Schweitzer Fachinformationen
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Jean-Baptiste LeRoux
15. Oktober
Das Klingeln drang wie durch Watte an sein Ohr. Es war schrill und durchdringend, ein altmodisches amerikanisches Telefonklingeln, und es dauerte lange, bis er begriff, dass es sein eigenes Handy war. Er öffnete vorsichtig die Augen und erschrak. Der riesige Spiegel an der Decke reflektierte seinen nackten Körper mit dem zerknautschten Gesicht und das zerwühlte Bett. Von Céline sah er nur das linke Bein und einen Teil der linken Brust. Was ihn in der Nacht erregt hatte, warf im trüben Licht des Morgens Fragen auf: Wer und was hatte sich hier schon alles gespiegelt? Er spürte ihren warmen Körper neben sich und hatte eine leichte Erektion. Er beugte sich über sie und leckte über ihre Brustwarze. Sie seufzte im Halbschlaf und drehte sich zur Seite.
Er blinzelte gegen die Helligkeit an und fluchte. Merde! Das Klingeln hörte nicht auf. Sein Kopf schmerzte. Als er dranging, meldete sich Bruno.
"Wo steckst du? Du musst sofort kommen. Unten am Urban Beach ist eine Leiche gefunden worden."
Er murmelte etwas, ließ sich die genaue Stelle beschreiben, drückte Bruno weg und zündete eine Zigarette an. Merde, merde, merde. Er scheuchte Flaubert, Célines fetten Perserkater, der sich am Fußende zusammengerollt hatte, aus dem Bett und empfand Genugtuung, als dieser die bösen grünen Augen zu Schlitzen verengte, die Nackenhaare sträubte und ihn anfauchte. Er hasste Katzen. Das Zimmer sah aus wie ein Bordell. Leere Gläser und Flaschen, überquellende Aschenbecher, Strümpfe, Schuhe, Célines Slip und BH, verstreute Kleidungsstücke. Es war heiß hergegangen. Er hatte einen Mordskater. Hoffentlich hatte Bruno nicht bei ihm zu Hause angerufen. Er hatte Sophie gesagt, dass er eine nächtliche Ermittlung durchführen müsste, ein Mordfall im Clubmilieu, blablabla. Sophies Blick war kalt gewesen. Er musste die Sache in den Griff bekommen. Nicht die Sache, sondern seinen Schwanz. Es war Zeit, das Ganze zu beenden. Bevor es aus dem Ruder lief.
Er suchte seine Kleidungsstücke zusammen und zog sich an. Das Hemd war zerknittert und roch nach Schweiß. Er ging ins Bad, pinkelte, warf die Zigarettenkippe ins Klo, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und strich die Haare glatt. Er sah aus wie ein Penner. Es war Montagmorgen, 9:23 Uhr. Er hätte vor einer knappen Stunde im Büro sein müssen. Scheiß drauf, dachte er. Er hätte dringend einen Kaffee und eine Dusche gebraucht, aber das musste er sich verkneifen. Céline war anscheinend wieder eingeschlafen, und er zog leise die Tür hinter sich zu.
Sein Auto stand unten vor dem Haus. Die Luft war kühl und ihm schwindelte ein wenig. Er hatte noch ordentlich Restalkohol im Blut, doch falls ihn jemand anhielt, würde sein Ausweis ihn retten. Jean-Baptiste LeRoux. Sergeant. Sûreté du Québec. Eine Krähe hackte der anderen kein Auge aus.
Der Urban Beach lag in der Nähe des Jacques Cartier Pier, keine 13 Kilometer von hier, doch der Verkehr in der City war dicht und er kam nur langsam voran. Er zündete noch eine Zigarette an und kurbelte die Scheibe herunter. Er hätte Céline einen Zettel schreiben sollen. "Danke für alles. Mach's gut." Vielleicht würde er sie anrufen. Sie würde ihm die Augen auskratzen. Er hasste Szenen.
