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Eine Erzählung beginnt nie einfach irgendwo von selbst, man muss entscheiden, wo man anfangen will. Diese hier, die von der glücklichsten Familie der Welt, beginnt in Pyritz. Pyritz war eine Stadt, die - wie so vieles anderes - direkt an einer Grenze lag, weshalb sie schon häufig ihre Nationalität, ihre Zugehörigkeit und ihren Namen gewechselt hatte. Es war eine kleine Stadt mit einem noch kleineren jüdischen Bevölkerungsanteil, einem kleinen jüdischen Friedhof, der direkt an den städtischen grenzte, und einer bescheidenen Synagoge in der Wollenbergstraße. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aber blühte die jüdische Bevölkerung auf, ein Rabbi war kürzlich von Stettin nach Pyritz gezogen. Es waren Juden, die das Geschäftsleben in der Stadt florieren ließen, insbesondere Isak Wolff, Eigentümer des Kaufhauses Wolff.
Wenn Isak Wolff mit der Verwandtschaft in Hamburg und Köln sprach, klang es, als handele es sich um ein Kaufhaus wie das KaDeWe in Berlin, Harrods in London oder das NK Stockholm. Isak Wolff, ein kleiner, aber stolzer Mann, war der Überzeugung, er und das Kaufhaus Wolff würden eine bedeutende Rolle in der noch ungeschriebenen Geschichte von Pyritz spielen - und da er ein tüchtiger Kaufmann und ein noch besserer Redner war, teilte auch der Rest der Stadt diese Überzeugung.
Daher hatte die junge Mina Hahn wenig vorzubringen, als ihr Vater Salomon - Witwer und Lehrer in einem Cheder - ihr mitteilte, dass sie Isak Wolffs ältesten Sohn Julius heiraten würde. Mina Hahn war die drittälteste von vier Schwestern und eine klassische Schönheit mit weichem Haar und ebenso weichen Kurven. Ihre Hüften mochten etwas breit sein, aufs Ganze betrachtet aber war das ein Umstand, den ein geschickter Redner als Vorzug zu verkaufen wusste. Rhetorisch stand Salomon Hahn Isak Wolff in nichts nach - nach jahrelanger Lehrtätigkeit fiel es ihm schwer, überhaupt irgendetwas darzulegen, ohne eine Vorlesung oder eine Predigt daraus zu machen, und auf diese Art präsentierte er auch seine Tochter.
Zwei seiner Töchter hatte er bereits erfolgreich verheiratet - kein ganz einfaches Unterfangen, wenn man die Einwohnerzahl von Pyritz im Allgemeinen und die Größe der jüdischen Bevölkerung im Besonderen betrachtete -, blieben also noch zwei. Doch auch wenn er eine gute Partie für Mina gefunden zu haben schien, sorgte er sich um seine jüngste Tochter, die obendrein am wenigsten mit Schönheit gesegnet war. Nicht dass sie es nicht verdient hatte, aber nach zwei - mit Gottes Willen in Kürze drei - glücklich arrangierten Ehen gingen Salomon allmählich die Ideen aus, zudem war er des Predigens müde und sehnte sich nach dem Ruhestand.
Es war ein ungewöhnlich warmer Apriltag, als der stolze Isak Wolff und sein schweigsamer Sohn Julius den Witwer Salomon Hahn und seine Töchter besuchten. Salomon war an diesem Freitag früher von der Schule nach Hause gegangen, und seine Töchter hatten gebacken, was das Zeug hielt. Sie saßen im kleinen Salon des Hauses, sie unterhielten sich - vor allem Salomon und Isak, die um die Wette predigten. Julius und Mina saßen auf ihrer jeweiligen Seite des Tisches und begnügten sich damit, Blicke zu wechseln. Mina war still und schön - nicht direkt schüchtern, sondern ruhig auf eine Art, die signalisiert, dass jedem gesprochenen Wort eine Reihe Gedanken vorausgehen und ebenso viele folgen. Julius war genauso. Sie glichen sich wie ihre Väter einander, nur auf umgekehrte Weise.
Eine Kanne Tee wurde geleert, und Salomon rief nervös nach seiner jüngsten Tochter, sie möge Nachschub bringen. Rebecka Hahn kam aus der Küche, und was für eine Erscheinung: siebzehn Jahre alt, klein und zierlich, große dunkle Augen, schmales bleiches Gesicht, kohlschwarzes Haar, wie eine kleine Krähe. Sie schenkte ihrer stillen Schwester und deren nicht minder stillem zukünftigen Gemahl Tee ein, und sie lachte und schwatzte ungeniert mit dem Mann, den ihr Vater für eine andere vorgesehen hatte.
Es ist ungewiss, wie viel Julius Wolff seinem Vater gegenüber üblicherweise zu sagen hatte, so viel aber steht fest: Was er zu sagen hatte, das sagte er. Kaum hatten sie das Haus verlassen, teilte der junge Julius seinem Vater in aller Deutlichkeit mit, dass er zwar zu heiraten gedenke, allerdings nicht Mina, sondern ihre Schwester Rebecka.
Niemand in seiner Familie verstand ihn. Verzweifelt versuchten sie, ihn umzustimmen: Dieses Vögelchen, dieses Gerippe, wie konnte er das der schönen Mina vorziehen, ganz ehrlich - was stimmte nicht mit ihm? Für seine jüngeren Brüder war das keine rein rhetorische Frage, sie grübelten intensiv darüber nach. Was stimmte nicht mit ihm? Ihr Unverständnis war so stark und total, dass sie die merkwürdige Entscheidung ihres großen Bruders noch viele Jahre diskutierten.
