Kapitel 1
Nur zögernd wich der graue Nebel zurück und beugte sich der Kraft der Sonne, die zunächst zaghaft und dann immer mutiger ihre Strahlen durch die dichten Wolken schickte und der Welt langsam Stück für Stück ihre Farben zurückgab. Vereinzelte Nebelschwaden versuchten hartnäckig, Widerstand zu leisten und verharrten noch eine Weile trotzig über dem kleinen Tümpel im Lübecker Stadtpark, bis auch sie sich schließlich widerwillig auflösten. Die Konturen der Bäume zeichneten sich zunehmend klarer vor dem Hintergrund des weitläufigen Parkgeländes ab. Die morgendliche Stille wurde lediglich vom leisen Vogelgezwitscher ringsumher unterbrochen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen Florian Martens, der sie begleitete, liebte Kriminalhauptkommissarin Paula Maschke diese frühen Morgenstunden, wenn die Natur gerade erwachte. Sie vermittelten ihr ein Gefühl, als ob die Welt noch in Ordnung sei, auch wenn das gelbe Absperrband, das jetzt unmittelbar vor ihr flatterte, das Gegenteil vermuten ließ. Ihr Kollege teilte diese Vorliebe nicht. Müde und missmutig trottete er hinter Paula her, ohne nach rechts und links zu schauen. Die Schönheit des Parks interessierte ihn nicht. Er hockte am liebsten im Büro vor seinem Computer und recherchierte. Die Arbeit außerhalb dieser gesicherten vier Wände lag ihm nicht. Ich müsste mal wieder joggen gehen, dachte Paula s pontan, ohne auf ihren Kollegen zu achten. Ihre Jeans fing schon wieder an zu kneifen, nur ließ ihr Job regelmäßigen Sport nicht zu.
Kurz vor dem Absperrband blieb Paula stehen und ließ die Szenerie, die sich ihr bot, auf sich wirken. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sich aus den Bäumen, die um den Teich standen, plötzlich ein Krähenschwarm laut kreischend und mit aufgeregtem Flügelschlag in die Lüfte erhob. Das schrille Krächzen der Vögel ließ Paula einen Schauer über den Rücken rieseln. Wie sie diese Viecher hasste. Ihr Anblick ließ sie stets an Gräber und Tod denken, auch wenn sie wusste, dass ihre Abneigung übertrieben war und Krähen mit zu den intelligentesten Vögeln gehörten, die es gab. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Für sie waren es Vögel, die an den Tod mahnten. Todeskrähen. In ihrer Erinnerung erschien das Bild von der Beerdigung ihrer geliebten Großmutter, wie diese bleich und still in dem in der Kirche aufgebahrten Sarg gelegen hatte. Und wie dieser dann später langsam in die Grube herabgelassen wurde, während Paula selbst wie erstarrt den Krähen zugesehen hatte, die auf den umliegenden Grabsteinen saßen und die Trauergäste mit ihren blanken Knopfaugen beäugten.
Damals war sie erst sieben Jahre alt gewesen, aber dieses Bild hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Auf dem Nachhauseweg vom Friedhof hatte sie sich die ganze Zeit gefragt, ob die Vögel wohl nur darauf warteten, dass die Trauergäste endlich gingen, damit sie sich mit ihren scharfen Schnäbeln über ihre Oma hermachen konnten. Die tröstenden Worte ihrer Mutter hatten sie nicht von dieser Vorstellung abbringen können. Heute wusste sie es natürlich besser, aber trotzdem konnte sie ihre Abneigung gegen diese Tiere nicht verbergen. Fröstelnd zog Paula die Schultern hoch, während sie dem Kreisen der Todeskrähen über den Bäumen zusah.
Florian hielt sich abwartend zwei Schritte hinter ihr, und Paula hörte ihn genervt seufzen. Als sie sich fragend zu ihm umdrehte, sah sie, wie er angewidert seine Schuhe betrachtete, die bereits durch den kurzen morgendlichen Gang durch den Park schmutzig geworden waren. Paula schmunzelte leise in sich hinein. Sie kannte Florian und seine penible Art und wusste, dass er nichts so sehr hasste wie Schmutz und Unordnung. Sie war sich sicher, dass er seine Schuhe sofort putzen würde, sobald sie zurück im Büro waren.
Paula atmete tief die klare Luft ein. Das Plätschern der leisen Wellenbewegungen des kleinen, abgesperrten Tümpels, vor dem sie nun stand, klang beruhigend und half ihr, sich auf das vorzubereiten, was sie gleich erwarten würde. Der Beschreibung ihrer Kollegen nach, die bereits vor Ort waren und den Tatort abgesperrt hatten, erwartete sie kein schöner Anblick, aber das war es ihrer Erfahrung nach eigentlich nie, wenn es um Leichenfunde ging. Paula bewegte sich langsam auf den Tümpel zu. Ein uniformierter Kollege, der etwas blass um die Nase wirkte, hob das Absperrband an, sodass sie und Florian Martens bequem darunter durchschlüpfen konnten. Offenbar wusste er, wer sie waren, auch wenn Paula selbst ihn noch nie gesehen hatte. Ihr Blick wanderte zum nahe gelegenen Teich und blieb an ein em unförmigen Klumpen hängen, der dort halb verborgen unter den herabhängenden Ästen der Trauerweide sanft im Wasser hin- und herschaukelte. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte auf den Teich zu und erkannte dann, dass eine weißlich schimmernde Hand aus dem unförmigen Gebilde ragte und im Wasser sanft hin und her schwang, so als wollte sie ihr zuwinken oder sie einladen, zu ihr ins Wasser zu kommen. Soweit Paula es erkennen konnte, handelte es sich bei dem Toten um einen jungen Mann. Der Leichnam war offenbar noch nicht bewegt worden. Paula sah sich suchend um, konnte aber die zuständige Gerichtsmedizinerin Gerda May nirgendwo entdecken.