Der St. Lawrence führte Hochwasser. Die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten den Strom anschwellen lassen und die Schiffe im Vieux Port schaukelten im Wellengang. Die Uhr am Tour de l'Horloge zeigte 10:13 Uhr. Was für eine Scheißzeit für eine Leiche. Hoffentlich war Morel nicht vor Ort. Bruno war ganz okay. Der Urban Beach, an dem sich im Sommer die Touristen tummelten, lag verlassen da, die bunten Deckchairs und Sonnenschirme waren verschwunden, der künstlich aufgeschüttete Sand grau und feucht. Am Straßenrand stand ein Polizeiwagen mit Blaulicht, daneben ein Krankenwagen. Er parkte vor dem Absperrband, das irgendjemand bereits befestigt hatte. Es flatterte leise im Wind. Ein Gefühl von Trostlosigkeit überfiel ihn. Er hoffte, dass es nicht allzu schlimm werden würde. Bruno hatte ihn bereits erspäht und winkte wie ein Irrer. Neben ihm hantierten zwei Typen in weißen Plastikanzügen. SpuSi-Leute. Jemand machte Fotos. Auf einem Klappstuhl saß ein junger Mann, der in Decken eingewickelt war. Ein Sanitäter reichte ihm eine Tasse Tee, doch seine Hände zitterten so stark, dass er die Hälfte verschüttete.
"Ah, Jean-Baptiste. Ça va?"
Die Lamartine. Zuckersüße Stimme. Einladendes Lächeln. Harter Blick. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Küsschen links, Küsschen rechts. Teures Parfum, wahrscheinlich Chanel. War mindestens 50, die alte Schachtel.
Staatlich geprüfte Leichenfledderin. Machte ihm jedes Mal schöne Augen. Ekelhaft. Morel war nicht in Sicht.
"Bonjour, LeRoux! Ausgeschlafen?" Bruno grinste breit. "Hoffentlich hast du gut gefrühstückt. Wir haben eine angeschwemmte Pocahontas. Schön durchweicht."
Wenn Bruno blöde Witze riss, würde es schlimm sein. In letzter Zeit hasste LeRoux seinen Job. Die Leiche lag auf einer schwarzen Plastikfolie. Sie sah aus wie aus einem Zombie-Film. Es war eine Frau. Wahrscheinlich Indianerin. Viel mehr konnte man nicht erkennen. Lange schwarze Haare, die wie krautige Algen ein grotesk aufgedunsenes Gesicht umrahmten. Die Augen waren von Vögeln ausgepickt worden, sodass man nur die Höhlen sah. Der Kieferknochen der linken Wange lag frei, die obere Zahnreihe grinste ihn an wie bei einem Skelett. Sie trug einen Minirock, Stiefeletten und ein Shirt. Die Kleidung war zerfetzt, die Haut verschrumpelt wie eine faulige Apfelsine, Arme und Beine so aufgequollen, dass man die Gelenke nicht mehr erkennen konnte. Sie stank nach verwestem Fisch.
Die Übelkeit überwältigte ihn und ein Kotzeschwall schoss in einer bröckeligen bräunlichen Flut über seine Jacke und Lamartines Lederpumps.
"Mon Dieu!" Die Lamartine sprang zur Seite, zog ein Taschentuch hervor und wischte an ihren Schuhen herum. Während er versuchte, seine Jacke ein wenig zu säubern, entschuldigte er sich bei ihr.
"Hätte gar nicht gedacht, dass Sie so zart besaitet sind, Jean-Baptiste. Ich glaube, Sie schulden mir einen Kaffee. Wenn nicht mehr." Sie lächelte vielsagend.
Er musste aufstoßen. Außerdem hatte er einen Höllendurst. "Wir sind fertig", sagte einer der beiden Typen von der SpuSi.
