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2. Connecticut, September 2016
»Wer zur Hölle hat eigentlich Krabben-Wan-Tans erfunden?«, fragte ich. Sie kamen aus der Tiefkühltruhe und waren voller Pusteln. Ich löste Zucker, Fett und Käse mit der Zunge von den Backenzähnen. »Wer hätte gedacht, dass die mit Rahmkäse so köstlich sind? Das muss echt ein Scheißgenie gewesen sein.« Ich leckte mir die Finger und hielt mir ein fremdes Glas, das nicht geleert worden war, an den Hals. Im Anschluss an die Beerdigung hatten wir Dads besten Champagner geöffnet, zur Feier des Lebens oder so ein Mist. Ich wollte bloß, dass die Bestände ausgetrunken wurden. Ich wollte mir nicht noch jahrelang etwas einverleiben, was seins hätte sein sollen.
Dad war auf dem Weg zu seiner Enkelin einem Reh ausgewichen. Mein Vater hatte sich geopfert, damit so ein verdammtes Bambi seine Mutter nicht verlor. Ich hatte ihn fragen wollen, wie man ein Kind liebt. Es in den Arm nimmt. Was sein Geschrei bedeutet. Und das eigene.
»Aber saure Sahne, ganz im Ernst, seit wann gibt es in China saure Sahne?«
»Keine Ahnung, Jay. Google es«, erwiderte Mimi. Sie mochte es nicht, wenn ich trank. Doch es wäre eine Schande gewesen, all die süße Ethanol-Sonne einfach in den Ausguss zu kippen. Wir hatten den Empfang in seinem Haus abgehalten. Jetzt herrschte Chaos. Überall Pappteller und Becher. Sämtliche Stühle am Esstisch waren hervorgezogen. Zu seinen Lebzeiten hatte es so nie ausgesehen. Meistens waren wir zwei allein gewesen.
»Hab klebrige Hände«, entgegnete ich. Meine Tante hatte die Wan Tans mitgebracht. Mittlerweile waren alle fort, auch meine Tante. Sie war seine ältere Schwester, mit vom Alter verwitterten Wangen. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder bedauern sollte, dass ich Dad nie als hinfälligen alten Mann erleben würde. Bei dem Gedanken wurde der Champagner in meinem Magen schal.
»Außerdem ist Dad tot, vielleicht könntest du ein bisschen weniger zickig sein?« Als wir ihn beerdigt hatten, hatte an seinem rechten Daumen ein Pflaster geklebt. Ich wusste nicht einmal, woher diese kleine Wunde stammte. Ich schob meinen Daumen in den Mund, fühlte Zahn auf Nagel und Zahn auf Haut und versuchte, diesen kleinen Schmerz zu verstehen. »Mir hat er noch erzählt, dass er sich diesen blöden SUV gekauft hat, weil er ein Auto wollte, das ordentlich was aushält.« Das Auto war nicht einmal ein Jahr alt gewesen. Er hatte es an dem Tag gekauft, an dem ich ihm gesagt hatte, dass Mimi schwanger sei. »Ehrlich, ich kann es grade wirklich, wirklich nicht ertragen, wenn du rumzickst.«
Mimi fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Ihr Pony blähte sich wie ein Pompadourbeutel auf. »Du bekommst keinen Sonderurlaub, damit du das Arschloch spielen kannst«, sagte sie. Oben kreischte das Baby. »Aber es tut mir leid, dass dein Dad gestorben ist«, fügte sie hinzu. »Das ist Scheiße. Das weiß ich.« Das wusste sie wirklich. Mimis Eltern waren gestorben, als sie noch auf dem College gewesen war. Ihr Erbe war in die Anschubfinanzierung für die Galerie geflossen. Sie blieb stehen, die Beine schon in Richtung Treppe, das Gesicht noch mir zugewandt. Etwas flackerte unter ihren Augen. »Ich liebe dich.«
Ich griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie fort. »Tut mir leid, dass ich gesagt hab, du wärst zickig.«
Eliot schrie.
