Schweitzer Fachinformationen
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Willow
Auf dem Ägäischen Meer, Griechenland
August 2016
Mein Freund Ajay meint, dass das Ägäische Meer nach Aegea, der Königin der Amazonen, benannt ist. Meine Tante Hope ist da anderer Meinung. Sie sagt, es hat seinen Namen nach einer berühmten Seeziege.
Ich weiß, welche Variante mir besser gefällt.
Bei Tauchgängen wie diesem hier stelle ich mir vor, ich wäre eine Kriegerin, eingehüllt in meine Taucherrüstung und bereit, den Kampf mit dem Meer aufzunehmen und seine Schätze zu Tage zu fördern. Auch jetzt fühle ich mich so, während unser Tauchboot über die Wellen tanzt, das Meer um uns ausgebreitet daliegt und die Insel Rhodos nur noch ein Schimmer Land hinter uns ist.
»Wir sind fast da«, sagt Ajay und lächelt mich an. Ohne ihn hätte ich mich nie auf diese Wrackbetauchung eingelassen. Dankbar lächle ich zurück.
Einer der anderen Taucher unseres Teams, ein Australier mit Namen Guy, der nur aus blonden Haaren und Muskeln zu bestehen scheint, geht frustriert auf und ab. »Wenn es nicht bald schneller geht, springe ich glatt vom Boot und schwimme hin.«
Der Rest der Crew lacht.
Ich habe noch nie mit Guy gearbeitet, aber ich kenne Taucher wie ihn: eine geballte Ladung Draufgängertum und Testosteron. Ich bin sicher, heute Abend erzählt er mir Geschichten, wie oft er beim Wracktauchen schon fast ums Leben gekommen wäre. In der Regel ein Zeichen, dass das Ego größer ist als das Können.
Ich werfe Ajay einen Wo-hast-du-den-denn-aufgetrieben?-Blick zu. Er antwortet lautlos: »Er ist gut.«
Abwarten.
»Hast du schon mal nach einem Kreuzfahrtschiff getaucht?«, fragt mich Guy.
»Nein«, antworte ich, stelle mich auf die Zehenspitzen und verdrehe mir fast den Hals, während ich nach dem Tauchplatz Ausschau halte.
»Willow hat mit mir nach dem russischen Tanker getaucht«, sagt Ajay.
Guy mustert mich von oben bis unten. »Echt? Ein ziemlich riskanter Bergungstauchgang. Aber gut bezahlt, stimmt's?«
»Nicht schlecht«, murmele ich.
Das ist damals eine prima Sache gewesen. Ich musste die Zeit zwischen zwei Aufträgen in Brighton überbrücken und lebte von dem, was ich bei meinem letzten Auftrag auf einer Bohrplattform in der Nordsee verdient hatte. Den gesunkenen Tanker hatte ich in den Nachrichten gesehen und mich gefragt, ob die Tauchfirma, für die Ajay arbeitete, angeheuert würde, um ihn zu bergen. Es sah nach einem riskanten Tauchmanöver aus, viel schweres Gerät, das zu bergen war, und reichlich Gelegenheit, dass dieses Gerät der Crew auf den Kopf stürzte. Ich hatte nicht gezögert, als Ajay anrief und fragte, ob ich Zeit hätte mitzuarbeiten. Es war nicht nur der Job, es war auch Ajay. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden, als er mein Tauchlehrer gewesen war. Er ist ein guter Kerl - und er hat sich auch nach ein paar Bier zu viel nicht ein einziges Mal an mich rangemacht.
»Das hier dürfte auch riskant werden«, sagt Guy mit leuchtenden Augen. »Warum liegt das Schiff eigentlich seit zwanzig Jahren da unten?«
»Die Kreuzfahrtgesellschaft, der es gehört hat, ist pleitegegangen und konnte sich keine Bergung leisten«, ruft uns einer der anderen Taucher zu. »Und die griechischen Behörden auch nicht.«
»Wie ich gehört habe, ist jetzt ein geheimnisvoller Wohltäter aufgetaucht, der die Sache bezahlt«, sagt Ajay.
Ich sehe ihn an. »Wirklich? Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Das hab ich selbst erst heute Morgen erfahren. Foivos hat es mir erzählt«, sagt er und zeigt zu dem alten Griechen, der unser Schiff befehligt.
»Wie viele Tote gab es?«, fragt Guy.
»Hundertelf Menschen sind damals umgekommen«, sage ich.
»Eine Monsterwelle, stimmt's?«, fragt Guy. »Ich bin im Atlantik nach einem Schiff getaucht, das auch von so einer Welle runtergezogen wurde. Das muss damals die Schlagzeile gewesen sein.«
»Das kann man wohl sagen.« Ich greife nach meiner Tarierweste und überprüfe alles.
»Der reiche Sack, dem das Schiff gehört hat, ist auch umgekommen, oder?«, fährt Guy fort. Ich sehe Ajay erneut an. Dieser Typ redet zu viel. »Mann, ich kann es kaum erwarten, da runterzukommen.«
Ajay wirft ihm einen strengen Blick zu. »Denk dran, dich nicht von deiner Begeisterung mitreißen zu lassen. Das ist sicherer.«
»Jepp, wenn du tot bist, ist es aus mit dem Tauchen«, sage ich.
»Du hast gar nicht erzählt, dass wir einen echten Witzbold dabeihaben«, sagt Guy zu Ajay. »War sie schon so schlimm, als du noch ihr Tauchlehrer warst?«
»Da war sie noch schlimmer«, meint Ajay und lächelt.
»Das hab ich gehört«, sage ich.