"Dann bringt die Kleine mal ins Bettchen. Ziemlich frisch hier draußen. Erkältet sich sonst." Bruno wieherte wie ein Pferd. Er hasste Brunos Witze. Der Fotograf packte sein Stativ zusammen.
"Können Sie schon etwas sagen, Bernadette?" LeRoux sah der Lamartine in die Augen und bemühte sich, geschäftsmäßig zu klingen.
"Todeszeitpunkt? Todesursache?"
"Geben Sie mir etwas Zeit, Jean-Baptiste", flötete sie. "Wenn Sie morgen ins Labor kommen, weiß ich sicherlich schon mehr." Das klang wie ein erotisches Versprechen. Er kramte die Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche und zündete sich eine an.
"Meinen Sie, es war ein Unfall?", fragte er. "Nein", sagte sie. "Mit Sicherheit nicht."
Sie zeigte mit der Schuhspitze auf den offenen Kieferknochen. Er musste sich zwingen hinzuschauen. "Sehen Sie den kleinen dunklen Fleck an der Schläfe?"
Er nickte und spürte wieder ein Würgen im Hals.
"Das ist eine Einschussstelle. Ich muss die Haare abrasieren und den Schädel aufsägen. Wenn wir Glück haben, steckt die Kugel noch im Kopf."
"Okay", sagte er und wandte sich zur Seite. Diesmal kam nur grünlicher Schleim.
Die SpuSi-Leute wickelten die Leiche in die Plastikfolie, hoben sie in einen Zinksarg und trugen sie zu ihrem Wagen. Auch die Lamartine setzte Segel. Er wischte die Mundwinkel ab und nahm einen tiefen Atemzug. Ihm war noch immer übel. Das Wasser des St. Lawrence roch faulig. Herbstlaub hatte sich unter dem Holzsteg gesammelt und moderte vor sich hin. Er warf die nur halb gerauchte Zigarette ins Wasser. Bruno hatte den Studenten, der die Leiche entdeckt hatte, bereits interviewt und seine Personalien aufgenommen. Bekifft, aber ansonsten ein unbeschriebenes Blatt. Hatte brav die Polizei gerufen. Stand noch unter Schock. Die Sanitäter würden sich um ihn kümmern.
Jean-Baptiste fror. Er gab Bruno das Zeichen zum Aufbruch. Wenn er nicht bald einen Kaffee bekam, würde er sterben. Er beschloss, sein Auto besser hier stehen zu lassen und mit dem Polizeiwagen ins Büro zu fahren. Es war noch keine 11:00 Uhr. Was für ein beschissener Tag.
"Wo warst du eigentlich heute Morgen? Sophie meinte, du würdest Nachtschicht machen."
Bruno grinste schief. Scheiße. Also hatte er bei ihm zu Hause angerufen.
"Hab ich auch", sagte er. Bruno grinste noch breiter.
"Standst aber nicht auf dem Einsatzplan", sagte er. "War bestimmt undercover."
"Genau", sagte er und schoss Bruno seinen Don't-fuck-with-me-Blick zu. Es wirkte. Bruno runzelte die Stirn und schwieg den Rest der Fahrt.
Der große graue Kasten der Sûreté du Québec in der Rue de Parthenais trug nichts dazu bei, seine Stimmung zu heben. Das Morddezernat lag in der fünften Etage. Im Aufzug spürte er wieder das flaue Gefühl im Magen. Er würde Marie bitten, ihm einen Kaffee zu machen und ein Sandwich zu kaufen. Bevor die Lamartine fertig war, konnten sie eh nicht viel machen. Protokoll anfertigen, Vermisstenanzeigen sichten, den üblichen Papierkram erledigen. Er würde früh Feierabend machen und dann ab nach Hause, duschen und ins Bett. Er wollte lieber nicht an Sophie denken. Bloß keine Szene heute. Doch kaum waren sie im Büro, tauchte Morel auf. Er blickte ihn an wie ein verfetteter...
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