»Schon gut. Na ja, eigentlich nicht, doch ich bin viel zu müde, um darüber nachzudenken.« Mimi drehte sich um und ging zur Treppe. »Ich gehe nicht davon aus, dass du dich um deine Tochter kümmern wirst?«
»Wie sollte ich das tun?«, erwiderte ich. »Habe ich vielleicht Brüste?« Doch Mimi hatte das Zimmer schon verlassen.
Dad konnte gut mit Kindern umgehen. Er war mit mir gut umgegangen und hätte mir das Vokabular der Vaterschaft oder zumindest die wesentlichen Sätze beibringen können. Reiseführer wissen, dass man die Sprache seines Gastlands nicht versteht, doch sie helfen dem Reisenden, sich durchzuschlagen. Ich brauchte einen Lonely Planet für die Vaterschaft.
Jedes Gespräch wurde durch Geheul gestört. Wir schliefen nie. Gevögelt hatten wir auch seit dem vierten Monat schon nicht mehr. Ich hatte nie davon geträumt, meine Frau zu verlassen, bis dieses Wesen in unser Leben gekommen war. Als Kind hatte ich meinen Dad so oft gefragt: Bin ich schuld, dass Mommy fort ist? Er hatte immer erwidert, dass sie mit sich selbst unglücklich gewesen sei. Meine frühere Psychiaterin hatte gesagt, es sei grotesk, mein zweijähriges Selbst dafür verantwortlich zu machen. Ich hatte ihr geglaubt. Dann bekam ich selbst ein Baby.
War ich »mit mir selbst unglücklich«? Mein Dad war tot, meine Frau verachtete mich. Also, gut fühlte ich mich nicht. Aber würde ein Außenstehender von mir behaupten: »Dieser Typ da, der ist mit sich selbst nicht glücklich«?
Ich öffnete ein Fenster und steckte Kopf und Schultern in die Abendluft. Als Kind hatte ich den Geruch der Kiefern gar nicht wahrgenommen, er war mir so vertraut wie mein eigener Schweiß gewesen. Das obere Fenster stand offen. Mimi sang dem Baby etwas vor. Sie sang nicht gut, und ihr Repertoire bestand aus den Top 40 unserer Teenagerjahre, also ging es bei den meisten Songs ums Vögeln oder Töten. Angeblich macht Mozart-Musik das Gehirn eines Babys für Mathematik empfänglich. Folgerichtig dürfte aus Eliot dann mal der CEO eines Drogenkartells werden.
Ich wurde mehrmals sanft ans Knie gestupst. Ich zog den Oberkörper wieder ins Zimmer und kniete mich zu meiner Katze. Celeste war kahl. Als sie ihre Zunge um meine Finger wand, um die letzten Fettreste abzulecken, zeichnete sich jede einzelne Sehne an ihrem Hals ab. Sie schnurrte langsam ihren Atem aus. Zu Beginn des sechsten Schwangerschaftsmonats hatte Mimi die Katze aus unserem Apartment verbannt. Seither hatte sich mein Vater um Celeste gekümmert.
»Äh-äh, nicht, mein Kätzchen, keine Krabben. Die kotzt du doch nur aus.« Meiner Katze wurde von fast allem übel. Es war noch ein Rest Bio-Katzenfutter da, das ich im vorigen Monat mitgebracht hatte. Ich fand den Dosenöffner nicht, also nahm ich ein Brotmesser und meine Faust.
Der Teller meines Vaters stand noch im Geschirrkorb. Während meiner Kindheit hatten Dad und ich immer dieselben zwei Teller, Gläser, Messer und Gabeln benutzt. Wir hatten sie immer im Geschirrkorb trocknen lassen und niemals weggeräumt, weil die nächste Mahlzeit ohnehin bald angestanden hatte. Ich nahm den Teller in die Hand. Es war falsch, ihn aus diesem Kreislauf zu entfernen. Der Goldrand war abgerieben, doch der Teller selbst hatte nicht den kleinsten Sprung. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Dad jemals etwas hatte fallen lassen. Wie hatte ich diese kleine Superkraft übersehen können?
