Schweitzer Fachinformationen
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Insektenflügel, wertlose Geldscheine, Visitenkarten, Zeitungsausschnitte, Zettel mit Notizen, Quittungen von der Apotheke, Beipackzettel für Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Schmerzmittel, Grippemittel, Artischockenpräparat, alles Mögliche. Und Asche, ein Buch meines Vaters ausschütteln ist wie in einen Aschenbecher pusten. Dieses Mal las ich gerade Der goldene Zweig in einer englischen Ausgabe von 1922, und als ich die Seite 35 umblätterte, stieß ich auf einen Brief, adressiert an Sergio de Hollander, Rua Maria Angélica, 39, Rio de Janeiro, Südamerika, mit dem Absender Anne Ernst, Fasanenstraße 22, Berlin. In dem Umschlag ein mit der Maschine beschriebenes liniiertes Blatt Papier, vergilbt und brüchig:
Berlin, 21. Dezember 1931
Lieber Sergio,
Deinem Schweigen entnehme ich .........................
.........................................
.........................
Viele Grüße,
Anne
Auf Deutsch geschrieben, mit unzähligen Großbuchstaben, ich verstehe davon nur die Anrede und die nach rechts geneigte Unterschrift Anne. Ich weiß, dass mein Vater, damals noch nicht verheiratet, 1929 und 1930 in Berlin gelebt hat, und kann mir unschwer vorstellen, dass er dort mit einem Fräulein ein Verhältnis gehabt hat. Genau genommen, glaube ich, dass ich von einer ernsteren Geschichte gehört habe, ich glaube sogar, irgendwann habe ich etwas von einem Sohn in Deutschland gehört. Es war kein Streit zwischen Vater und Mutter, wie ein Kind ihn nicht vergisst, eher ein Flüstern hinter der Wand, ein kurzer Wortwechsel, den ich kaum hätte hören können oder kaum verstanden habe. Und den ich vergessen habe, so wie ich diesen Brief in dem Buch vergessen werde, wenn ich es in die hintere Reihe des doppelreihigen Regals im Flur zurückstelle. Ich muss es genau an seinen Platz zurückstellen, denn wenn mein Vater schon nicht gestattet, dass ich an seine Bücher gehe, was würde er erst von diesem sagen. Doch vor dem Regal hockt meine Mutter und sucht auf Anweisung meines Vaters nach einem Titel. Sie wird nicht lange brauchen, denn sie selbst organisiert die Bibliothek nach einem nicht zu entschlüsselnden System, wohl wissend, dass er, sollte sie sterben, verloren sein wird. Und kaum betritt sie, vier dicke Bände unter das Kinn geklemmt, mit ihren Trippelschritten das Arbeitszimmer, will ich rasch mein Buch zurückstellen. Ich weiß, dass es sich auf dem Brett oberhalb meiner Augen befand, hinter den portugiesischen Dichtern, eine Handbreit rechts von der Menschlichen Komödie, aber es wird nicht so einfach sein, seinen Platz wiederzufinden. Inzwischen haben die Bücher hinten im Regal es sich bequem gemacht, sie sind eng zusammengerückt, als würden sie dicker, wenn sie sich berühren. Auf Zehenspitzen ziehe ich einen Bocage aus der vorderen Reihe, dann taste ich die Buchrücken der beiden Engländer ab, die rechts und links von meinem Buch standen. Es hat etwas Erotisches, mit Ring- und Zeigefinger zwei Bücher auseinanderzuschieben, um den Goldenen Zweig in die Lücke zu zwängen.
