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Er trug Jogginghosen und einen blauen Anorak, an dem man zu DDR-Zeiten die Stasi-Spitzel erkannte, und er saß nicht, nein, er hockte auf den Fußballen, wie es afrikanische Marktfrauen tun, den Hintern knapp über dem Boden und die Arme um die Knie gelegt, im Eingangsbereich des Hotels, mit Blick aufs Innenministerium, dessen blau uniformierte Wächter gleichmütig an ihm vorbeischauten, als wäre er Luft. Hätten die Beamten gewusst, dass sie einen Asylbewerber mit zeitlich begrenzter Aufenthaltserlaubnis vor sich hatten, mehr geduldet als akzeptiert und wie alle Tschetschenen pauschal unter Terrorismusverdacht, hätten sie ihm Handschellen angelegt, um ihn in Abschiebehaft zu nehmen und nach Ablauf der gesetzlichen Frist, in der Einsprüche geltend gemacht und wieder abgeschmettert werden können, in eine Lufthansa-Maschine zu setzen - aber wohin? Moskau schied aus, weil die Russische Föderation sich im unerklärten Krieg mit Tschetschenien befand, Baku und Ankara nahmen keine der Zusammenarbeit mit al-Qaida verdächtigen Personen auf, und selbst Warschau und Prag, wo Tschetschenen aus historischen Gründen willkommen waren, hatten die Pforten dicht gemacht. Das Boot war voll, und ein EU-Land schob dem anderen den Schwarzen Peter zu: Hier stimmte das schiefe Bild, denn die Bewohner des Kaukasus wurden und werden in Russland Schwarzärsche genannt, so als handele es sich um eine Horde Affenmenschen und nicht um die Wiege der indoeuropäischen Kultur.
»Waren Sie lange in Tschetschenien?«, heißt es in Lermontows Novelle Ein Held unserer Zeit: »Kennen Sie die Gegend?« - »Ich habe davon gehört.« - »Wir haben sie gründlich sattgekriegt, diese Kopfabschneider! Jetzt ist es gottlob ruhiger geworden; aber damals brauchte man nur hundert Schritt über den Wall hinauszugehen; gabst du nicht scharf acht, so konntest du sicher sein, sofort ein Fangseil um den Hals oder eine Kugel in den Nacken zu kriegen. Mordskerle!« Und selbst Puschkin, der aufgrund seiner äthiopischen Herkunft - sein Großvater war Mohr am Hof Peters des Großen - dem großrussischen Chauvinismus kritisch gegenüberstand, schreibt in der Reise nach Erzurum: »Dolch und Säbel sind Teile ihres Körpers, Mord ist bei ihnen nur eine Körperbewegung. Gefangene halten sie fest in der Hoffnung auf Loskauf und behandeln sie mit entsetzlicher Unmenschlichkeit. Unlängst hat man einen friedlichen Tscherkessen gefangen, der auf einen Soldaten geschossen hatte. Er rechtfertigte sich damit, sein Gewehr sei zu lange geladen gewesen. Was macht man mit so einem Volk?«
Scharpudin wiegte sich auf den Fersen, misstrauisch beäugt vom grau befrackten Portier des Hotels, und bei meiner Annäherung erhob er sich und ging mit federnden Schritten auf mich zu. Wir umarmten uns, und er küsste mich zuerst auf die rechte, dann auf die linke Wange - sein Gesicht war stoppelbärtig, meins glatt rasiert: Ein Begrüßungszeremoniell, das an einen Judaskuss erinnerte oder an die Verbrüderung zweier Mafiabosse, die sich gegenseitig den Tod wünschen. Im Kaukasus geht es zu wie in Sizilien: Die Gastfreundschaft ist heilig, und der Hausherr steht mit seinem Leben für den Kanuk genannten Gastfreund ein. Doch sobald der das Haus verlässt, ist er vogelfrei.
Wir blieben stehen vor der Bronzebüste des Dichters Haushofer, der nicht weit von hier zusammen mit anderen Häftlingen des Zellengefängnisses Moabit kurz vor Kriegsende von SS-Männern erschossen worden war. Als Rotarmisten Wochen später die notdürftig verscharrte Leiche auf einem Trümmergrundstück an der Lehrter Straße ausgruben, trug Haushofer unter seinem von Kugeln durchlöcherten Hemd ein blutgetränktes Manuskript, zwei eng beschriebene DIN-A4-Seiten, die, vom sowjetischen Militärverlag auf holzfreiem Papier gedruckt, unter dem Titel Moabiter Sonette zum Kultbuch des Jahres 1945 wurden. »Der Wahn allein war Herr in diesem Land / In Leichenfeldern schließt sein stolzer Lauf / Und Elend, unermesslich, steigt herauf .«
Ich sprach nur gebrochen russisch, Scharpudin nur wenige Worte deutsch, und während ich, um Worte ringend, die in den Sockel der Büste eingravierten Verse zu übersetzen versuchte, legte Scharpudin den Arm um mich, und wir schritten, eng umschlungen wie ein Liebespaar, die Marmorstufen hinauf zum Hotel, dessen Portier durch Knopfdruck die Glastür öffnete, die sich lautlos hinter uns schloss.
