wahrscheinlichkeit tödlicher endete als der Zusammenstoß mit der hauseigenen Heckenschere. Statistisch gesehen.
»Es ist jedenfalls interessant, dass ausgerechnet Sie sich um meine Sicherheit sorgen«, sagte Gottsein. »Wo Sie mich doch selbst schon mal umgebracht haben.«
»Ich habe Sie auch wiederbelebt.«
»Das haben Sie.«
»Außerdem wollte ich Sie nicht umbringen. Ich wollte Sie nur in angemessenem Maße stark verletzen.«
»In angemessenem Maße .«, murmelte Gottsein und blickte auf seine gefalteten Hände im Schoß. Er hatte einen Weg gefunden, wie er gleichzeitig die Hände falten und die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zusammenlegen konnte. Dann räusperte er sich. »Ich bin jetzt in Therapie, wissen Sie? Wegen meiner . Neigungen.«
Das hielt Mari für eine ausgezeichnete Idee.
»Die Spaziergänge mit meinem Hund helfen auch. Und die Gespräche mit ihm. So viel wie mit ihm derzeit habe ich nicht mal mit meiner Frau gesprochen.«
Sie blickten zur Glastür. Vor der platt gedrückten Hundenase hatte sich ein weißer Atemkreis gebildet.
»Was machen Sie mit Ihrem Hund, wenn Sie nach Nigeria gehen?«, fragte Mari.
»Höchstwahrscheinlich nehme ich ihn mit.«
»Höchstwahrscheinlich ist das eine schlechte Idee.«
»Warum?«
Mari...
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