»Frau May ist auf dem Weg«, sagte der junge Polizist am Absperrband, dessen Namen sie nicht kannte, hilfsbereit, als er ihren suchenden Blick bemerkte. »Ich denke, er ist ermordet worden«, fügte er noch hinzu. Als er den finsteren Blick von Paula bemerkte, zog eine leichte Röte langsam seinen Hals hinauf. Unbehaglich wand er sich unter ihrem forschenden Blick.
»Vielen Dank für Ihre ungemein erhellende Analyse. Sind Sie Gerichtsmediziner?«, antwortete Paula genervt. »Sagen Sie mir lieber, wer ihn gefunden hat.«
Der junge Polizist schluckte hörbar. Eingeschüchtert hob er den Arm und zeigte vage in die andere Richtung des Parks auf eine junge Frau, die sichtlich erschüttert dort stand und zu ihnen herüberstarrte.
»Juliette . Meyer«, stotterte der Uniformierte schließlich. Trotz der morgendlichen Kühle schwitzte er stark und wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform verlegen durch das inzwischen hochrote Gesicht.
Paula nickte wortlos und winkte Florian zu sich. »Geh bitte zu der jungen Frau dort und befrage sie, okay? So wie es aussieht, hat sie den Toten wohl gefunden. Ich schaue mich hier noch etwas um und warte auf die Gerichtsmedizinerin. Danach fährst du gleich zurück ins Büro und gehst die Vermisstenmeldungen der letzten Tage durch. Vielleicht ist ja jemand dabei, auf den die Beschreibung passt.«
Paula wollte sich gerade wieder dem übereifrigen Polizisten zuwenden, als Florian sie zurückhielt.
»Sei nicht so hart zu dem armen Mann«, zischte er ihr vorwurfsvoll zu, bevor er den Anweisungen seiner Chefin Folge leistete und zu Juliette Meyer ging.
Verdutzt blickte Paula ihm hinterher. Was hatte er denn plötzlich? Sie war doch nicht hart zu dem jungen Mann gewesen, sondern hatte nur klargestellt, dass er voreilige Schlüsse gezogen hatte. Irgendjemand musste ihm das doch sagen. Kopfschüttelnd sah sie ihrem Kollegen hinterher und holte tief Luft, bevor sie sich wieder dem jungen Mann vor ihr zuwandte.
»Wissen wir, um wen es sich bei dem Toten handelt?«, fragte sie betont höflich.
Der Polizist schüttelte stumm den Kopf, während er hektisch seine Notizen durchsah.
»Nein, er hatte keine Papiere dabei«, presste er schließlich gequält hervor. »Wir haben den ganzen Park abgesucht, aber da war nichts«, fügte er noch schnell hinzu, als er sah, wie Paulas Miene sich bei seinen Worten erneut verfinsterte.
»Okay, dann suchen Sie mal weiter«, wies Paula ihn an. Dienstbeflissen nickte der junge Polizist und eilte davon. Genervt sah Paula ihm hinterher.
»Junger Mann, um die zwanzig, von guter körperlicher Konstitution. Starker Muskeltonus, ausgeprägte Oberarme. Wahrscheinlich ein Sportlertyp. Ich würde auf Bodybuilding tippen«.
Die Gerichtsmedizinerin Gerda May ging langsam um den Stahltisch herum, auf dem der Tote aus dem Park lag, und sprach dabei in ihr Diktiergerät. Sorgfältig registrierte sie jedes Detail, das ihr auffiel, und blickte dabei hochkonzentriert durch ihre altmodische Schildplattbrille, die viel zu groß für ihr schmales Gesicht war, während sie sich zielstrebig um den Tisch herumbewegte. Die Brille verlieh ihr das Aussehen einer strengen Lehrerin aus den alten Spielfilmen der Fünfzigerjahre. Ab und zu blieb sie kurz stehen, um den Leichnam näher zu begutachten, und setzte dann ihre Runde fort. Nachdem Gerda May bereits im Park eine kurze oberflächliche Untersuchung des Leichnams vorgenommen hatte, war der Tote direkt in die Gerichtsmedizin gebracht worden.
Kriminalhauptkommissarin Paula Maschke sagte nichts. Sie kannte die Gerichtsmedizinerin gut und wusste, wann es besser war zu schweigen. Gerda May mochte es gar nicht, wenn ihr jemand dazwischenfunkte. Geduldig wartete sie also, bis die May mit der äußeren Begutachtung des Toten fertig war. Ganz anders ihr neuer Kollege Hubert Birkholz, der sich erst seit Kurzem vom Drogendezernat in Berlin zur M ordkommission Lübeck und in ihre Abteilung hatte versetzen lassen, um »näher an der Ostsee« zu sein, wie er mit seltsam hoher Stimme nicht müde wurde zu betonen, wenn ihn jemand danach fragte. Klein und drahtig, wie er war, lief er nervös hin und her. Seine Füße waren erstaunlich groß für seine geringe Körpergröße und erinnerten Paula immer ein wenig an die eines Hobbit. Ab und zu blieb er stehen und musterte interessiert die Gerichtsmedizinerin. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah, denn sein Blick verklärte sich...