Schweitzer Fachinformationen
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»Am Ende dieses Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit (auch die Vergangenheit der Gegenwart) keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Eine Welt, in der wir nicht mehr wissen können, wohin uns unsere Reise führt, ja nicht einmal, wohin sie uns führen sollte.«
E. Hobsbawn1
»Die … kulturelle Krisenerfahrung liegt in dem gleichzeitigen Verlust einer referenzstiftenden Vergangenheit und einer sinnstiftenden Zulunft.«
H. Rosa2
Ich möchte Sie in einem kleinen Gedankenexperiment dazu einladen, sich in das Jahr 1987 zurückzuversetzen. Oder gehen Sie einfach so weit zurück, als es Ihnen möglich ist. Erinnern Sie sich, wo Sie damals lebten, was Sie beschäftigte, bei wem und mit wem Sie lebten und vor allem: was Sie damals erstrebten, erhofften und von der Zukunft erwarteten.
Und dann führen Sie sich vor Augen, was seither tatsächlich in Ihrem Leben passiert ist.
Ihre Erfahrungen gehören natürlich nur Ihnen. Aber ich vermute, dass manches, vielleicht sogar vieles von dem, was in Ihrem Leben seither passiert ist, für Sie recht weit außerhalb Ihrer damaligen Vorstellungen lag.
Dieses kleine Gedankenexperiment lässt sich auch für die öffentliche Erinnerung anstellen. Dann liegen zwischen 1987 und heute der Zusammenbruch des Kommunismus, die Verbreitung von PCs, Internet und Handys, der Fastzusammenbruch des internationalen Finanzsystems, die unabweisbare Erkenntnis eines globalen Klimawandels mit apokalyptischem Drohpotential, der Beinahekollaps des in dieser Zeit überhaupt erst eingeführten Euros, die Wahl eines Afroamerikaners zum Präsidenten der USA und ein deutscher Außenminister, der offiziell mit seinem angetrauten Ehemann reist.
So unterschiedlich all diese Phänomene sind, sie haben eines gemeinsam: Sie kamen ziemlich unerwartet und waren jeweils noch kurz vorher kaum vorstellbar. Natürlich war die Zukunft immer schon ungewiss, praktisch unvorstellbar aber ist sie erst seit kurzem. Alles spricht dafür, dass es damit nicht vorbei ist. Es wird damit weitergehen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen wird. In 25 Jahren wird uns vieles überrascht haben und wir können uns heute noch nicht einmal vorstellen, was es sein wird. Was wir uns heute vorstellen, dass es kommen wird, wird nicht das sein, was kommen wird: Das lehren die letzten Jahrzehnte. Dass Neues kommt, wussten Menschen schon immer, dass das Neue aber mitunter weit außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt, das ist wirklich neu. Die zentrale spätmoderne Erkenntnis besteht darin, dass es anders kommen wird als geplant, weil es anders ist, als wir denken, und die Zukunft zwar die Folge unserer Projekte sein wird, aber diese Folgen ganz andere sein werden, als man erwartete.3
Zum Verstörendsten an solcherart Neuem zählt, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Am »Automobil«, dem teuersten Konsumprodukt unserer Gesellschaft, kann man das gut demonstrieren. Sein Name – das »Sich-selbst-Bewegende« – markiert bis heute eine Differenz zur Kutsche, die ohne Pferd schlicht nur herumstehen konnte. Die ersten »Autos« sahen denn auch tatsächlich noch aus wie Kutschen ohne Pferde. Heute aber ist am Automobil vieles interessant und spannend: dass es »sich selbst bewegt« eher nicht, das ist zur Selbstverständlichkeit geworden.
Die Entdeckung von wirklich Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen: Zuerst ist da die schiere Erfahrung, dass etwas da ist, was so noch nicht da war, und das deswegen irritiert und fasziniert. Es wird hier noch mittels der Differenz zum bisher Gewohnten benannt. Nach und nach setzt sich dann die Einsicht durch, dass es sich wirklich um etwas Neues handelt. Man merkt: Das Auto ist viel mehr als eine Kutsche ohne Pferde. Dann erst folgt aber, was am schwierigsten ist: die nie abgeschlossene Entdeckung des Neuen unter wirklich neuen, erst zu entwickelnden Kategorien. Um im Beispiel zu bleiben: Was bedeutet es sozial, technisch, ökonomisch, ökologisch, landschafts- und städteplanerisch, eine Gesellschaft umfassend per Auto zu mobilisieren?