Ajay sieht mich zerknirscht an. »Tut mir leid, Willow.«
»Es wird dir erst richtig leidtun, wenn ich dir heute Abend beim Kickern das Fell über die Ohren ziehe.«
Alle lachen. Das habe ich in den letzten Jahren bei meiner Arbeit als Taucherin gelernt: Sag's ihnen, wenn sie zu weit gegangen sind, und dann wechsle in eine leichtere Tonart und Schwamm drüber. Es gibt nur wenige Profitaucher, jeder kennt jeden, und es ist schwierig, seinen Platz zu finden, vor allem als Frau. Ich habe es trotzdem geschafft, ich habe sogar ein paar gute Freunde gefunden, meine »Sippe«, wie ich sie nenne.
Guy fängt meinen Blick auf und wirft mir ein sexy Lächeln zu, seine blonden Haare hängen ihm in die Augen. Ich ignoriere ihn. Ajay findet, dass ich zu wählerisch bin, was Männer angeht, und alle mit meinem Vater vergleiche. Aber es ist auch nicht leicht: Jedes Mal, wenn ein Mann mich ansieht, muss ich daran denken, wie mein Vater meine Mutter angesehen hat, als sie jung waren.
Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die, wie wir alle in unserem großen Garten sitzen. Ich habe beobachtet, wie meine Eltern sich unter der Weide, nach der ich benannt bin, angeschaut haben. Dann hat mein Vater gemerkt, dass ich sie beobachte, hat mich in die Arme genommen und mir gesagt, wie sehr er mich liebt.
Ich habe diese Sommertage im Cottage geliebt. Diese Erinnerung an meine Eltern geistert noch heute in meinem Kopf herum.
Als die Boje, die den Standort des Schiffes markiert, in Sicht kommt, verstummen wir alle. Ich atme tief durch.
Endlich sind wir da.
Ich konzentriere mich auf die übliche Routine, um ruhiger zu werden, ziehe die Schultergurte an meiner Tarierweste herunter, sodass sie fest sitzt. Dann hilft Ajay mir, meine Druckluftflasche anzuziehen. Ich checke den Tauchcomputer am Handgelenk und drücke auf die kleinen Knöpfe um das große Ziffernblatt, um alle Messwerte einzustellen. Dann lege ich meinen Tauchgurt an und greife nach meinen Flossen, bevor ich zum Bootsrand gehe und auf die ruhige See hinunterschaue. Das Schiff liegt zu meinen Füßen, genau hier. Ich drücke auf den Knopf, um meine Tarierweste aufzupumpen, und spüre, wie sie sich um meine Brust herum ausdehnt. Gewöhnlich erzittere ich bei diesem Gefühl vor Aufregung: Zeit, hineinzuspringen und mit dem Meer zu ringen. Doch plötzlich empfinde ich Beklommenheit bis hin zum Widerwillen.
Ajay drückt meine Schulter und sieht mir in die Augen. »Alles klar?«
»Sie kommt allein zurecht«, sagt Guy. »Du hast selbst gesagt, dass sie schon nach übleren Wracks getaucht ist.«
»Das hier ist was anderes«, sagt Ajay.
Guy nickt. »Tja, ich schätze, dass seit der Rettungsaktion niemand mehr hier getaucht ist, macht die Sache riskanter.«
»Das ist es nicht«, sage ich und sehe ihn an. »Der reiche Sack, dem das Schiff gehört hat, war mein Vater.«
Er sieht mich geschockt an. »Ist nicht wahr!«
Der Rest der Mannschaft schweigt, während sie mich beobachten. Ich wünsche mir das hier schon so lange. Seit ich mit achtzehn meine ersten Taucherscheine hatte, habe ich mich mit den griechischen Behörden herumgestritten, dass sie mich nach dem Schiff tauchen lassen.
Und jetzt bin ich hier.
Ich drehe mich wieder zum Meer um. Es ist ruhig und blaugrün, es lockt mich hineinzuspringen. Doch ich weiß, wie trügerisch es sein kann, wie es sich von einem Moment zum anderen in eine tödliche Falle verwandeln kann, genau wie damals bei meinen Eltern.
»Bist du bereit?«, fragt Ajay neben mir, während sich die restliche Mannschaft aufstellt.
Ich atme tief durch, beschwöre den Geist der Amazonenkönigin herauf und nehme den Schnorchel in den Mund.
Jetzt!
Ich springe, bevor ich es mir anders überlegen kann, und das warme salzige Wasser spritzt mir ins Gesicht. Meine Tarierweste lässt mich kurz auf und ab hüpfen, dann reduziere ich langsam die Luft, und die Gewichte um meine Taille ziehen mich nach unten.
Das Geräusch des Bootsmotors, das Kreischen der Vögel am Himmel, die sich kräuselnde See, all das verschwindet, während ich hinabtauche. Um mich herum herrscht tiefe Stille, diese ganz besondere Lautlosigkeit, die es nur unter Wasser gibt.
Die Farbe des Wassers ändert sich von Aquamarin zu Grün und dann zu einem trüben Schwarz, je tiefer ich komme. Die Wärme nimmt ab, und alles scheint sich zu verlangsamen.
Haben Mum und Dad sich so gefühlt, als das Meer sie verschlungen hat? Ich versuche, sie mir vorzustellen. Als ich meine Mum zum letzten Mal gesehen habe, war ich so müde, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Warum war ich damals bloß so müde? Wenn ich nur noch ein paar Minuten länger wach geblieben wäre, hätte ich mehr als nur diese paar Erinnerungsfragmente: das Rot von Mums Lippenstift, ihr schiefer Zahn. Wenn ich wacher...
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