Julius' Mutter derweil weinte, gab zu bedenken - und rang die Hände, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen -, dass die schmale Rebecka vermutlich niemals Kinder würde gebären können, und mag sein, lieber Julius, dass Mina etwas arg breite Hüften hat, aber es wird der Tag kommen, mein lieber guter Julius, an dem du dankbar sein wirst für diese Hüften.
Dem widersprach Julius nicht, doch an seinem Entschluss hielt er unbeirrt fest. Er und Rebecka heirateten 1887, als er dreiundzwanzig und sie neunzehn war.
Julius sollte den Rest seines Lebens auf seinem Standpunkt beharren. Von dem Tag, an dem er Rebecka zum ersten Mal sah, bis zu dem Tag, an dem sie nach einem langen und glücklichen Leben starb, als kleine dürre Greisin mit schrumpeliger Haut, kreideweißen, spinnennetzartigen Härchen unter einem weißen gestärkten Häubchen und knorrigen, eiskalten Händen, war sie die Einzige für ihn, die schönste Frau, die je ihren Fuß nach Pyritz, wenn nicht ganz Pommern gesetzt hatte.
Im Übrigen gaben Rebeckas Hüften keinen Grund zur Beanstandung. Sie brachte zwei äußerst muntere und wohlgenährte Kinder zur Welt. Die Schwierigkeiten stellten sich erst bei der Geburt ihres dritten Kindes ein, und da gab niemand unmittelbar den Hüften die Schuld.
Es war zur Pessachzeit, und traditionsgemäß luden Julius und seine Rebecka den engsten Kreis der Familie zu einem kleinen Sederabend ein. »Der engste Kreis der Familie« bestand aus gut vierzig Personen aus umliegenden Städtchen und Ortschaften, und anschließend ereiferten sich sämtliche Juden von Pyritz, die Pessachvorbereitungen der Familie Wolff hätten der armen kleinen Rebecka den Rest gegeben.
Als das Kind, ein Junge, einige Wochen später zur Welt kam, wog es keine zwei Kilo. Es wurde in Baumwolle gewickelt und bekam täglich einen Schnuller, der abwechselnd in Cognac und Zucker getunkt wurde. Niemand glaubte daran, dass er überleben würde, doch das tat er, dieser besondere Junge, dem Rebecka den Namen Max gab.
Er war ein Geschenk, ein Wunder, und ließ bereits als Säugling einige bemerkenswerte Qualitäten erkennen, deren bemerkenswerteste darin bestand, dass er quengelte und weinte, wann immer man an der Mesusa, der Schriftkapsel am Türpfosten, vorbeikam, bis ihn jemand hochhob, damit er sie küssen konnte.
Rebecka war überglücklich, überzeugt, dass sie einen zukünftigen Schriftgelehrten geboren hatte, dass er eines Tages Rabbi von Pyritz werden und auch ihm eine bedeutende Rolle zukommen würde, wenn einst die Geschichte der blühenden jüdischen Gemeinde von Pyritz geschrieben wurde. Doch Max' religiöse Phase erwies sich als von äußerst kurzer Dauer; sie kam und ging, noch bevor er seine ersten Lebensjahre hinter sich hatte. Trotzdem sollte ihn die Erwartung, dass er zu etwas ganz Besonderem bestimmt sei, ein Leben lang begleiten. Vielleicht ist das immer so, vielleicht gibt es in jeder Familie ein Kind, das die Verantwortung und ein anderes, das die Erwartungen schultern muss.
Nicht nur das sollte ihn verfolgen, sondern auch der Umstand, dass alle ihn bemuttern wollten. Soll heißen, alle vierzig aus dem engsten Kreis der Familie, alle anderen Juden in Pyritz und im Übrigen auch alle Nichtjuden, und das waren noch einmal bedeutend mehr. Immerzu erkundigten sie sich nach Max Wolff. Isst er denn auch ordentlich, sieht er nicht ein bisschen blass aus?
Bis ins Erwachsenenalter sollte ihm das Bild eines kleinen, kranken und speziellen Kindes anhaften, er wurde verhätschelt und schämte sich immer mehr, als seine selbständigeren und wohlgenährteren älteren Geschwister Pyritz verließen und nach Hamburg, Straßburg und Berlin gingen.
Max blieb vorerst, was so weit auch im Einklang mit den Erwartungen stand. Und das war ein Glück für die Kundinnen des Warenhauses - na schön, nennen wir die Dinge bei ihrem Namen - des Dorfladens Kaufhaus Wolff, denn die brauchten jemanden, den sie tätscheln und in die Wange kneifen und füttern und betüddeln konnten.
Es war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und niemand sah einen Grund, weshalb Max Pyritz verlassen sollte, jetzt, da die Stadt gerade am Aufblühen war. Pyritz war ein friedlicher Ort, still und harmonisch. Es passierte nicht viel, aber das bisschen reichte vollkommen aus. Die Synagoge war in ein moderneres Gebäude gezogen, eine Bibliothek hatte eröffnet, es gab nun eine Gebetsgruppe, und die Bevölkerung würde weiter wachsen, sofern nicht alle wegzogen, und Max konnte der sein, der blieb.
Aber es war der Anfang...
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