Kolumbus zum Beispiel kam nicht wirklich über Phase eins hinaus. Er sah Land am Horizont und erkannte auch nach und nach, dass es nicht Indien war, wo er gelandet war, hielt es aber für etwas bereits anderweitig Bekanntes: für Asien.4 Er segelte übrigens gegen die sehr gut begründeten Widerstände der Geografen los, welche den Erdumfang recht korrekt berechnet hatten und ihm völlig zu Recht vorhersagten, dass er nicht herumkäme um die Erde mit seinen kleinen Schiffen. Dass zwischen Europa und Indien noch »Amerika« lag, wussten beide nicht und wurde erst Jahre später erkannt. Manchmal führen kreative Fehler zur Entdeckung ganzer Kontinente. Hätte Kolumbus entdeckt, wo er gelandet war, wäre das erst die wirkliche Entdeckung des Neuen als etwas Neuem gewesen, Phase drei wäre dann die Einsicht gewesen, dass die Entdeckung neuer Kontinente auch die alten nicht unverändert lässt, eine Erfahrung, die Europa seitdem bis heute macht.
Dass das Neue selbst erst in seiner Neuheit entdeckt werden muss, ist die Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit – zumindest unter irdischen Normalbedingungen – immer in eine Richtung verläuft. Wir können nicht, wie etwa Gott, aus der Zukunft in die Vergangenheit schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit entgehen.
Unter der Benutzeroberfläche unseres Alltags werden seit einiger Zeit permanent neue Programme installiert, ohne dass die Programmierer wissen können, wohin das führt. Das geschieht zumeist knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; wenn wir es merken, ist es schon passiert. Auch das trägt dazu bei, dass das Leben heute sich vom Leben unserer Großeltern fundamental unterscheidet.
Diese kulturellen Revolutionen kommen zuerst eher leise daher, das ist eines ihrer postmodernen Erfolgsgeheimnisse. Die Gegenwart – das ist, im Unterschied zur klassischen Moderne, die Zeit der Revolutionen, die schon mehr oder weniger durchgesetzt sind, wenn sie bemerkbar werden. So beginnen wir erst zu ahnen, was die Umwälzungen der späten Moderne bereits alles auf den Kopf gestellt haben und noch auf den Kopf stellen werden.
Die kulturellen Basics unserer Existenz verändern sich unter der Oberfläche einer gewissen Kontinuitätsfiktion seit einiger Zeit fundamental, im Wesentlichen wohl immer noch durch einen einzigen Prozess: Der Bereich des Kulturellen – und damit als veränder- und verfügbar Definierten – weitet sich dramatisch aus. Das geschieht durch zwei miteinander verschränkte Prozesse: durch die Überführung von bislang als »natürlich«, also unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren und durch die massive technologische Erweiterung dieses Bereichs.
Für die Überführung von bislang als natürlich, unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren steht exemplarisch der Wandel des Geschlechterverhältnisses. Bis vor kurzem sprach man inner- und außerkirchlich ganz selbstverständlich vom angeblich unwandelbaren, ewigen »Wesen der Frau«, das sie »natürlicherweise« zur dienenden Partnerin des Mannes mache. Das ist inzwischen als eine für lange Zeit sehr erfolgreiche Männerphantasie durchschaut.
Für die Erweiterung des Bereichs des kulturell Gestaltbaren durch dessen technologische Expansion stehen exemplarisch die neuen digitalen Medien und die Biotechnologie. Es gibt natürlich auch kulturelle Revolutionen, in denen sich technologische Expansion und kulturelle Dekonstruktion von bisher Unantastbarem überschneiden. In den konkreten kulturellen Revolutionen der Gegenwart verschränken sich zumeist die Erweiterung des Bereichs des Gestaltbaren und die schiere Reichweitenexpansion menschlichen Handelns.
Die Medienrevolution etwa vollzieht sich primär als technologische Revolution, ist aber natürlich weit mehr als das. Die »Neuchoreografie der Geschlechterrollen« vollzieht sich primär als Entlarvung von scheinbar »Natürlichem« und »Gottgewolltem« als etwas Veränderbares, aber auch sie ist mehr als das, ist eine wirkliche Neuchoreografie und bringt daher die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zum Tanzen.5 Es ist kein Zufall, dass praktisch alle religiös-fundamentalistischen Bewegungen die Autonomie weiblichen Handelns massiv einschränken wollen.6
Die ökonomische Globalisierung aber ist ganz offenkundig und unmittelbar die Folge der Kombination von beiden Elementen des kulturellen...
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