Es war nicht meine erste Begegnung mit Scharpudin, und es sollte nicht die letzte sein. Ich weiß nicht mehr, wann und wo ich ihn zum ersten Mal traf: Vermutlich im Herbst 1996 in seinem Heimatdorf Nowyje Atagi, wo ich zu einer tschetschenischen Hochzeit eingeladen war. »Möchten Sie an einer Bauernhochzeit teilnehmen«, hatte Dschamila gesagt, die Übersetzerin aus Kasan, die auf Russisch Nadjeschda hieß und wie viele Tatarinnen schwarzhaarig und blauäugig war. Sie erinnerte mich an den Dichter Bulat Okudschawa, über dessen Schreibtisch statt eines Leninbilds ein Foto von Kennedy hing, als er mich in seiner Moskauer Wohnung empfing und erzählte, nach Erscheinen seines Romans über die Narodniki habe die Literaturnaja Gazeta sich darüber erregt, wie er als Nichtrusse sich erfrechen könne, über russische Geschichte zu schreiben - Rassismus und Chauvinismus bildeten schon damals ein Amalgam.
»Sie sind zu einer Hochzeit eingeladen«, hatte Dschamila gesagt, aber ich hatte keine Ahnung, wer oder was sich hinter der Einladung verbarg.
Am Vortag hatte ich Schamil Bassajew interviewt, Tschetscheniens Top-Terroristen, auf dessen Ergreifung, tot oder lebendig, die Regierung in Moskau ein Kopfgeld von hunderttausend Dollar ausgesetzt hatte, später auf eine Million erhöht. Bassajew empfing mich an einem geheim gehaltenen Ort, im Beisein seines Sekretärs, eines jungen Polen, der Englisch sprach und seine Antworten übersetzte: »Sagen Sie Kanzler Kohl, er soll deutsche G 3-Gewehre nach Tschetschenien schicken, denn die sind besser als Kalaschnikows.« Beim Kampf um Grosny hatte ein Schrapnell seinen Fußknöchel zerschlagen, und Bassajew ging am Stock. Er habe keine Angst vor dem Tod, setzte er ungefragt hinzu: Die russische Armee habe seine Familie ausgelöscht, und sein Ziel sei es, so viele Russen wie möglich zu töten, bevor er ins Dschanet genannte Paradies eingeht.
Damals wusste ich noch nicht, dass sein Vorname Schamil eine Hommage an einen tschetschenischen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts war, dessen Schicksal Tolstoi in dem Roman Hadschi Murat dargestellt hat. Auf der Reise durch den Kaukasus war Alexandre Dumas ihm persönlich begegnet und hatte Schamil mit Sätzen charakterisiert, die ebenso gut auf seinen Namensvetter passten: »Dem Aussehen nach würde man ihn auf ungefähr vierzig schätzen. Er ist groß und hat ein sanftes, Ehrfurcht gebietendes Gesicht. Die Augen sind schwarz, und er pflegt sie nach Art der Orientalen halb geschlossen zu halten. Sein langer Bart ist wohlgepflegt, sein Gang langsam und gewichtig. Schamil hält streng auf reine Sitten. Auf den ersten Blick erkennt man in ihm den zum Befehlen geborenen Anführer.«
Was in Dumas' Schilderung nicht vorkam, war Schamils eisiger Blick, bei dem es mir kalt über den Rücken lief: Während der Geiselnahme von Budjonnowsk hatte er alle mit Schusswunden ins Krankenhaus eingelieferten Russen, unter ihnen Frauen und Kinder, gnadenlos liquidiert, und im Ernstfall würde er keinen Moment zögern, auch mich zu töten.
»Waren Sie schon einmal auf einer tschetschenischen Hochzeit?«
Ich hatte keine Ahnung, was mich in Nowyje Atagi erwartete, aber ich stellte es mir ähnlich vor wie in Bosnien oder Albanien, denn der Kaukasus war ein nach Osten verschobener Balkan: Schwerttänze, in die Luft gefeuerte Schüsse und Ströme von Billigsekt. Alles stimmte, einschließlich des trotz Scharia ausgeschenkten Alkohols, aber bevor es so weit war, musste ich der Familie der Braut meine Aufwartung machen - oder war es die Familie des Bräutigams?
Ich wurde ins Wohnzimmer geführt, eine Art Salon, dessen Möblierung aus einem weinroten Sofa bestand, auf dem ich als Ehrengast Platz nehmen durfte oder musste. An der Wand hing ein folkloristischer Teppich mit langen Troddeln, daneben ein arabisch beschrifteter Kalender, auf dem die Kaaba in Mekka zu sehen war, ein schwarzer Meteorit, umringt von weißgekleideten Menschen, bei denen es sich um Pilger zu handeln schien. Nachdem ich meine Schuhe an der Türschwelle abgelegt hatte, begrüßte mich Ruslan, der älteste Sohn des kürzlich verstorbenen Hausherrn, und stellte mir seine Schwägerin vor, eine Frau mit geblümtem Kopftuch, die, wie mir die Übersetzerin zuflüsterte, bei einem Artillerieangriff hundertelf Schrapnells abbekommen hatte. Die durch ihren Körper wandernden Granatsplitter verursachten höllische Schmerzen, aber davon ließ die Schwägerin sich nichts anmerken, während sie Ruslan und mir Tee einschenkte und sich mit einer stummen Verbeugung ins Nebenzimmer zurückzog. Das Wort Frauengemach fiel mir ein, aber ich war mir nicht sicher, ob es Frauengemächer gibt in einem tschetschenischen Aul - so heißen die Gebirgsdörfer im Kaukasus, bestehend aus einem oder mehreren Gehöften, in denen die Sippe oder Großfamilie wohnt - der Begriff Wehrdorf kommt der Sache am nächsten.
Nach der einseitig erklärten Unabhängigkeit hatte die Regierung des vom Kreml nicht anerkannten Präsidenten Maschadow - oder war es der bei einem Raketenangriff getötete Dudajew? - das islamische Gesetz, die Scharia, eingeführt, aber nach Protesten der internationalen Presse halbherzig wieder zurückgenommen. Ein Jahr zuvor, bei meinem ersten Besuch in...
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