Als ich zu Thelonius komme, erwartet er mich schon an der Haustür mit einer Taschenlampe und einem Draht mit umgebogenem Ende. Wir schlendern durch die baumgesäumten Straßen des Viertels, bis wir am frühen Abend einen Skoda finden, der sehr günstig an einer spärlich beleuchteten, abschüssigen Ecke geparkt ist. Ich presse die Handflächen wie Saugnäpfe auf das Seitenfenster, drücke nach unten, und die Scheibe gibt ungefähr zehn Zentimeter nach. Weit genug, damit Thelonius den Draht hineinstecken, um den Türknopf legen und den Knopf hochziehen kann, darin ist er ein Meister. Ich bitte, mich ans Steuer zu lassen, ich löse die Handbremse, lasse den Skoda den Hang hinunterrollen, und noch bevor ich ihn am Kantstein anhalte, liegt Thelonius schon fast zu meinen Füßen, die eingeschaltete Taschenlampe zwischen den Zähnen und den Kopf hinter dem Armaturenbrett. Er entfernt ein paar Teile, welche, kann ich nicht richtig sehen, verbindet Drähte miteinander, es knistert, Funken sprühen, und dann springt der Motor an. Ich fahre an, lege den zweiten Gang ein, jage den Motor hoch, ziehe eine enge Kurve, rase mit quietschenden Reifen am Friedhof entlang, und als es hinunter ins Zentrum geht, lobt Thelonius meine Fahrkünste mit einem Grunzer und hochgerecktem Daumen, ist aber mehr damit beschäftigt, mit der Taschenlampe im Mund das Handschuhfach zu durchwühlen. In ein fremdes Auto steigen, seinen Geruch riechen, nach und nach seine Tücken kennenlernen, den Hintern auf dem Sitz zurechtrücken, über das Steuer streichen, das Spiel der Lenkung ausprobieren, das gefällt mir, das Beste aber ist das Kramen im Handschuhfach, zwischen anderen Dingen einen Ausweis mit dem Namen, dem Geburtsdatum und dem Foto des Besitzers oder der Besitzerin finden. Mir ist ein Mann lieber, das Auto eines anderen Mannes zu benutzen macht mir mehr Spaß, ich sehe mir gern das dümmliche Gesicht an, das sie im Allgemeinen auf dem Ausweisfoto machen. Und ich würde viel dafür geben, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie merken, dass ihr Auto weg ist, ihr Gesicht, mit dem sie Fotos in der Verbrecherkartei der Polizei ansehen. Bei einer Frau dagegen habe ich etwas Mitleid, vielleicht, weil ich mir vorstelle, wie sie durch die Stadt irrt und nicht weiß, wo sie geparkt hat, wie von Sinnen auf der Suche nach einem Sohn, der auf der Straße schläft. Und in der Rua Aurora lässt Thelonius mich neben zwei alten Huren anhalten und fragt, ob sie nicht einsteigen wollen, unverbindlich, nur um Auto zu fahren. Er lässt von den Nutten ab, steigt aus, schickt mich auf den Beifahrersitz und übernimmt das Kommando. Er fährt kreuz und quer durch Kopfsteinpflasterstraßen, um einen Funkstreifenwagen abzuschütteln, der, wie er schwört, hinter uns her war. Dann, in einer Avenida in der Zona Leste, die ich nicht kenne, bringt er mir bei, auf das Motorgeräusch zu achten, auf das Drehmoment zu horchen, den Bruchteil der Sekunde zu erwischen, wo man den Gang wechseln kann, ohne die Kupplung zu treten. Es geht um Offbeat und Downbeat, sagt er, wie beim Jazz. Er wechselt den Gang mehrmals auf diese Weise, aber was ich höre, ist fast immer ein gereiztes Quietschen von sich reibendem Metall. Wir überqueren Bahnschienen, und nach einem Ruck stellt Thelonius fest, dass der Wagen ein für alle Mal im dritten Gang hängengeblieben ist. Er fährt weiter über rote Ampeln, überholt Schlafmützen, bemüht sich, das Tempo zu halten, bis er hinter einer Straßenbahn bremsen muss, wodurch der Motor erst stottert und dann absäuft. Wir lassen den Skoda an Ort und Stelle auf den Schienen stehen, was Thelonius nicht weiter kümmert, der Tankzeiger stand sowieso schon auf Reserve. Für die Bahn haben wir kein Geld, für den Weg zurück zu Fuß brauchen wir Stunden, weil sich unterwegs kein einziges anständiges Auto anbietet. Wir kommen durch düstere Viertel mit Fabriken, Lagerhallen, Massenwohnblocks, Autowerkstätten und geschlossenen Läden. Wir laufen durch gewundene Straßen, sie führen zu einem Viadukt, das im Zentrum mit seinen leeren Straßen und unbeleuchteten Wolkenkratzern endet. Dann gelangen wir in ein vornehmes Viertel mit alteingesessenen Familien und englischen Autos in den Garagen neben den Häusern, die mir schon immer für ihre Grundstücke zu groß vorgekommen sind. Und die von innen noch größer wirken müssen als von außen. Und die, weil sie so schmucklose Fassaden haben, auf der Kehrseite prächtiger, auf der Kehrseite, wo die Leute wohnen, aufregender sein müssen. In so ein Haus durch das Fenster einzusteigen dürfte für uns so aufregend sein, wie es für meinen Vater ist, wenn er ein altes Buch zum ersten Mal aufschlägt.
Es ist nach Mitternacht, als Thelonius und ich uns an der Ecke zwischen unseren Häusern trennen, und von der Straße aus sehe ich im Arbeitszimmer meines Vaters...
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