Ich kippte das Katzenfutter auf den Teller und stellte ihn auf den Boden. Celeste fraß rasch, die Augen zugekniffen. Ich streichelte ihr den unbehaarten Rücken. Sie war siebzehn Jahre alt, doch runzelig war sie schon als Katzenkind gewesen. Ich versuchte, sie so zu sehen, wie Mimi sie sah, wie die meisten Menschen sie sahen: als Kreuzung aus Echse und Säugling. Celeste hörte kurz zu fressen auf und schabte mit der Zunge über meine Knöchel. Ich nahm sie hoch. Sie roch nach Rost und Talkumpuder. Ihr Puls schlug einen steten, gleichmäßigen Takt. Ich fuhr mit dem Daumen über ihre Pfoten, doch sie waren unversehrt. Keine Splitter.
Als wir einander zugeteilt worden waren, war Celeste noch ein kleines Kätzchen gewesen, ein blaugrauer Hautsack. Meine Psychiaterin hatte uns zusammengeführt, zu Celestes wie zu meinem Wohl. Ihr früherer Besitzer hatte, gleich nachdem er sie erworben hatte, Selbstmord begangen. Die Psycho-Ärztin hatte gesagt, das klinge schlimmer, als es sei. Ich war damals im letzten Jahr der Highschool und eine Therapie-Katze das Allerletzte, was ich wollte. Ich hatte mich sogar geweigert, ihr einen Namen zu geben. Als sie in unserer Küche Staub gejagt hatte, hatte Dad seinen Kaffee abgestellt und gesagt: »Celeste. Wir sollten sie Celeste nennen.« Celestes große Ohren zuckten an einem viel zu kleinen Kopf. Mit ihrer gräulichen Haut wirkte sie wie ein Mini-Elefant. Früher hatte mir mein Vater oft die französischsprachigen Abenteuer von Babar vorgelesen, die meine Großmutter in Québec mir schickte. Mit den Augen von heute betrachtet, offenbaren die Geschichten über einen Elefanten, den man in französische Sitten eingewöhnt hatte, eine sonderbare kolonialistische Fantasie. Doch als Kind hatte ich Babar in seinem grünen Anzug geliebt. Für mich war der Anzug aus demselben Kord wie Dads Freizeithosen, die nach Sauerteig und Mulch gerochen hatten. Celeste aber, die Elefantenkönigin, hatte ich missachtet. Nach Frauen oder Müttern hatte es mich nicht verlangt.
Ich hörte nicht, dass Mimi wieder nach unten gekommen war. Plötzlich sagte sie: »Dieses Tier kommt nicht zu uns zurück.«
Sanft setzte ich Celeste auf den Boden, zu ihrem Abendessen. »Wo soll sie denn hin?«
»Ich hab es dir gesagt, ich will sie nicht im gleichen Haus wie unser Baby haben.«
Celeste kaute in das Schweigen. Jeder Bissen knirschte und wurde laut geschluckt. Mimi verschränkte die Arme. Sie hatte sich eins meiner alten Sweatshirts aus dem College angezogen. Die Ärmel hatten Löcher, dort hatte sie ihre Daumen hindurchgesteckt. So musste sie als Teenager ausgesehen haben: verschmierte Wimperntusche, wildes Haar, der Mund ein Ausdruck von Widerwillen.
Ich wich zurück. Mein Fuß traf auf etwas Schleimiges und Hartes. Es knackte, dann schabten Katzenkrallen über Eichendielen. Ich war auf den Teller getreten. In dem weißen Porzellan klaffte ein langer Riss, den der Fleischsaft dunkel färbte. Ich...
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